Geschichten:Unergründliche Tiefe – Jurgald von Jeskenau

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Dorf Alka, Sommersonnenwende, 1. Praios 1047 BF:

Erhaben und mit heiligen Chorälen auf den Lippen, zog die Prozession von der Alkenburg zur Dorfmitte, wo bereits die Grundmauern des neuen Praios-Tempels in den sommerlichen Himmel ragten. Die Sommersonnenwende markierte den höchsten Feiertag der Praios-Kirche und den Beginn eines neuen Jahres. Die Menschen hatten die Düsternis der Namenlosen Tage hinter sich gelassen und blickten nun voller demütiger Hoffnung auf das neue Jahr.


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Angeführt wurde die Prozession von Hofkaplan Boromäus Holmer, der ein goldenes Turibulum mit praiosgefälligen Motiven vor sich herschwenkte. Gleich hinter dem Geistlichen schritten die beiden Novizen Arved und Celissa. Als Besonderheit war auf der oberen Klappe des Weihrauchfässchens eine Riesenträne – eine türkisfarbene Variante des Bernsteins aus dem Golf von Perricum – eingelassen. Das Turibulum war ein Geschenk der Perricumer Familie Zackenberg gewesen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf die alternden Gesichtszüge des Geweihten, denn sein Lebenswerk nahm Gestalt an. Sein Aufruf an alle Praiosgläubigen in Waldstein und Großgaretien war ein voller Erfolg gewesen. Nicht nur die Familie Zackenberg sollte sich großzügig für den neuen Tempelbau einsetzen. Auch andere Praios fromme Familien folgten dem Beispiel und spendeten bare Münzen, Material oder Arbeitskraft in Form von Leibeigenen. Auch der Weißensteiner Muttertempel der Waldsteiner Praioskirche zeigte sich großzügig und spendete eine vergoldete Greifenstatue. Doch ohne die Großspende der Garether Stadtritterfamilie Sankt Parinor wäre der Tempelbau so nicht möglich gewesen. Boromäus hatte fast der Schlag getroffen, als er von der Summe erfuhr, die die Familie bereit war zu spenden. Auch eine Novizin hatte die Familie nach Alka geschickt, sowie einen Ritter auf deren Kosten als Schwertarm. Dank der Familie Sankt Parinor würde die „Sharban von Sankt Parinor-Sakrale“ – wie Boromäus den Tempelbau auf Wunsch der Spenderfamilie hochtrabend nannte – eines der prächtigsten Tempel in ganz Waldstein werden.


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Andächtig und in tiefer Demut folgte Landritter Brinwulf von Alka der Prozession. An seiner Seite seine Frau Praiosmin, seine Tochter Trestena und sein Knappe Wulfger. Askja, die Schwester des Landritters, folgte mit ihrem Gemahl Helmbrecht und ihren gemeinsamen Kindern Phexiane, Marnion und Ulmine.

Den Abschluss der beiden ersten Stände bildete Sibelian von Sankt Parinor, der von seiner Familie als Hausritter nach Alka geschickt wurde. Hinter ihm folgten die Freien und Leibeigenen der Prozession. Für Sibelian war es schwer, sich an das Leben in der Waldsteiner Einöde zu gewöhnen. Die Menschen hier waren ein eigenartiger Menschenschlag, den Freuden des Lebens ganz und gar abgeneigt, buckelnd vor ihren weltlichen und geistlichen Herren. Eigentlich war er hier, um Abenteuer und Heldentaten zu erleben. Doch, hier wartete nichts dergleichen auf ihn. Er würde sich hier zu Tode langweilen.


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Vor dem Rohbau des Praiostempels machte die Prozession Halt. Hofkaplan Boromäus Holmer sprach ein Gebet zu Ehren des Götterfürsten, dann führte der die Gläubigen ins Innere des Baus. Doch der Anblick, der sich ihnen offenbarte, ließ alle erschaudern.

Auf dem Boden, dort wo einmal der Altar des Götterfürsten stehen sollte, lag eine leblose Gestalt, Arme und Beine vom Körper bestreckt. Die Haut wurde größtenteils vom nackten Körper entfernt und gab das rohe Fleisch, Sehnen und Knochen der armen Seele preis. Die Menschen schrien, liefen voller Panik zurück in ihre Häuser. Landritter Brinwulf viel erschüttert und wehklagend auf die Knie. Hofkaplan Boromäus blieb erst wie erstarrt stehen, dann stimmte er einen Praios gefälligen Choral an.

Landritter Brinwulf wusste, wer dort lag, weshalb sein Schmerz umso größer war. Es war sein treuer Kastellan Jurgald von Jeskenau.


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Sibelian konnte seine Augen kaum trauen. Was war hier passiert? Ein grausamer Mord, in einem im Bau befindlichen Praiostempel? Mutmaßlich während der Namenlosen Tage verübt. Bei all dem Schrecken, den der junge Ritter verspürte, kam ihm die Erkenntnis: Er musste nicht mehr auf ein Abenteuer warten, sondern es hatte soeben begonnen. Er würde der Sache auf den Grund gehen, das schwor er sich, bei den Göttern.