Geschichten:Der Seneschall lässt bitten

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Erst hatte er es nicht kommen sehen. Dann überkam ihn eine vage Ahnung, welche er allerdings nicht hatte wahrhaben wollen. Doch nun musste er sich eingestehen, dass der Wind sich gedreht hatte. Langsam, aber beständig hatte er die Richtung geändert und blies ihm nun ins Gesicht. Erst kaum spürbar als eine sanfte Brise, nun als frischer Sommerwind. Und es stand nicht zu erwarten, dass dieser in näherer Zukunft erneut die Richtung änderte oder gar abflaute. Ganz im Gegenteil. Man konnte sich dem Wind entgegenstellen und riskieren, von ihm früher oder später davongeweht zu werden oder aber die eigene Position wechseln und ihn so zu seinem Verbündeten machen.
Zordan von Rabicum konnte ein beinahe klägliches Seufzen nicht verhindern. Die Markgrafschaft, Adel wie Volk gleichermaßen, hatten sich verändert; waren auf dem Weg, zu einer Provinz, fast schon zu einer Einheit zusammenzuwachsen. Nicht zuletzt nach dem jüngsten, gemeinsam errungenen großen Sieg am Darpat. Eine neue Zeit dämmerte herauf. Der Seneschall hatte für derlei Dinge äußerst feine Sinne und seine Zuträger bestätigten ihm seine Wahrnehmung. Der Baron zu Bergthann konnte sich ein kurzes Schmunzeln nicht verkneifen. Wer hätte dies noch vor wenigen Götterläufen ernsthaft zu prophezeien gewagt? Zu tief schienen die Gräben zwischen den drei großen Volksgruppen und Regionen.
Eine neue Zeit... Zordan ging diese Metapher nicht aus dem Kopf, während er in seinen Gedanken verhangen aus dem Fenster starrte, unter dem ein Hilfsgärtner gerade Unkraut aus einem Beet entfernte. Neue Zeiten verlangten oftmals aber auch nach neuen Gesichtern, einem Wechsel. Er hatte das leise Murren, die verstohlenen Blicke in seine Richtung und viele andere kleine Zeichen sehr wohl registriert und wusste, dass so manche Fraktion und Familie nur darauf wartete, ihm beim ersten Zeichen von Schwäche an die Kehle gehen zu können. Der Rabicumer verstand sie sehr gut; er selbst hatte mehr als einmal ebenso gehandelt und täte es bei Bedarf jederzeit wieder. Aber noch genoss er das Vertrauen des Markgrafen, noch saß er zu fest im Sattel als dass die 'Jungspunde' offen gegen ihn vorgehen würden. Zeit, dem Wolfsrudel mal wieder zu demonstrieren, wer hier der Leitwolf ist und dass dieser noch nicht bereit war, abzutreten - oder allenfalls zu seinen eigenen Bedingungen, sprich, mit einer starken Nachfolgerin aus seinem Wurf! Aber das Junge - das einzige, das das Zeug dazu hatte, ihm nachzufolgen - brauchte noch ein paar Jahre, um zu wachsen - und diese würde er ihr geben, so ihn die Zwölfe ließen.
Diese neue Zeit - da war es wieder, dieses Wort - verlangte jedoch nicht nur nach neuen Namen und Gesichtern, sondern auch nach Symbolen. Symbole, die diesen Wandel und die neue Einheit zum Ausdruck bringen konnten. Symbole, mit denen sich der Zackenländer ebenso identifizieren konnte wie der Nebachote. Falls solche Zeichen gerade nicht zur Hand waren, dann musste man sie sich eben selbst schaffen, ergänzte der Seneschall im Geiste mit einem xeledonischen Lächeln. Und wenn man es geschickt anstellte - und er war sehr geschickt darin - dann konnte man auch die eine oder andere Gruppierung, die sich heute um die Brotkrumen und morgen um das Erbe des Barons balgte, gegeneinander ausspielen und so schwächen; sehr zum Vorteil seiner eigenen Familie. Außerdem würde die Diskussion um diese und etwaige andere aufkommende Symbole zumindest eine Weile von ihm selbst ablenken und dem Baron etwas mehr von der dringend benötigten Zeit verschaffen.
Die letzten Wochen war Zordan dahingehend sehr aktiv gewesen und hatte einen Plan ersonnen, mit dem diese Ziele mittels einiger unwissender Verbündeter erreicht werden konnten. Nun war es an der Zeit, ihn umzusetzen.

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"Weißt Du, was der Alte von uns will?", raunte Welferich von Rabicum, der momentan auf Besuch in seiner perricumer Heimat weilte, seinem Onkel Rukus zu, während sie in der Reichsstadt dem Amtszimmer ihres Familienoberhaupts, Zordan, entgegenstrebten, wohin dieser sie bestellt hatte.

"Keine Ahnung. Aber hast Du wirklich erwartet, dass er uns das einfach so in einer kurzen Nachricht mitteilt? Ach ja, Du solltest den Alten zumindest im Palast nicht 'den Alten' nennen, das mag er nämlich gar nicht und kann dann auch sehr unleidlich werden. Ich übrigens auch."

"Oh, so eine durch Mark und Bein gehende Drohung? Jetzt habe ich aber fürchterliche Angst."

"Solltest Du aber besser haben."

"Dazu bedarf es schon einiges mehr, werter Onkel."

"Pah, Du begreifst es einfach nicht. Bald wird sich hier einiges ändern."

Auf ein kurzes Klopfen hin wurden sie von Zordan hineingebeten und angewiesen, sich zu setzen. Fragend schauten sich erst Onkel und Neffe und dann beide den Seneschall an. Der deutete ihre Blicke richtig und eröffnete direkt das Gespräch.
"Da unser aller Zeit knapp bemessen sein dürfte, spare ich mir die üblichen Höflichkeitsfloskeln und Fragen nach eurem Befinden. Stattdessen komme ich direkt zum Punkt. Vorweg: Sagt euch die Standarte des Caralus etwas?"
Die erneuten fragenden Blicke seiner Verwandten waren Zordan Antwort genug.
Mit einem Augenrollen und säuerlicher Miene fuhr er fort: "Sancta Simplicitas! Aber gut, hier die Kurzfassung: Caralus der Löwe ist ein Heiliger der Rondrakirche und focht in der Schlacht am Darpatbogen auf Seiten der Bosparaner; zumindest das solltet ihr noch wissen. Wenig später wurde er zu Bosparan Wächter des gefangenen Kashgar. Verschiedene Legenden berichten von einer Standarte, die er seinen Truppen in dem Gefecht vorantragen ließ und die den ersten bosparanischen Präfekten später auch als Zeichen ihrer Herrschaft hier in Perricum diente. Mittels diverser Quellen habe ich nun herausfinden können, wo sich die Standarte ungefähr befinden soll. Ich denke, ich muss nicht extra betonen, was für eine enorme Bedeutung es für das Land und seine Bevölkerung hätte, tauchte dieses Feldzeichen eines großen Helden und Heiligen wieder auf – gerade jetzt, wo der Markgraf unsere Truppen ins umfehdete Garetien zu führen gedenkt, was ihr selbstverständlich für euch behalten werdet.
Und der Ruhm, der die Entdecker dieses Artefaktes erwartet, wird ebenfalls kein geringer sein. Es versteht sich, denke ich, von selbst, dass dieser unserer Familie zufallen und so unsere Position am Hofe und im Lande weiter festigen soll. Daher betraue ich euch Zwei mit der Suche. Du, Rukus, bist der Erste Ritter hier am Hofe und Du, Welferich, Baron zu Wickrath. Es ist nun an euch, zu zeigen, dass ihr diese Positionen zu recht bekleidet und irgendwann vielleicht noch höhere." Die letzte Bemerkung verfehlte bei den beiden vor ihm sitzenden Männern ihre Wirkung offenkundig nicht, wie Zordan zufrieden feststellte, während er eine Mappe mit verschiedenen Zeichnungen und Texten vor sich auf den Tisch legte.
"In dieser Mappe findet ihr alle mir bekannten Informationen zu dem Artefakt. Alles deutet daraufhin, dass die Standarte irgendwo in der Baronie Gluckenhang zu finden ist. Am besten brecht ihr gleich morgen auf, bevor noch Andere Wind davon bekommen."
Gleichzeitig griffen die beiden Besucher nach den Dokumenten und für einen Moment schien es so, als würden Onkel und Neffe deswegen einen Streit vom Zaune brechen. Doch soweit ließ es der Patriarch der Familie nicht kommen. Ein kräftiger Fausthieb auf den Tisch ließ die Streithähne erschrocken zusammenzucken und die Mappe fallenlassen.
"Es reicht!", fuhr der Seneschall die beiden an. "Man könnte meinen, ihr wärt kleine Kinder aus der Gosse und keine angesehenen Mitglieder meiner, unserer Familie! Ich weiß, dass ihr euch gelinde gesagt nicht grün seid, doch ist mir dies einerlei. Hier geht es nicht um eure kleinlichen Streitereien und Eifersüchteleien, sondern um eine Angelegenheit, die sowohl für unser Haus als auch die Markgrafschaft - und damit letztlich auch für euch - von einiger Bedeutung ist. Also reißt euch gefälligst zusammen! Rukus, Welferich: Ihr verfügt beide über exzellente Fähigkeiten, die sich für diesen Auftrag perfekt ergänzen. Und das ist der Grund, warum ihr beide, gleichberechtigt, losziehen und zumindest für eine kleine Weile euren Zwist vergessen werdet. Ist das soweit verstanden?", entschlossen blickte der Baron seinen Verwandten nacheinander tief in die Augen. Onkel und Neffe schauten Zordan leicht betreten an und antworteten mit einem Nicken.
"Gut. Ach, bei Bedarf kannst Du gerne noch einige vertrauenswürdige Angehörige Deiner 'Raulschen Liga' als Unterstützung hinzuziehen, Welferich.", ergänzte der Baron scheinbar beiläufig, wohlwissend - und darauf bauend - dass sein Enkel sich dies nicht zweimal sagen ließe.

Nur ein kurzes Zucken um den rechten Mundwinkel verriet, was der Erste Hausritter davon hielt, doch verzichtete er klugerweise auf einen Kommentar. Er wusste schon, wie er darauf zu reagieren hatte.

"So, jetzt raus mit euch und Praios befohlen!", polterte der Seneschall.

Der Hilfsgärtner war zufrieden mit dem Gehörten. Zwar hatte er nicht alles verstanden, doch genug, um dafür bei seinem Auftraggeber einen guten Preis herausschlagen zu können.

Als Zordan erneut ans Fenster trat und einen Blick auf den prächtigen Garten warf, war der Gehilfe des Gärtners verschwunden. Der Rabicumer lächelte. Hoffentlich hatte der Mann unter dem offenen Fenster auch genug mitbekommen, was er seinen eigentlichen Herren weitererzählen und diese dadurch zum Handeln veranlassen konnte.