Geschichten:Moderne Zeiten - Reine Mathematik

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Mitwirkende:


Das Gewölbe war tief genug in den Eingeweiden der mächtigen Festung Rudes Schild, dass sich die Kühle des Winters hier hatte verfangen können. Wenn es nicht vielleicht die Kühle der Ewigkeit war: Womöglich herrschte hier dieselbe Temperatur, seit Sumus Leib erkaltet war? Das Gewölbe wurde von zahlreichen Lampen und Kandelabern in ein goldgelbes Licht getaucht und noch güldener zurückgeworfen von den Stapeln aus bronzenen, silbernen und goldenen Münzen, die sich auf schmalen Tischen stapelten – aus den Truhen wieder in die Truhen gezählt. Zwei schmächtige Männer zählten die Münzen, eine fahle Schreiberin notierte die Zahlen. Kolonne um Kolonne füllten die Spalten der großformatigen Kladde. Ziffer um Ziffer wurde auf das Blatt geworfen, reihte sich, gruppierte sich, summierte sich.

An den Stufen, die hinab in diese Schatzkammer führten, standen Ugo von Mühlingen und sein Adjutant. Beide hatten die Ergebnisse des letzten Mondes in Augenschein genommen.

»Es ist wieder deutlich mehr geworden, Illo«

»Ja, mein Marschall. Seit Anfang des Jahres zahlen die Gutsbesitzer wieder mehr, die Niederadligen, Junker und Edlen. Die Ritter sind noch etwas knauseriger. Alter Stolz. Aber gegen die Soldateska aus der Wildermark kann sich ein Ritter allein nicht zur Wehr setzen.«

»Einer nicht, Illo, aber viele können es. Ich habe mich gefragt, woher die gerade kommen. Günstiger hätte es nicht für uns kommen können. Noch vier Wochen, und die Soldlast hätte uns erdrückt. Ein Geschenk. Ob von Kor oder Phex – wer weiß es?«

»Von Boron vielleicht?«

»Von Rondra jedenfalls nicht.«

»Wie dem auch sei, mein Marschall. Wir haben gut zu tun und bekommen dafür guten Sold. Der Adel zittert ein wenig und die reichen Pfeffersäcke ebenfalls. Fürchten um ihren Handel, ihr Gut und ihre Freiheiten. Bin fast ständig draußen.«

»Ist mir auch schon aufgefallen, Illo. Wir brauchen aber auch Erfolge. Es reicht nicht nur, dass es ruhiger wird, wir müssen die Strauchdiebe und Räuber auch dingfest machen und vor aller Welt aufknüpfen. Nur so sieht jedermann, dass wir verdienen, was wir bekommen.«

»Marschall?« fragte ein in das Gewölbe tretender Gardist. »Da oben ist einer, der ganz dringend zu Euch will. Er schreit Zeter und Mordio. Und immer wieder redet er von Gold. Viel Gold.« Er grinste, und eine breite Zahnlücke kam zum Vorschein.

Es dauerte lange, bis Mühlingen sich auf seinen gichtigen Füßen die Treppe nach oben gequält hatte, Bei jedem Schritt wurde es wärmer und wärmer, und im oberen Burghof dann glühte der Stein beinahe unter den sengenden Strahlen der Sonne. Ein strahlend blauer Himmel überspannte Rudes Schild, keine Wolke verhieß Schatten. In der Ecke des Hofs auf der Bastion, wo die Birnenbäume Kaiser Valpos standen und man über die Zwinger hinweg ins Weite schauen konnte, war ein kleines Zelt aufgebaut, mehr eine Schatten spendende Plane, durch die das wenige an Bewegung fahren konnte, das noch in der Luft war. Grillen zirpten im äußeren Zwinger, und auf den Quadern der Mauern sonnten sich unbeweglich Eidechsen. Ein roter Milan kreiste über dem Feld. Man hatte einen prächtigen Blick in das Land.

Mühlingen setzte sich endlich auf seinen bequemen Stuhl und winkte den ungeduldigen Ankömmling zu sich.

»Wer bist du und was willst du?«

»Ralfried Austernthal, Exzellenz. Ich komme vom Rat der Reichsstadt Luring

»Aha.«

»Exzellenz, wir wollen die Goldene Lanze mieten.«

Mühlingens schwarze Braue hob sich über dem alten Auge. Sein wässriger Blick wurde scharf. »Mieten? Die Lanze ist das Regiment der Königin. Man kann es nicht mieten.«

»Aber ... Ich dachte.«

Mühlingens Miene hatte etwas Axtartiges angenommen. Illehardt von Rathsamshausen mischte sich ein: »Er denkt. Hör mal, Bürgerchen. Du stehst hier vor dem Oberst der Goldenen Lanze. Dass du so weit gekommen bist, ist bemerkenswert. Dafür gibt es wohl einen Grund. Darum sag mir, wo im Königreich die starke Hand der Garde benötigt wird, um die Ordnung wieder herzustellen? Über die Entschädigungen und Kontributionen, die an das königliche Heer zu entrichten sind, reden wir danach.«

»Gut. Ich bin beauftragt vom Rat der Freien und Reichsstadt Luring, die Goldene Lanze …äh … auf einen drohenden Rechtsbruch hinzuweisen. Den abzuwenden, bedarf es der Schlagkraft der ganzen Goldenen Lanze.«

»Der ganzen? Bürgerchen, weißt du, was das kostet?« Illehardt beugte sich zu Austernthal und sah ihm bedrohlich ins Auge, nicht achtend, dass er nun doch die Käuflichkeit der Lanze zugab.

»Der Preis spielt keine Rolle.«

Mühlingens Mundwinkel zuckte kurz. Fast krächzend fragte er: »Keine Rolle? Kommt Simiona zurück und mit der ganzen Wildermark über Luring oder was?«

»Es ist der Graf.«

»Der Graf? Der Graf?« Illehardt klang ungläubig.

»Graf Danos verlangt, dass wir die Stadtmauer einreißen, dass wir die Reichsfreiheit zurückgeben und ihn wieder als Grundherrn der Stadt anerkennen.« Austernthal, der schon immer der beste Schüler seiner Klasse gewesen war und das Hotel seiner Mutter seit Jahren mitleitete, hatte bis hierhin seinen Auftrag selbstsicher und gut erledigt. Nur auf das krächzende Kichern des Marschalls war er nicht vorbereitet. Wer sich jemals gefragt hatte, wie es wohl klingt, wenn Echsen lachen, hätte diesen Ton für angebracht gehalten.

»Dann bleibt doch hinter Eurer Mauern und sitzt das Problem aus«, schlug Illehardt vor.

»Graf Danos hat alle seine Ritter auf das Erlgardsfeld bestellt. Unmissverständlich alle. Er wird vor dieser Zuschauerschaft nicht klein beigeben. Er kann nicht abziehen, sonst verliert er sein Gesicht. Er wird angreifen – mit der Reichsforster Wehr und seinem Ritteraufgebot.«

»Die sind da alle beisammen?« Mühlingen hatte zu krächzen aufgehört und einen Schluck Wasser getrunken.

»Genau, Exzellenz. Darum brauchen wir die ganze Lanze.«

»Abgelehnt, Bürgerchen.«

»Aber der Preis spielt keine Rolle. Ich bin befugt, Euch 40.000 zuzusagen.«

»Du sagst es Bürgerchen. Der Preis spielt keine Rolle. Abgelehnt.« Mühlingen machte eine wegwerfende Handbewegung, woraufhin Illehardt den Bürger am Arm packte und wegzog.

»60.000!«, rief der noch, wurde aber an die Gardisten auf dem Hof weitergereicht und hinausgeschafft. Illehardt kam zurück zu Mühlingen, der mit einem scharfen Messerchen einen Apfel schälte.

»Mein Marschall, darf ich sprechen?«

»Gewiss, mein treuer Illo. Sprich.«

»Warum habt Ihr abgelehnt. Diese Summe ist enorm. Vielleicht wäre noch mehr herauszuholen gewesen. Und die Reichsstadt Luring hätte gewiss bezahlt. Die haben Kredit.«

»Illo, du denkst nicht weit genug. Natürlich ist die Bonität der Stadt nicht fraglich. Aber die Kosten sind zu hoch.«

»Was für Kosten?«

»Verluste.«

»Mit dem Gold kann man sie ersetzen. Das ist doch …«

»Kann man nicht Illo. Wir würden gegen Graf Danos’ Ritteraufgebot kämpfen? Unter seiner Führung? Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir das überhaupt gewinnen würden. Aber danach würde es gewiss keine Lanze mehr geben. Der Haufen wäre zu schwach, er bekäme von woanders kein Gold mehr und kein Aufträge. Was glaubst du, würden die garetischen Adligen sagen, wenn wir gegen Danos des Ritterlichen anträten? Hm? Unser Ruf wäre vollends dahin. Die Königin müsste uns fallen lassen, keiner spräche mehr in Furcht und Achtung von uns, sondern nur noch in Abscheu und Verachtung. Nein Illo, das ist reine Mathematik: Vor Luring ist für uns nichts zu holen als der Totalverlust. Pech für die Bürger.«

Illehardts Atem war kurz ein wenig schneller gegangen, als Mühlingen vom Ruf der Lanze gesprochen hatte. Aber er hatte sich schnell wieder im Griff. Er verstand zwar nichts von Mathematik, aber er wusste wieder einmal, warum der Marschall der Marschall war und er nur sein getreuer Illo.