Geschichten:Sternguckerin – Tempeltreu
Stadt Schwarztannen, im Hesinde 1043 BF
Der Sterngucker hatte lange gedauert. Während ich an der Seite der Gebärenden ausgeharrt und sie nach besten Kräften unterstützt hatte, war meine Lehrmeisterin zu anderen Geburten gerufen worden. Sie war nur gegangen, weil ich bleiben konnte. Inzwischen, nach den vielen Götterläufen, die ich bereits bei ihr hatte lernen dürfen, vertraute sie mir auch schon mal allein ihre Frauen an, auch wenn sie es nicht gerne tat, was allerdings nicht an meinem Können lag, sondern einfach nur an dem Umstand, dass sie einfach gerne selbst bei ihren Frauen war. Zu Beginn hatte ich Hild oft begleitet, war fast permanent bei ihr gewesen und nur ganz selten im Tempel, doch inzwischen hatte sich das geändert. Inzwischen war ich wieder mehr im Tempel und nur noch gelegentlich bei ihr. Meist dann, wenn es zu viel zu tun gab und sie nicht überall gleichzeitig sein konnte oder aber, wenn die Geburt eine besondere war. Diese hier, die war eine. Es war ein Sterngucker.
Ich soll auch eine gewesen sein. Eine Sternguckerin. Dabei schaut das Kind die Mutter bei der Geburt an. Oft kam das nicht vor. Die Geburten waren schwerer und dauerten länger. Bei meiner Mutter soll das auch so gewesen sein. Kurz nach meiner Geburt starb sie und die alte Hebamme Hild, die damals bei meiner Geburt dabei gewesen war, hatte mich in den Tempel der Peraine gebracht. Ich sei klein gewesen, ein winziges Kind, hatte Hild mir erzählt. Keiner habe damals gewusst, ob ich nicht meiner Mutter nachfolge. Man gab mir den Namen Lindegard, weil ich irgendwie wie eine Lindegard aussah. Damals war die Heilige Lindegard, die zur Zeit der Magierkriege gelebt hatte, noch gar keine Heilige. Und weil meine Mutter ihren Namen nie genannt hatte, wobei niemand mit Sicherheit hatte sagen können, ob sie es nicht hatte wollen oder nicht hatte können, wurde ich eine Tempeltreu. Die Familie Tempeltreu war die Familie der Findelkinder und irgendwie war ich ja eines, ein Findelkind. Seit dem lebte ich im Tempel. Meine Familie waren die Bewohner des Peraine-Tempels. Die Geweihten waren meine Mütter und Väter und die Novizen meine Geschwister. Ich vermisste nie etwas. Der Tempel war mein Heim. Und wenn ich mich nach meiner Mutter sehnte, jener Frau, die mich geboren hatte, ging ich zum Boronanger draußen vor der Stadt. Da lag sie. Seltsam war es schon, ich hatte so gar keine Beziehung zu ihr. Sie war eine Fremde für mich, eine – und dafür schämte ich mich sogar ein wenig – die mich nicht wirklich interessierte.
Als das Kind das Licht Deres erblickte, war Hild gerade wiedergekommen. Später, auf dem Weg zum Tempel, lobte sie mich: „Du hast wirklich schon viel gelernt. Bald brauchst du mich nicht mehr.“ Einen Moment schwieg sie. „Damals, bei meiner ersten Geburt, bei der ich alleine war, habe ich dem Kind den Arm gebrochen. Es musste plötzlich schnell gehen und ich war nicht zimperlich... Das ärgert mich zwar noch heute, allerdings ist der Bruch gut verheilt und Mutter und Kind waren wohl auf.“
Ich nickte erschöpft. Die letzten beiden Nächte hatte ich nicht geschlafen und so sehnte ich mich nach meinem Bett, auch wenn die Praiosscheibe hoch am Himmel stand. Meine Gedanken wurden zunehmend fahriger und dann, dann kam mir plötzlich diese Fehde in den Sinne: „Was glaubst du, bedeutet die Fehde für uns?“
„Für uns Hebammen oder für euch Geweihte?“, hakte sie nach. Auch sie hatte nicht geschlafen, aber sie wirkte hellwach.
„Für beide“, erwiderte ich nickend.
„Viel Arbeit“, sie nickte ernst, „Sehr viel.“
„Dann glaubst du, es werden mehr Kinder geboren?“, wollte ich verunsichert wissen, weil ich mir das kaum vorstellen konnte.
„Habe ich das etwa gesagt?“
„Ähm“, begann ich zu stammeln, „Hast du... hast du denn nicht?“
„Du wirst viel Elend sehen, Lindegard“, sie legte sanft ihre Hand auf meine Schulter, „Elend, das nicht hätte sein müssen. Elend, das...“ Abrupt verstummte sie. Wir waren inzwischen beim Tempel angekommen. Vorne vor dem Tempel wartete Baldur von Immenhort, der Prätor des Tempels bereits. Verunsichert blickte ich ihn an.