Geschichten:Ein neuer Gutsherr – Das Ziel
Gut Tannenquell, Gräflich Silz, 21. Praios 1046 BF:
Kopfschüttelnd trottete Odilbert von Esch weiter dem Lauf des Tannenbach entlang. Die Waldhuser, oder vielmehr die einzige Waldhuserin, die sich ihm gezeigt hatte, waren schon ein sonderbares Völkchen. Auch für Waldsteiner Verhältnisse empfand er die Bewohner als sehr seltsam. Und was faselte die etwas von einer weißen Wölfin? Obilbert verstand nicht, was das alles bedeuten sollte.
Eigentlich konnte es ja nur besser werden, dachte er sich, als er in der Ferne das Ziel seiner Reise ausmachte. Das gräfliche Gut war ein typischer Waldsteiner Dreiseitenhof - das zweistöckige Hauptgebäude war aus Stein, die beiden Anbauten aus Fachwerk errichtet. Das Dach war mit Schieferschindeln bedeckt. Während der Silzer Grafen wurde Tannenquell als Jagdgut genutzt, wie Olbert von dem kessen halbelfischen Händler aufschnappen konnte, mit dem er den Grafenpfad entlang gereist war.
„Na mein spitzohriger Freund hat mir wohl keinen Bären aufgebunden.“ Mit diesen Worten begutachtete er das halbverwitterte Wappen des Hauses Silz, welches oberhalb des Eingangs des Gutes prangerte. Mit aufgeplusterter Brust stand Odilbert vor dem Tor und klopfte.
Wenige Monde später:
Zufrieden saß Odilbert auf der Bettkante seiner kleinen Schlafkammer und blickte vor seinem geistigen Auge auf die vergangenen Monde zurück seit seiner Ankunft in Tannenquell. Die acht Bewohner des Gutes hatten ihn bemerkenswert freundlich empfangen – und somit den sonderbaren Bewohnern von Waldhus Lügen gestraft.
Der redselige Koch Brinwin zauberte aus der eher schlecht als recht gefüllten Vorratskammer und den Gaben des Waldes täglich ein vorzügliches Mahl. Seine Frau, die rundliche Ella, kümmerte sich aufopferungsvoll um die Tiere des Gutes. Besonders achtete sie auf die Schafe, deren Wolle dann von der alten Walderia an einem mit filigranen Schnitzereien versehenen Spinnrad gesponnen wurde. Doch konnte die gute Ella auch ausgesprochen gut mit Hammer und sonstigen Handwerksutensilien umgehen, so sie es, die versuchte dem schleichenden Verfall des Gutes mit ihrer schieren Tatkraft entgegenzutreten. Die beiden jugendlichen Schafhirten Firmir und Erlhold trieben die durchaus stattliche Schafherde von einem Weidegrund zum nächsten. Auch gegenüber zu gefräßigen Wölfen wussten sie sich zu wehren. Die Jünglinge wirkten auf Odilbert sehr vertraut miteinander. Ja, die erste, zart aufkeimende Liebe war wie eine liebliche Rose der Herrin Rahja. Odilbert fühlte sich an seine eigene Jugend erinnert – die zugegebenermaßen schon etliche Götterläufe her war. Die beiden Mägde Tsaburga und Arlgard hegten und pflegten die angebauten Feldfrüchte – nur den Kräutergarten überließen sie dem Koch Brinwin. Der jüngste Bewohner war der kleine Simion, der Sohn von Ella und Brinwin. Ein so aufgeweckter Junge, der vielleicht acht Winter zählte. Doch seine kindlichen Augen wirkten nicht wie eines Kindes, so empfand es Odilbert. Sie wirkten nicht unschuldig, sondern erfahren, so wie er es eigentlich von altersweisen Menschen kannte.
Als Odilbert einen Blick aus dem Fenster warf, beobachtete er, wie die Bewohner das Eichentor des Gutshofs durchschritten. Wissend kroch der alternde Mann zu Bett unter seine Decke. Jeden Sonnenauf- und Sonnenuntergang, pilgerten die Gutsbewohner zur Quelle des Tannenbachs – um dem Land für seinen Segen zu danken, wie sie zu sagen pflegten. Odilbert selbst blieb lieber zuhause, der Weg zur Quelle war recht beschwerlich. Sollten sie doch machen, es waren gute Menschen.
Seit ein paar Tagen war der kleine Simion ganz in Aufruhr. Ganz aufgeregt kam er angelaufen und erzählte, dass er die gute Herrin Feyala draußen im Wald gesehen hatte. Die sonst so gutmütige Ella hatte ihn dafür arg gescholten. Eins musste Odilbert den Bewohnern von Tannenquell lassen, sie waren loyal. ‚Die gute Herrin Feyala‘ musste eine ehemalige Gutsverwalterin gewesen sein – womöglich gar Odilberts Vorgängerin? In den Erzählungen des Jungen wirkte sie so, also ob er sie gut kannte.