Geschichten:Elmenbarths Lehre - Die Schülerin
St. Ancilla, Mitte Boron Travia 1037
Das schlichte graue Kleid und der Umhang alleine hätten das kleine braunhaarige Mädchen wohl nicht verraten, aber dass sie vor den Toren St. Ancillas stand und eine persönliche Nachricht für den Abt abzugeben trachtete, verriet schon recht eindeutig ihre Zugehörigkeit. Davon abgesehen trugen die beiden Soldatinnen, die sie begleitet hatten, die Farben Falkensteins.
So legte das Mädchen, das wohl noch kein Dutzend Sommer gesehen hatte in den Klostermauern selbstbewusst ein Amulett, dass sie zuvor verstohlen aus dem Stiefel gezogen hatte, um den Hals und musterte in einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung den Reichtum St. Ancillas. Sie hatte erst seit kurzen das Privileg, nicht die Hälfte des Tages über Essen nachzudenken, und diese Hälfte nutzte sie, um von ihrem Meister zu lernen.
Doch obwohl ihr Meister einen messerscharfen Verstand besaß und dazu vor allem zu seiner Zeit im Gefängnis viel gelesen hatte, obwohl seine kleine religiöse Gemeinschaft reiche Gönner hatte, er würde niemals Wissen und Macht so protzig zu Schau stellen. Er hatte ihr fast spöttisch vom örtlichen Abt und seinem Faible für Adel und Patriziat erzählt. "Wahre Größe erkennt man zwischen den Zeilen, ob gesagt oder geschrieben," waren des Meisters Worte, "jedoch niemals an Kleidung, Besitz oder Geldbeutel."
"Seine Hochwürden erwartet Euch, junge Dame.", wurden ihre Gedanken unterbrochen. Wie schön, dachte sie, dass ihres Meisters Name noch immer Tür und Tor öffnete. Sie folgte dem berobten um das Kloster herum in den Kräutergarten, wo sie den Abt erkannte. Natürlich hatte sie ihn noch nie gesehen, aber die Beschreibung ihres Lehrmeisters war gewohnt präzise gewesen. Artig wartete sie mit leicht gesenktem Kopf, während sie eher unbewusst mit ihrem riesig erscheinenden braunen Augen zum Abt aufschaute, das dieser sie ansprach.
"Mein Kind... Palinai richtig?", erschrocken stellte das Mädchen fest, dass auch der Abt sehr gut informiert war und nickte schüchtern, "Was kann ich für Dich tun?"
Mit einem tiefen Atemzug besann sich die Kleine auf ihre Aufgabe und verscheuchte das ängstliche Gossenmädchen, das der Abt so geschickt in ihr geweckt hatte, wieder in eine hintere Ecke ihres Selbsts, und ließ den Naseweis hervortreten, den ihr Lehrmeister so sehr schätzte und der nebenbei die meisten älteren Gelehrten verzauberte.
"Mein Meister schickt Euch beste Grüße. Er weiß, dass es Differenzen zwischen Euch und ihm gab und gibt, die er bedauert," bei diesen Worten senkte sie mit einem traurigen Blick den Kopf, "aber er hofft, dass ihr ihm erlaubt, weiter an dem Mysterium um die Bruchstücke des Korgonder Reliefs teilzuhaben. Seine persönliche Anwesenheit ist schwierig zu bewerkstelligen, weshalb er mich als seine Augen und Ohren schickt. Er möchte betonen, dass er nicht die Absicht hat, durch mich in das Geschehen aktiv einzugreifen. Ihr selbst wisst, dass er ein Anhänger der Theorie ist, das nach genügender initialer Anleitung der Schüler nur ohne Eingriff des Lehrenden zu ausreichender Selbsterkenntnis gelangen kann, " sie hob mahnend den Zeigefinger, wie es ihr Meister ans solchen Stellen auch immer tat, "wie man es am Beispiel des Barons von Ochs hervorragend sehen kann."
Stolz über ihren auswendig gelernten Vortrag schaute sie den Abt kecker an, als es sich gehörte. Und diese Ungehörigkeit merkte sie erst als sie wenig später erschrocken den Blick vor seinen funkelnden Augen wieder senkte. Manchmal vergaß, sie wie modern ihr Meister den Dialog mit seinen Schülern führte.
"Du willst also an dem Treffen teilnehmen? Wie soll ich die Anwesenheit einer Schülerin bei so einer wichtigen Diskussion erklären?", der Abt schüttelte den Kopf.
Noch einmal setzte die Kleine ihre großen Augen ein, "Mein Meister, sagte, wenn ihr es mir nicht ermöglicht, an den Beratungen teilzunehmen, dann würde er selbst kommen, und dann würde er auch mitdiskutieren. Ich selbst dagegen werde still wie ein Mäuschen sein und nur Euch hier in privatissimo einen einzigen Rat meines Meisters übermitteln, ein Zitat des gelehrten Junkers Karal von Scheitberg aus dem Jahr 817 BF: ´Eine ewige Erfahrung lehrt, dass jeder, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt.´"