Geschichten:Streben nach Höherem - Der Feind im Inneren

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Praiosburg, 5. NL 1029 BF


Es war kühl geworden. Die namenlosen Tage waren für die Bürger Bärenaus wie fast überall woanders auch eine Zeit der Ruhe, der Einkehr und des Gebets, und keinesfalls eine Zeit zu reisen oder gar für Vergügungen irgendwelcher Art. Auch hier auf der Praiosburg verbrachte man die Zeit mit Beten und stummem Hoffen, dass der 1. Praios des neuen Jahres bald anbrechen möge.

Cordovan von und zu Praiosburg, der strenge Landedle und Herr der Burg im Westteil der Baronie Bärenau, hatte auch heute befohlen, den Tag in Stille und Demut, vor allem aber im Gebet zum Herrn Praios zu verbringen. Doch der Herr war fern in diesen Tagen. Tagsüber war die Sonne kaum durch die dichte Wolckendecke und durch die bisweilen aufkommenden Nebelschleier durchgekommen. Jetzt war es Abend und mit bangem Hoffen begab man sich zu Bett. Plötzlich erklang die Alarmglocke.

Ein Diener betrat die Schlafkammer des Herrn Cordovan, der gerade dabei war, sich mit dem Abendrock anzukleiden. „Um Vergebung Herr, es wurden Reiter vor den Burgtoren gesichtet! Sie reiten geradewegs auf das Haupttor zu.“

„Was? Wer wagt es ...“, schrie Cordovan erzürnt auf, und mahnte sich in Gedanken im selben Moment noch zur Mäßigung – wusste er doch wozu Unbeherrschtheit gerade in diesen Stunden führen konnte. „Zeige er mir die Reiter! Rasch!“ Schnellen Schrittes verließen sie das Burgpalas und begaben sich zu den Wachen auf der Burgmauer.

Als Cordovan die Mauern erreichte und einen ersten Blick nach draussen warf erkannte er an die 20 Reiter, allesamt in dunklen Farben gekleidet. Sie trugen ein Banner bei sich, welches er im dunkeln kaum erkennen konnte. Es schien eine Art gelügelte Schlange darzustellen. Der Burgherr schnürte seinen Rock enger und trat vor. In diesem Moment ritten drei der Reiter – anscheinend eine Frau flankiert von zwei Waffenknechten – bis auf Rufweite heran.

„Wer wagt es, in diesen finsteren Tagen zu reisen? Erklärt Euch, Fremde!“

Die Frau auf der weißen Stute zog sich langsam ihre Kapuze herunter und enthüllte ihr blondgelocktes Haupt. Mit eiskaltem Lächeln blickte sie den Ex-Sonnenlegionär an. Ihre Stimme erklang laut und klar als sie sprach: „Isch bin Simiona di Silastide-Marvinko, die 'errin dieser Lande! Isch fordere Euren Tribut und Einlass in Eure Burg!“

Cordovan gelang es nur mit Mühe seinen Zorn zu unterdrücken. „Ihr seid eine schändliche Lügnerin oder gar eine götterlästerliche Ursupatorin! Niemals seid Ihr die rechtmäßige Herrin dieser Burg, denn diese würde – so es eine gäbe – in Praios Angesichte vortreten, und Beweise für ihre hochtrabenden Worte vorlegen. Da Ihr, Weib, aber im Finsteren und auch noch in diesen dunklen Zeiten anreist, kann euer Ansinnen nur aus Tücke und List geboren sein. Vielleicht dient ihr gar den Mächten, die die Rechtschaffen verderben wollen. Hinfort mit Euch und euren Schergen. Der Einlass ist euch verwehrt! „

Doch anstatt den Rückzug anzutreten hob Simiona die Arme und schloss dann die Augen. Dann flüsterte sie Worte in einer uralten Sprache, die die Menschen längst vergessen haben sollten. Dies waren die Tage des Namenlosen und ihr dunkler Gott war stark! Sie spürte, wie die Kräfte in ihr erstarkten. Die Zeit war gekommen, ihrem Herrn erneut ein Opfer darzubringen.

Kälte stieg an den Burgmauern empor. Die Wachen, die keine Handschuhe trugen, spürten bald wie ihre Finger an den Waffen festfroren.

„Zu den Waffen! Na los! Regt euch!“, herrschte Cordovan seine Wachen an, doch nichts geschah. Mit Entsetzen begriff Cordovan von und zu Praiosburg welch unfassbarer Frevel im Begriff war hier stattzufinden. Ein Blick zur Seite genügte um zu erkennen, dass jede seiner Wachen das Geschehen wie im Trance miterlebete. Selbst als er den Weibel Ludger packte und schüttelte, schien dieser nur apathisch vor sich hinzustarren und nicht in der Lage zu sein zu handeln.

„Cordovan, öffne die Tore!“ die Worte erklangen in seinem Schädel. Er schloss die Augen und schlug sich die Fäuste an die Schläfen. Doch es war zwecklos, er konnte die unheilige Stimme nicht unterdrücken, die sich nun langsam in einen betörenden Singsang steigerte. „Cordovan, du weißt welscher Tag heute ist!“

„Neiiin!“, rief er und sank auf die Knie!“

„Es ist dein Tsatag, Cordovan! ... JA, erkenne die Wa'r'eit ... Die einzige Wa'r'eit! Du bist einer von uns! ... Es ist dein Schicksal mir zu dienen!“

Cordovan wußte, dass der Tag gekommen war, den er stets gefürchtet hatte. Mit bebender Stimme sang er den Choral „Praios meine Zuversicht“, doch seine Stimme verebbte nach und nach, während die Stime in seinem Kopf begleitet von bezaubernden Sphärenklängen nach und nach die Oberhand gewann. Tränen liefen aus seinen Augenwinkeln – und erstarrten zu kleinen Eiskristallen. Schließlich erhob er sich, wandte sich von der Mauer ab und stieg die Treppen hinab in den Burghof.

Zwei Diener kamen herbeigelaufen. „Herr, bei den Göttern, was ist geschehen?“

„Nichts!“ erwiderte Cordovan tonlos. „Öffnet die Tore! Die armen Menschen da draußen sollen sich bei der Kälte doch nicht den Tod holen.“

Als Simiona mit ihrer Eskorte in die Burg einritt wusste sie, dass sie ihrem Herrn noch in dieser Nacht ein großes Opfer bringen würde.