Geschichten:Bramabans Ohr - Am Buche Nantrafe

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Nachdenklich erhob sich der alte Hüter am Buche von Nantrafe, dem Folianten-der-alles-wissen-wird, drehte sich bedächtig um und starrte in die Flammen der Kandelaber, die das Gewölbe unter dem Tal der Kaiser, in ihr Licht tauchten. Ohne zu blinzeln starrte Aurol Junavero lange in das Licht, das nicht flackerte. Denn nichts bewegte sich hier unten. Nicht einmal der Hüter am Buche. Glanzvoll schimmerten die feuchten Augen tief in ihren Höhlen, als sammelten sich die Tränen der Jahrzehnte dort, ohne je vergossen zu werden.

„Kaiserliches Blut“, flüsterte er tonlos und sah vor seinem Auge den schattenhaften Schriftzug, der in Nantrafe nebelgleich über das Pergament gewabert war – den Tod eines Angehörigen des Kaiserhauses anzeigend.

Langsam, gleitend, fließend begab sich Aurol Junavero die glatten Schwarzen Stufen hinauf ins Heiligtum, verschloss sorgsam die geheime Tür hinter der Grablege Kasiers Eslams IV., die leer war bis auf den Zugang zu Nantrafe.

Lautlos durchmaß Aurol die Vorhalle des Mausoleums und folgte dem Prozessionsweg bis zum Haus des Schweigens, dem kleinen Boron-Tempel, unter dessen Kuppel mehr Kaiser ausgesegnet wurden als in jedem anderen noch stehenden Gebäude Deres.

Bramaban Cayros erwartete des Deuter Bishdariels und sah der unbewegten Miene seines Mentors an, dass etwas Ungewöhnliches ihn bewegte. Bramaban wunderte sich keineswegs angesichts der Gäste, die sich vor kurzem erst im Tal der Kaiser aufgehalten hatten. Wenn die Räte des Reiches hier zusammentrafen, obschon kein gekröntes Haupt gefallen und kein Tropfen königlichen Blutes geflossen war, dann standen bewegte Zeiten bevor.

Aurol nahm die Hand Bramabans in seine beiden, weichen Hände, drückte sie kurz und führte ihn dann an seiner Linken in die Flüsternische des Tempels. Die sinkende Sonne durchbrach die vielfach geteilten, hohen Glasfenster und verfing sich in den Weihrauchschwaden, die den Raum in ihren aufdringlichen Duft der Ewigkeit hüllten. Aurol setzte sich auf die Bank, Bramaban ihm gegenüber. Lange blickte Aurol seinem Schüler in die Augen und beendete die stumme Zweisprache mit einem tiefen Atemzug, ehe er schleppend, leise, leidend anhob.

„Vor zwölf Tagen hat sich die junge Kaiserin mit ihren engsten Vertrauten getroffen, um die Folgen aus dem Göttinnen-Urteil ihrer Muhme Invher zu erörtern. Vor drei Tagen trafen sie hier erneut zusammen – ohne die Königin –, um über ihre … Strategie zu reden. Bruder Bramaban, ich muss mein Gewissen erleichtern, drum lausche und schweige.

Jene Berater sind voll kaltherziger Verderbtheit. Ich verstehe nichts von … Strategien. Ich verstehe, dass sie verhindern wollen, dass die Fehde zwischen den Grafenhäusern Luring und Hartsteen dem Königreich schadet. Doch was ist ihre … Strategie?“ (Noch nie wurde im Tal der Kaiser das Wort Strategie mit mehr Verachtung intoniert) „Die junge Kaiserin, in all ihrer götterfürchtigen Reinheit, soll von ihren machtbesessenen Beratern vom Pfad der Tugend weggeführt werden. Der garetische Cantzler warnte vor den Gefahren für die Krone, die sich - höre und staune, Bruder Bramaban - verringern ließe, wenn mehr Blut vergossen würde!“

Der Deuter Bishdariels hatte langsam und mit langen Pausen zwischen den Sätzen und Worten gesprochen. Dennoch wirkte er fast außer Atem.

„Invher möge wohl recht haben, hat Rondrigan Paligan angemerkt, der Gatte der Königin, die Leuin wolle Blut schmecken, bis dass sie satt sei. Die Frage sei doch nur, wer die Leuin sei! Was habe der lange Reichsfrieden der Krone gebracht? Viel zu starke und selbstbewusste Vasallen, die der Krone die Ochsenbluter Urkunde abgetrotzt hätten. Gareth-Sighelmsmark war dieser Ansicht. Selbst Horulf war genau dieser nämlichen Meinung! Lange sind offenbar die Tage her, da er eines Herzens mit seiner Familie war, denn was die Berater berieten, war noch mehr Blut, um die kleinen Kronreifen miteinander zu beschäftigen, damit sie der großen Krone nicht mehr gefährlich werden können. Mag es der Festigung der königlichen macht dienen, so ist es doch verdorben gleichermaßen, auch wenn es der Schweigsame ist, essen Ernte vergrößert wird.

Höre und erschauere, Bruder Bramaban: Die Frage sei nicht, wie man das Blutvergießen zwischen den beiden Grafschaften verhindern, sondern wie man es auf die anderen erweitern könne. Ich vermisse die von den Kriegen der letzten Jahrzehnte geprägte, friedensbejahende Stimme Barnhelms. Nicht, dass ich den alten Rabenmund verteidigen möchte, er pickt auch selbst Lebenden noch das Auge aus, aber ein Bürgerkrieg wäre für ihn keine Option.

In mir nährt sich ein unaussprechlicher Verdacht: Was, wenn die junge Kaiserin, die ich selbst zusammen mit ihren Geschwistern in der Götter Tugenden unterrichtete – was, wenn sie gar nicht ein Opfer ihrer Einflüsterer geworden ist? Was, wenn aus dem tugendhaften Mädchen eine Frau geworden wäre, die das Spiel der Macht ohne Skrupel spielte? Sie kennt den ‚Ringenden Herrn‘ nur zu gut. Viele ihrer Entscheidungen der letzten Jahre tragen die Handschrift, wie sie die Machtpolitiker schreiben.

Ich war nicht zugegen, als die Räte mit der Königin sprachen, wohl aber als sie hier zusammenkamen. Sie haben nur zehn Tage gebraucht, um die Unzufriedenen herauszufinden, sie einander gegenüber in Stellung zu bringen. Um hier eine anzustacheln, dort einen zu verleumden. Zwei Grafenhöfe haben sie infiltriert, einen anderen Grafen hintergangen. Barnhelm wohl auch.

Ich fürchte, Bruder Bramaban, dass der erste Tag der Fehde gleiche eine schreckliche, eine blutige Woche einleiten wird, deren Wucht alle überraschen wird, die ihr Schwert in die Hand zu nehmen sich entschlossen haben.

Verderbt aber ist nicht nur, dass die Räte kaltherzig Menschenleben auf Kors Altären opfern wollen. Verderbt ist auch, dass sie sich auch ausgerechnet jener Initiativen bedienen wollen, die andere geknüpft haben, um die Kämpfe ganz zu verhindern.

Ich brauche Tage der Ruhe und Einkehr, mein Bruder. Ich brauche einen Wink des Herrn des Schlafes, wie ich mit dem Wissen um diese finsteren Pläne Ruhe finden kann. Ich muss meine Stimme schonen, denn ich weiß nicht, wann ich das letzte mal so viel reden musste. Gib mir Erlösung, Bruder Bramaban, und gewähre mir durch dein Gebet die Gnade tiefen Schlafes und Freiheit von den düsteren Gedanken.“

Aurol sackte regelrecht in sich zusammen, als er zu sprechen geendet hatte. Dann aber richtete er sich wieder auf, ergriff erneut Bramabans Hand: „Sie kommen wieder, Bruder. Sie wollen sich stets hier treffen oder an einem anderen verschwiegenen Ort. Darum wirst du morgen aufbrechen müssen, um die Schweigende Wacht, Sankt Berathraban und den Tempel in Uslenried vorzubereiten. Die Krähe muss fliegen, Bruder, der Hüter am Buche muss bleiben.“


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Texte der Hauptreihe:
3. Eff 1043 BF
Am Buche Nantrafe


Kapitel 1

Autor: BB, VolkoV


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Ereignis:
Im Tal der Kaiser treffen die Räte der Gerbaldskrone zusammen, um für die Obrigkeit dass Beste aus der Fehd eherauszuholen. Die Boron-Diener sind schweigende Zeugen.
Datum:
3. Eff 1043 BF