Geschichten:Weiß wie Schnee – Leises Sterben

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Hexenwald, Travia 1044

Als ich erwachte, war es bereits finster. Ich hörte das Knistern eines Feuers. Als ich die Augen aufschlug erkannte ich den weißen Raben unweit von mir sitzen. Mit seinen blauen Augen schaute er mich an. Dann setzte sich die Weiße Rabe zu mir auf das Bett und reichte mir einen Becher.

„Tee“, erklärte sie mit ruhiger Stimme, eine Decke um ihren zarten Körper geschlungen, „Vorsicht heiß!“ Sie bedachte mich mit einem liebevollem Blick. Aus ihrem weißen Zopf hatten sich Strähnen gelöst. In dem weichen Licht des Feuers wirkte sie noch schöner und noch unheimlicher zugleich.

Ich nahm den Becher und setzte mich auf: „Was... was geht hier vor sich? Ich... ich verstehe das alles nicht.“

Sie seufzte und trank einen Schluck Tee während sie in das knisternde Feuer starrte: „Das ihr immer meint, alles verstehen zu müssen. Was gibt es denn da schon zu verstehen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Vor langer Zeit schon wurden diese Ereignisse vorhergesehen.“ Sie strich mit ihrer Linken mein Haar zurück und blickte mir tief in die Augen. „Es ist unsere Bestimmung.“ Ein zartes Lächeln legte sich über ihre Lippen. „Ich könnte mir weit unangenehmeres vorstellen, als das hier...“

Ich musste grinsen, nicht zuletzt weil sie mir zärtlich über die Wange strich: „Und was für dunkle Haut du hast.“ Sie sagte da mit der Unschuld eines kleinen Kindes. „So schöne, dunkle Haut. Wie flüssige Bronze...“

Mein Grinsen wurde noch ein wenig breiter: „So ist das bei uns Tulamiden.“

Nun nickte sie gedankenverloren: „Du kommst aus Fasar, nicht wahr?“

„Nun, da bin ich zur Akademie gegangen“, erklärte ich, „Aber eigentlich komme ich aus...“

„... Mherwed“, wusste die Weiße Rabe, „Ich weiß. Wo... hm... wo liegt das?“

„Das weißt du nicht?“, lachte ich und verstand nicht, dass sie zwar den Namen meiner Geburtsstadt kannte, aber nicht deren Lage, „Zwischen den Wüsten Gor und Khôm.“

„Ich habe gesehen, dass du anders bist als die anderen“, gestand sie, „Nicht nur äußerlich, sondern auch… auch innerlich. Dass du aber eine Magierin von der berüchtigten Akademie der Geistigen Kraft sein wirst, hat mich schon ein wenig verblüfft...“

Ich musste ein wenig schmunzeln: „Du... du fürchtest dich doch nicht etwa vor mir?“

Nun lachte sie. Laut und schallend, als wäre diese Vorstellung vollkommen abwegig. „Ich bin alt, Ortal“, erwiderte sie da plötzlich seltsam ernst, „Sehr alt. Ich habe viel gesehen und viel erlebt. Es gibt wenig, vor dem ich mich fürchte. Sehr wenig.“

„Aber...“, fühlte ich mich dennoch genötigt nachzuhaken, „Vor mir nicht?“

Erneut lachte sie: „Ich weiß, an welchen Stellen du kitzelig bist. Wie könnte ich mich da vor dir fürchten? Du musst mir nur eines versprechen...“ Mit ihren blauen Augen schaute sie mich durchdringend an. „... meine Gedanken und auch die meines Raben Lurigan gehören mir und nur mir allein. Du wirst niemals in meinem Kopf herumwühlen!“

„Natürlich nicht“, erwiderte ich ungewohnt kleinlaut, „Fürchtest du dich denn davor? Davor, dass jemand deine Gedanken kennt?“

Sie legte ihren Kopf von der einen auf die andere Seite: „Ich weiß so viele Dinge, Ortal ay Fasar. Ich habe so viele Dinge gesehen. Diese Dinge... sind nur für mich bestimmt und für niemanden sonst. Ich kenne die Zukunft, aber jemand anderes könnte mit diesem Wissen viel Unheil anrichten. Zu viel Unheil.“

Ich nickte, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt die Bürde, in die Zukunft zu sehen, noch nicht recht verstand: „Fürchtest du dich vor den Praioten?“

Die Weiße Rabe schnaubte: „Ich fürchte mich nicht vor ihnen, aber so manche von ihnen fürchten sich vor mir. Zumindest Hochwürden aus Schwarztannen. Er ist ein verbitterter Mann geworden, dabei war er früher ganz anders. Du musst wissen, er hatte eine große Laufbahn innerhalb seiner Kirche vor sich, bis er auf mich traf. Natürlich, er ist Vorsteher des Tempels geworden, aber...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er hat immer mehr gewollt. An seinem Scheitern gibt er mir die Schuld. Irgendwie bin ich das wohl auch, aber...“ Wieder zuckte sie mit den Schultern, schien einen Moment in Gedanken versunken. „Hochwürden aus Hexenmühle fürchtet mich nicht. Ein Ereignis in der Vergangenheit hat ein seltsames Band zwischen uns geknüpft. So lange ich jedoch hier in meinem Wald bleibe, wird er in seinem Tempel bleiben.“

„Was ist... was ist damals zwischen euch passiert?“, trieb mich die Neugierde. Doch eine Antwort erhielt ich nicht, stattdessen gestand sie: „Meine größte Furcht jedoch gilt dem Sterben des Waldes.“ Einen Moment hielt sie inne. „Dem Sterben der Tiere im Wald, denn so lange die weißen Tiere hier im Wald leben, so lange wird auch der Wald leben und so lange werde auch ich leben.“ Sie wandte ihren Blick dem knisternden Feuer zu, zog die Decke enger um sich. „Doch das leise Sterben hat bereits begonnen. Das Sterben, das keiner sieht.“