Geschichten:Schnecke am Apfelbaum
Der Weg war weit, verdammt weit. Schon auch ziemlich schlau, dachte Ellerding von Königslinden. Wer auch immer diese Burg erobern wollte, musste diese elende Rampe aufwärts steigen und dabei die ganze Zeit in Kauf nehmen, von oben mit Pfeilen oder Steinen behagelt zu werden. Schlau, aber auch irgendwie mühselig. Wie viele arme Reisige mochten diesen Weg schon hinangeschritten sein, im Glast der Sonne, schweißnass und am Ende ihrer Kräfte? Oder im eisigen Winterwind, zitternd und frierend, nicht minder am Ende ihrer Kräfte?
Ende der Kräfte, das geisterte nicht zufällig durch seinen Geist. Zwar hagelte es weder Pfeile noch Steine, es schneite auch nicht und Praios‘ Antlitz war auch nicht erbarmungslos gegen ihn – aber die Anstrengung des Aufstiegs war dennoch kaum zu ertragen.
Warum musste diese grässliche Kutsche am Fuße von Rudes Schild diesen Achsbruch erleiden?
Warum mussten die Kutschpferde – alle vier – Reißaus nehmen und angesichts ihres nicht unerheblichen Wertes von beiden Kutschern eingefangen werden?
Warum hatte er nicht vier Diener mitgenommen, ihn den Berg hinaufzutragen?
Warum auch hatte er sich gegenüber der Pfalzgräfin so sehr seiner Pünktlichkeit und Verlässlichkeit gerühmt? Er konnte doch unmöglich nicht heute Nachmittag vor Veriya von Gareth erscheinen! „Ich bin bei Euch am 23. Rahja - komme, was da wolle! Nehmt mich beim Wort! Ellerding war immer pünktlich, verlasst Euch auf mich.“ Pah. Was für ein eitles Geschwätz.
Aber wäre er nicht vor dem Abend. und jetzt war der halbe Nachmittag schon herum – nicht da oben, dann bräuchte er gar nicht mehr anfangen, über seine Vorzüge zu sprechen, die ihn vor allen anderen zum besten Kämmerer auf Rudes Schild befähigten. Nein, das bräuchte er nicht.
Ellerding verschnaufte in einer schattigen Biegung, stützte seinen schweren Leib auf seinen Gehstock und versuchte, nicht an sein rumpelndes Herz zu denken, dass in seinem Brustkorb rebellierte. Oder an seinen pfeifenden Atem, der einem verröchelndem Bullen ähnlich klang. Oder an die Seitenstiche, die sich fast anfühlten wie die Lanzenspitze seines letzten Gegners in seinem letzten Turnier. Das war eine Peinlichkeit, an die er auch nicht denken wollte, und sei sie auch zwei Jahrzehnte vergangen.
Wie unerfreulich!
Da schnaufte er hier wie ein kränklicher Blasebalg in einer erbärmlichen Schmiede, 67 Jahre alt, reich und angesehen, von untadeliger Herkunft und vortrefflichem Ruf - und musste doch als Bittsteller diese Rampe heraufkriechen wie ein Schnecke den Apfelbaum.
Was für ein schrecklicher Gedanke! Schnecke? Was fiel ihm denn ein? Hatte die Sonne sein Hirn verbrannt? Gut – vortrefflicher Ruf war auch eher ein Hirngespinst. Voltan und Ruban würden hier kehlig lachen, Carten belustigt schnauben und Borstefred den scheinheiligen Zeigefinger schwenken. Egal.
Was tat er sich hier an?
Wollte er denn Kämmerer auf Rudes Schild werden?
In der Gerbaldsmark hatte ihn der gelackte Salerian kalt abgewiesen: Es sei keine Stellung frei, die Ellerdings Stellung gerecht werden würde. Doch, Mann, deine! War aber sinnlos. Ellerding war zu alt, zu fett und einfach zu spät dran.
Auf Auenwacht? Ach – da wäre er gern untergekommen. Was für eine Aussicht, an diesem Ort frohgemut in die Zukunft zu schauen!
Und dann Neu-Sighelmsstein. Wahrscheinlich war die Kutsche auf dem Weg dort hinaus bereits angeschlagen worden. Wie hatte man ihn da abblitzen lassen - obschon doch seit des Sturmfelsers Ableben dort durchaus Bedarf für ihn, Ellerding, bestanden hätte! Bis heute hatte man da keinen neuen Seneschall bestallt – aber ihn wollte man nicht. Zu wenig Stallgeruch. Stallgeruch? Sah er aus wie ein Pferdeknecht? Was meinten die mit Stallgeruch? Zum Henker mit all diesen Gareths!
Halt!
Veriya von Gareth war ja auch eine.
Ellerding schleppte sich weiter den Burgberg hinauf. Schweiß rann in Bächen von seiner Stirn über die feisten Wangen und den Nacken in seinen völlig durchnässten Kragen. Das Wams hatte er aufgeknöpft und dennoch stauten sich Schweiß und Hitze darin. Er schnaufte, keuchte, ja röchelte, als er sich weiterzwang.
Pünktlich sein!
Pünktlich sein!
Man fand seinen Leichnam nur fünfzig Schritt vor dem oberen Tor. Der Kutscher eines Ochsenkarrens auf dem Weg zur Festung sammelte den fettleibigen Kadaver ein. ‚Hätte ihn doch auch mitgenommen, den armen Kerl‘, dachte der Kutscher, während er Ellerdings Ringe von dessen Fingern zog. Sie machten ein schmatzendes Geräusch, als sie die feisten Glieder verließen.
Auch am Abend die Pfalzgräfin verstanden nicht, warum sich der feiste Alte diesen Aufstieg zugemutet hatte. Was hätte er denn mit diesem Aufstieg gewinnen wollen?
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