Geschichten:Drei Krähen und ein Räblein – Weder Wolf, noch Fuchs, noch Luchs

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Ritterherrschaft Praiosborn, Ruine Praiosborn, 14. Boron 1042

„Das war kein Wolf!“, erklärte Nurinai ihren Schwestern am Morgen, als sie endlich Zeit fand, das verwundete Streitross ihrer Schwester zu versorgen.

„Woher weißt Du das?“, wollte Ailsa wissen, die am Kopf ihres Streitrosses stand und den ein wenig bedröppelten Beithir mit Streicheleinheiten beruhigte. Nurinai hatte ihm etwas zur Beruhigung gegeben, nicht etwa, weil es das Tier kümmerte, wenn man seine Wunden nähen musste - da er sich nicht sonderlich gut mit anderen Pferden vertrug und es so auch schon mal zu kleinen Reibereien unter den Tieren kam, was meist mit der ein oder anderen Verletzung einherging, kannte er das und zuckte dabei nicht ein einziges mal - sondern damit er die Geweihte in seiner Gegenwart duldete. „Ich habe ein großes, graues Tier gesehen und Nella auch.“

„Ich kann nicht nur sagen, dass es kein Wolf war, sondern auch dass es kein Fuchs war und auch kein Luchs. Was auch immer das große Tier war, dass Du gesehen hast, es war nichts von den Dreien.“

„Und das weißt Du woher genau?“

„Es war kein Fuchs, denn der hat ein kleines Gebiss und tötet seine Beute mit vielen kleinen Bissen. Doch viele kleine Bisse haben wir nicht gesehen, folglich war es kein Fuchs“, führte sie weiter aus und begann die klaffende Wunde an der Hinterhand zu nähen. Die restlichen hatte sie bereits versorgt. Es war nicht so schlimm, auch wenn es danach aussah. Nurinai hatte schon weitaus Übleres gesehen. „Es war auch kein Wolf, denn der tötet mit einem Biss in die Kehle. Doch einen gezielten Biss in die Kehle haben wir nicht gesehen, folglich war es kein Wolf. Und es war auch kein Luchs, denn der tötet zwar auch mit einem gezielten Biss in die Kehle, tut dies aber noch viel präziser als der Wolf und da der Luchs zu den Katzen gehört, hätten wir die Spuren seiner spitzen Krallen sehen müssen. Doch wir haben weder einen gezielten Biss in die Kehle gesehen noch Krallenspuren, folglich war es auch kein Luchs.“

„Aber... aber wenn es kein Fuchs war, kein Wolf und auch kein Luchs, was war es denn dann?“, kam die Skaldin mal wieder auf den springenden Punkt, während sie Nurinai eine ihrer Tinkturen anreichte, „Wenn Ailsa doch etwas großes Graues gesehen hat?“

„Aus der Ferne. Noch dazu bei Dämmerung. Noch dazu hast Du nur einen flüchtigen Blick auf das flüchtende Wesen erhascht. Unter solchen Umständen sieht Vieles groß und grau aus, vermutlich sogar das Meiste.“

„Und was war es dann?“, wollte Ailsa erneut wissen.

„Wenn Du mich fragst und das tust Du: Was immer auch die Schafe und den Hund gerissen hat, es kam aus der Brache.“

Einen Moment war es still. Totenstill.

„Aber... aber... warum erzählt Nella dann, dass es ein Wolf gewesen sei?“, regte sich Widerstand in der Ritterin.

„Hast Du in ihr Gesicht gesehen, als sie das gesagt hat?“, fragte Nurinai.

„Die hat mich überhaupt nicht angesehen, sondern nur Alrik, außerdem war es plötzlich stockfinster.“

„Glaubst Du sie hätte Dich angesehen, wenn es nicht stockfinster gewesen wäre?“

„Hm, ich glaube nicht.“

„So. Und was glaubst Du, warum hat sie Dich nicht angesehen?“

„Weil sie Dir nicht ins Gesicht lügen konnte“, stellte Scanlail fest, „Das Mädchen hat an uns nämlich einen Narren gefressen...“

„Und ihr an dem Mädchen“, mischte sich Lonán ein, der gerade dabei war das Frühmahl vorzubereiten, auch wenn niemand so recht Hunger hatte. Ihnen allen klebte dieser widerwärtige metallische Geruch am Gaumen.

„... und wir an dem Mädchen“, stimmte die Skaldin zu.

„Aber wenn sie an uns einen Narren gefressen hat, warum sollte sie dann lügen?“

„Weil sie da drinn hängt!“, schloss Scanlail, „Sie und alle anderen hier auch, oder warum glaubst Du redet keiner von denen? Nicht einmal Nurinai vertrauen sie sich an, nicht einmal einer Geweihten! Stattdessen schweigen sie oder sie lügen. Und das hat nur einen einzigen Grund: Hier läuft irgendetwas. Irgendetwas verdammt Schmutziges. Irgendetwas verdammt Verbotenes. Irgendetwas, dass einen Praioten vermutlich dazu veranlassen würde einen großen Scheiterhaufen zu machen und alle Deine Untertanen darauf zu verbrennen.“

Einen Moment schwiegen sie alle.

„Hat Dein Finger wieder geschmerzt?“, wollte die Geweihte wissen.

„Welcher?“

„Na, welchen wird unsere Stimme der Vernunft wohl meinen?“, mischte sich nun die Skaldin wieder ein, „Natürlich den, den Du dir abgehackt hast!“

„Ich habe ihn mir nicht abgehackt, ich habe...“, protestierte die Ritterin, wurde aber sogleich von der Geweihten unterbrochen: „Nur damit das klar ist, das nächste Mal, wenn Du Dir irgendeine Deiner Gliedmaßen abhackst, ganz gleich welche, werde ich Dir nicht mehr helfen!“

„Ach, hör auf Dinge zu versprechen, die Du nicht halten kannst”, wiegelte die Skaldin ab und erntete von Nurinai einen bösen Blick, „Was? Wenn's doch wahr ist!“

„Ich habe ihn mir nicht abgehackt!”, beharrte unterdessen Ailsa, „Außerdem fehlt mir nur das letzte Fingerglied!“

„Ja, ja, meinetwegen. Also hat er wieder geschmerzt?“

Die Ritterin nickte.

„Und da zweifelst Du noch daran, dass es etwas Niederhöllisches war?“