Geschichten:Im Blick der Rehkönigin

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Ende Rahja 1041 BF, Baronie Bärenau in der Nähe des Kaiserforstes

„Kommt her, das müsst ihr euch mit eigenen Augen anschauen.“ Mit diesen Worten beendete Junker Balian von Ibelstein seinen Brief an die Baronin Iralda von Ochs auf der Bärenau. Da das Wort ihres ersten Ritters einiges an Gewicht besaß, nahm die Baronin den Weg von der Praiosburg auf sich und reiste ins Junkertum Ibelstein.

Die Reise führte sie und ihre Kämmerin Yselde von Zweifelfels, die Gattin ihres Bruders Alderan, quer durch die Bärenauer Baronie. Die Bauern arbeiteten unermüdlich auf den Feldern. Kartoffeln, Möhren, Bohnen, Gerste, Roggen, Weizen – es spross wie lange nicht mehr. Die Herrin Peraine war ihnen wahrlich hold dieses Jahr, denn schon die Pastinaken und Rübenernte war äußert erfolgreich. Dazu gedieh die Rinderherde des Viehwiesener Fleckviehs, eine Schenkung ihres angeheirateten Cousins Anaxios von Ochs, wunderbar.

Yselde schlug ihr Buch auf, während die Kutsche weiter ruckelte. „Euer Hochgeboren, ich habe freudige Neuigkeiten. Unser Ernteertrag dieses Jahr ist so gut wie zuletzt 1026 BF, dem letzten Jahr bevor die Kriegswirren uns heimsuchten. Die Preise für das Getreide und Gemüse sind gestiegen und wir sind endlich in der Lage zu liefern. Die Kaisermark und die Kaiserstadt sind ein großes Moloch mit vielen hungrigen Mäulern, die es zu stopfen gilt.“

„Wir werden unser Korn an die Burggrafschaft in Ochsenblut und an die Kaiserstadt liefern. Ein großer Batzen Gerste wurde von der Brauerei Wiesenschlösschen erworben. Das Groß des Gemüses und die Kartoffeln wurde von der Gerbalsmark und der Sighelmsmark erstanden.“ Yselde war hocherfreut, denn endlich war auf der Ertragsseite der Baronie Bärenau mehr als nur Schenkungen und Darlehen zu verzeichnen.

„Wir erwirtschaften diesen Götterlauf einen großen Überschuss an Nahrung, unsere Kornkammern sind für den Winter gerüstet, damit so ein Hungerwinter wie 1040 BF nicht mehr vorkommt. Die Zahlungen an das koscher Haus Stippwitz haben wir bereits abgeführt und auch die Steuern an die Grafschaft Hartsteen sind bezahlt.“ Iralda ließ sich das Geschäftsbuch der Baronie reichen und quittierte die Eintragungen mit einem wohlwollenden Nicken, während ihre Kutsche in die Straße nach Ibelstein einbog.

Vor dem Junkersgut sah sie bereits Balian inmitten eines wohlsprießenden Feldes stehen. Die junge Baronin entstieg der Kutsche und ging zu ihrem Junker. „Seht Euer Hochgeboren, welch eine gute Ernte.“ Er deutete dabei mit ausgebreiteten Armen über seine Lande.

„Das ist wundervoll Balian, ich bin entzückt. Ist dieses der Grund, weshalb ihr mich durch die halbe Baronie reisen lasst?“, Iralda war ein wenig verblüfft. „Seht genauer hin, schaut.“ Balian deutete erneut mit ausgebreiteten Armen über seine Lande. „Seht ihr es?“

Iralda runzelte die Stirn und blickte erneut umher. „Balian, kann es sein? Wirklich, kein Trugbild?“ „Ja, gewiss Herrin.“, entgegnete der Ritter.

„Balian das ist so lange her, ich war noch ein Kind als ich zuletzt in diese tiefbraunen Augen schaute. Meine Mutter erzählte mir oft die Märchen der goldenen Au und ich folgte Vater einstmals ungesehen, als er sich mit ihr traf.“

Wie ein väterlicher Freund legte er seine Hand auf ihre Schulter. „Ich habe sie seit über zehn Götterläufen nicht mehr gesehen, damals war ich noch im Gefolge deines Vaters. Früher kam sie häufiger aus dem Kaiserforst, um über die Felder und Flure zu wachen. Euer Vater traf sich alle zwei mal zwei mal zwei Götterläufe mit ihr, vielleicht solltet ihr, ihr die Ehre erweisen? Sie scheint auf den Herrscher der Bärenau zu warten.“

Iralda war aufgeregt. „Ich erinnere mich, Vater wies meinen älteren Bruder Baduar in diese Tradition ein. Was sich genau dahinter verbarg, ist mir jedoch nicht bewusst. Alle acht Götterläufe sagst Du, die mystische Zahl acht, Mystik aus den Urzeiten Korgonds. Wie heißt sie nochmal, wie ist ihr Name?“

Forancina ist ihr Name. Sie ist die Tierkönigin der Rehe. Dein Vater weilt leider nicht mehr unter uns und er konnte Dir seinen Rat nicht mehr mitgeben und dich nicht mehr in die Bräuche eines Barons von Bärenau einweisen. Vielleicht ist es nun an Dir, selbst herauszufinden, was über die Äonen das Land hier mit Deiner Familie verbunden hat. „

Iralda nickte, wohlwissend, dass niemand ihr das alte Brauchtum beibringen würde – ihr Vater war Tod, ihr Großvater war eingekerkert auf den Efferdstränen und hatte schon vor Jahrzehnten mit der Familie gebrochen. So musste sie ihre eigenen Erfahrungen machen.

Die Baronin ging durch die Felder auf die unglaublich schöne Rehkuh zu und begrüßte diese ehrfurchtsvoll. Die tiefbraunen Augen der Rehkönigin blickten ausdrucksvoll in die Augen ihres Gegenübers.

Balian und Yselde beobachteten die beiden aufgeregt, auch wenn sie die Worte nicht verstehen konnten, die die beiden wechselten. Nach kurzer Zeit folgte die Baronin Forancina in den Wald. Es dauerte Stunden bis sie nach Ibelstein zurückkehrte. Das Gespräch der beiden würde für immer ihr Geheimnis bleiben, bis der Tag gekommen war und sie ihre Tochter Rohaja in die alten Bräuche einweisen würde.