Geschichten:Verräter und Getreue - Flucht im Dunkel

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Burg Ebenhain, 30. Phex 1033 BF

Ein leises Klopfen gegen den Fensterladen war alles, was Haldora brauchte um sofort munter zu werden. Es war so weit! Im Dunkel stand sie auf und tastete sie nach dem schon bereit gelegten dunklen Mantel. Um ihn zu wecken, stieß sie dann sacht ihren Gemahl an, der noch leise vor sich hin schnarchte. Ohne ein Wort zu sagen erhob er sich. Die Zeit des müßigen Ausharrens war vorbei. Sie würden die ‚Gastfreundschaft‘ der Steinfelder nicht länger ertragen müssen. Doch zuerst galt es, Burg Ebenhain ungesehen zu verlassen. Vorsichtig auf Strümpfen gehend und die Schuhe in der Hand ging Haldora zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Ein Kienspan am anderen Ende des Flurs glomm in der Finsternis. Sie wusste, dass dort eine Wache saß, aber weder Bewegung noch Geräusch waren zu vernehmen. Sie griff Oderik bei der Hand und gemeinsam schlichen sie vorsichtig den Flur entlang und eine Treppe hinunter. Das Dunkel machte Haldora nichts aus. Sie kannte die Gänge, Flure und Treppen Ebenhains seit ihrer Kindheit und hätte den richtigen Weg auch blind ohne anzustoßen genommen. Durch ein Fenster sah sie eine Wächterin, die sich an einem Kohlenbecken wärmte; die Nächte waren immer noch empfindlich kühl. Als die Türmerin sich umdrehte, überquerten Haldora und Oderik von Schatten zu Schatten huschend den Burghof und gelangten schließlich zur Kapelle, deren Tür einen Spalt breit offenstand. Schnell schlüpften sie hinein. Drinnen war es stockduster, doch sie waren nicht allein.

„Psst. Frau Haldora, Herr Oderik. Folgt mir, so leise Ihr könnt.“ Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten des Altars. Es war der Bucklige. Zielstrebig ging er auf die Treppe zu, die von der Kapelle nach unten in die Gruft führte. Unweigerlich zögerte Haldora. Auf der Burg gab es Gerüchte. Unter dem Gesinde wurde behauptet, aus der Gruft würden seit dem Tod Frostelins sonderbare Geräusche hervor dringen und eine Dienstmagd hatte gemeint, dass sie Klagelaute gehört hätte. Eine andere hatte unter vorgehaltener Hand vermeldet, dass sie nächtens eine schauderhaft leuchtende Gestalt durch das Fenster der Kapelle gesehen hätte.

„Habt Ihr Angst vor den Toten?“ fragte der Bucklige, als er Haldoras zögern bemerkte.

„Nur vor denen, die wieder aufstehen“, gab Oderik an ihrer statt zur Antwort.

„Von der Sorte ist mir da unten noch keiner begegnet. Er führte sie die breite Treppe hinab in finstere Schwärze.

„Wir sind unten“, meinte ihr Führer schließlich. Das Geräusch von Stahl erklang, begleitet von einem Funken. Kurz darauf hatte der Bucklige eine Kerze entzündet. „Jetzt können wir ein wenig Licht machen.“ Fast wäre es Haldora lieber gewesen, wenn er das Licht wieder gelöscht hätte. Hier unten zwischen den Sarkophagen und Särgen, in denen ihre verstorbenen Vorfahren die Zeit überdauerten oder den Epitaphen und Gedenksteinen, die sich entlang der Wände aneinanderreihten, hatte sie sich noch nie wohlgefühlt. Vielleicht lag es an der abgestandenen dumpf-süßlichen Luft oder am Starren der in den Stein gehauenen Konterfeis. Langsam tasteten sie sich zwischen den Sarkophagen durch die verwinkelte Gruft.

„Hier ist es“, der Bucklige hielt an und blickte prüfend um sich. Der Gang war zu Ende und vor ihnen konnte sie einen weiteren Gedenkstein erkennen. Der flackernde Schatten ihres Führers verbarg die erste Hälfte des Steines, doch die zweite konnte sie erkennen: …WINDEGROTIUS und darunter ...NORAVLISIMPVIII. Das musste der älteste Teil der Gruft sein, ein Ort, den normalerweise niemand mehr aufsuchte. Nicht einmal Frostelin, der stets der Mutigste von Bodeberts und Halinas Kindern gewesen war, hatte sich beim heimlichen Versteckspiel hier unten so weit getraut. Sie bemerkte, dass sie Oderiks Hand so stark umklammert hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Irgendetwas hatte Silvan getan, denn plötzlich erklang ein Geräusch von scharrendem Stein und eine Öffnung tat sich vor ihnen auf, gerade so groß, dass sie auf allen Vieren hineinkriechen konnten.

„Jetzt wird es ein wenig eng, Herrin“, sagte der Bucklige, „Herr Oderik, seid so freundlich und drückt auf diesen Stein, wenn ihr im Gang seid.“ Dann bückte er sich und verschwand in dem Tunnel, gefolgt von den beiden Flüchtigen. Als Oderik der Aufforderung Silvans nachkam, ertönte wiederum das scharrende Geräusch und der Stein verschloss den Ausgang hinter ihnen.

Es folgte eine lange kraftzehrende Kriecherei. Der Boden war uneben und voller Geröll, Wände und Decke hartkantig und bald hatte Haldora sich wohl ein Dutzend Mal den Kopf angestoßen. Ihre Knie und Hände begannen zu schmerzen und dann auch zu bluten, als sie sich einen Fingernagel abbrach, aber sie biss die Zähne zusammen und kroch weiter, auch wenn ihr Rücken bald protestierte. Die Orientierung hatte sie aufgrund einiger Kurven und Knicke schnell verloren. Nur hatte sie das Gefühl, als führe sie der Gang immer weiter hinunter ins Innere der Erde und jedesmal, wenn sich Steinchen von der Decke lösten und ihr in den Nacken rieselte, kroch Panik in ihr nach oben. Mehrmals mussten sie Pausen einlegen, um Atem zu schöpfen und den ächzenden Gliedern etwas Ruhe zu gönnen. Als sie schon dachte, der Gang würde kein Ende nehmen, bemerkte sie einen frischen Luftzug. Keuchend vermeldete ihr Führer: „Bald haben wir’s geschafft.“

Und Haldora vernahm ein unbestimmtes Rauschen, das sich mit jeder Minute, die sie vorankrochen, deutlicher als das Plätschern und Gurgeln von Wasser erkennen ließ. Der Gang stieg dann ziemlich steil an und machte eine letzte scharfe Biegung. Dann raschelte es und Silvan vor ihr war zwischen dichtem Blattwerk eines immergrünen Buschs verschwunden. Sie waren draußen! Haldora bog die Zweige zur Seite und blickte sich keuchend um: Das erste Grau des neuen Tags dämmerte im Osten. Sie befanden sich direkt am Ufer der Aling, dem Ebenhainer Burgfelsen gegenüber. Dann erschrak sie: Sie waren umstellt! Die Gesichter der fünf oder sechs Personen konnte sie wegen deren tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen nicht erkennen, wohl aber vernahm sie das leise Klirren von Kettenringen, das Klappern von Blech und das entfernte Scharren von Hufen.

Eine von ihnen sprach den Buckligen an: „Gut gemacht Silvan. Hier, als Dank für deine Mühen.“ Ein klimpernder Beutel wechselte den Besitzer.

„Stets zu Diensten, Exzellenz.“

„Was...?“ Oderik, der als letzter aus dem Loch gekrochen kam, sah sich bestürzt um.

Silvan, du Verräter!“ zischte Haldora. Er hatte sie reingelegt.

„Ihr tut ihm Unrecht“, hielt ihr die erste Sprecherin entgegen. „Auf ihn fällt keine Schuld. Nur keine Aufregung. Es freut mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid. Die Pferde warten schon auf uns; schon heute Abend werdet ihr in Sicherheit sein.“

„Wer seid Ihr, und wohin bringt Ihr uns?“ fragte Oderik, der sich wieder gefasst hatte.

„Das hat bis später Zeit. Was den Ort anbetrifft, kann ich Euch sagen, unser vorläufiges Ziel ist weder Ebenhain noch Puleth. Und nun: zu Pferde!“ Die Bewaffneten nahmen Haldora und Oderik in ihre Mitte und bestiegen die weiter oben am Waldrand stehenden Rösser.

Keiner bemerkte den schnüffelnden Igel, der sich aus dem dichten Laub im Unterholz schob und ihnen lange nachblickte.