Geschichten:Das Erbe der Pfortensteiner - Ein gut gehütetes Geheimnis...
Burg Rubreth, 05. Ingerimm 1046 BF
Halgor stand am schmalen Fenster seiner Kammer. Vorsichtig schloss er die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Die heilende Haut zog und schmerzte zwar noch immer, doch wenigstens konnte er seine Finger wieder frei bewegen. Zumindest hatte er sich für die entstandenen Unannehmlichkeiten an den Praioten rächen können. Das Feuer im Kloster war ihm eine willkommene Ausrede für seine eigenen Verletzungen gewesen und die neugierige Ritterin war er bei der Gelegenheit auch gleich losgeworden. Bei seinem Bericht an Landvogt Rondradan hatte er natürlich größtes Bedauern und Trauer vorgespielt und war für ein paar Tage von seinem Dienst freigstellt worden. Nun galt es zu überlegen, wie er diese Zeit ohne störende Pflichten bestmöglich nutzen konnte. Unvermittelt hörte er ein leises Klopfen an seiner Kammertür. Vorsichtig ging er durch das Zimmer, schob den Riegel beiseite und öffnete die Tür einen Spalt breit, eine Hand lag zur Sicherheit bereits am Schwertknauf. Zu seiner Überraschung sah er jedoch nur die junge Zofe Argande im Flur stehen.
"Ritter von Schack?" Er hörte, dass ihre Stimme leicht zitterte. "Würdet Ihr mir wohl erlauben einzutreten?"
Halgor spähte noch einmal vorsichtig den Gang hinunter, doch schien tatsächlich niemand weiter in der Nähe zu sein.
"Wie Ihr wünscht, edle Dame." Er öffnete die Tür weit genug, dass die Zofe eintreten konnte und schloss sie gleich wieder hinter ihr. Dann drehte er sich zu ihr um. Er erkannte, dass sie offensichtlich geweint hatte. "Wollt Ihr Euch vielleicht setzen?" Höflich bot er den Schemel an seinem kleinen Tisch an, der einzigen Sitzgelegenheit in seiner Kammer.
"Sehr freundlich, vielen Dank." Sie nahm Platz und zog sodann ein besticktes Seidentüchlein aus dem langen Ärmel ihres hochgeschlossenen Kleides. Vorsichtig tupfte sie sich die Augen, bevor sie wieder aufsah. "Bitte entschuldigt meinen Gemütszustand. Ich bin mir sicher, auch wenn Ihr nach außen kaum eine Regung zeigt, dass auch Euch der Tod der guten Prishya zu Herzen geht. Ihr bräuchtet Euch deswegen nicht zu schämen, wenn Ihr Eure Gefühle einmal zeigtet."
"Glaubt mir, werte Argande", sprach Halgor bedächtig und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, "würde ich meine Gefühle offenbaren, so würdet Ihr mich nicht wiederzuerkennen glauben."
"Ich wusste es." Auf dem Gesicht der Zofe bildete sich ein schmales trauriges Lächeln. Für einen Moment befiel Halgor erneut ein Zweifel, der sich bei den folgenden Worten jedoch sogleich wieder zerstreute. "Ihr seid genau wie Prishya. Sie war so sehr damit beschäftigt hart gegen sich und andere zu sein, dass sie oft vollkommen vergas sie selbst zu sein. Oder besser, die zu sein, die sie sein konnte."
"Was meint Ihr damit?", fragte der junge Ritter verständnislos.
"Na, Ihr kennt... Ihr kanntet sie doch auch, so wie sie sich immer vor allen gab. Wütend, herrisch, grob." Das traurige Lächeln auf ihren Lippen wurde ein Stück weicher als sie fortfuhr. "Aber sie konnte auch ganz anders sein, wenn sie wollte und wenn man sie ließ. Sie war eine gute Freundin, wisst Ihr? Und sie hat mir so manches von Ihrem Wesen anvertraut, dass man auf den ersten und zweiten Blick bei Ihr nicht vermutet hätte." Unvermittelt blickte sie Halgor an. "Wusstet Ihr, dass sie euch sehr zugetan war? Sie hatte eine Schwäche für Euch, von dem Moment an, als Ihr im letzten Ingerimm durch das Burgtor geritten seid."
"Ich..." Der Schack musste sich ob der unerwarteten Wendung des Gesprächs kurz fassen und räusperte sich laut bevor er zurückhaltend anwortete. "Wir haben... auf unserer Reise darüber gesprochen."
"Das freut mich wirklich." Sie nickte kaum merklich und etwas Frieden schien auf ihr verweintes Gesicht zurückzukehren. "Es hätte mich sehr betrübt, wenn es anders gewesen wäre. Wisst Ihr, ich habe sie sehr dazu ermutigen müssen."
"Ihr scheint Euch wirklich nahe gestanden zu haben?"
"Ich denke wenn man zwölf Götterläufe seines Lebens zusammen verbringt, dann lernt man sich zwangsläufig recht gut kennen." Der fragende Blick Halgors hieß sie weiterreden. "Prishya und ich sind damals fast zeitgleich auf Rubreth angekommen. Sie als Knappin von Melina von Ehrenstein, ich als die Pagin der Landvögtin. Zu Anfang war sie sehr gemein zu mir, Prishya natürlich, nicht Ihro Hochgeboren. Aber mit der Zeit hat sie verstanden, dass ich keine Konkurrentin um die Gunst ihrer Schwertmutter war. Das Schwert hat mir sowieso nie gelegen." Sie stieß ein fast kindliches Kichern aus, als sie kurz daran zurückdachte, wie sie einmal versucht hatte Prishyas schweren eisernen Streitkolben nur hochzuheben. "Verzeiht. Aber ja, wir sind über die Zeit gute Freundinnen geworden. Auch Ihro Hochgeboren hat uns beiden sehr vertraut, obschon die Frau von Ehrenstein genau wusste, dass Prishya eigentlich nicht gut auf Eslamsgrunder zu sprechen war." Sie gluckste ein wenig ob ihrer großzügigen Untertreibung.
"Melina von Ehrenstein, die ehemalige Landvögtin? Ihr ward ihre Vertraute sagt Ihr?" Halgors Blick wurde eine Spur lauernd. Wie ein Raubtier hatte er eine Spur, eine Möglichkeit, gewittert.
"Oh ja, sie hat mir vieles anvertraut, worüber man in großer Gesellschaft besser schweigt", fuhr Argande eifrig fort. "Als sie nach ihrer Absetzung Hals über Kopf die Burg verlassen musste, verriet sie mir sogar wo sie den Schlüssel zu ihrer privaten Schatulle versteckt hielt, weil sie ihn selber nicht mehr holen konnte und befürchten musste, dass ihre intimsten Schriftstücke Fremden in die Hände fallen würden." Unbewusst wanderte ihre Hand zu dem kleinen Seidentäschchen, dass an der Seite ihres Kleides angenähnt war. "Natürlich würde ich niemals etwas davon weitergeben, egal an wen."
"Natürlich", beeilte Halgor sich zu sagen. "Es stünde mir auch fern derlei von euch zu verlangen. Doch entschuldigt meine Neugier, aber ist denn die ehemalige Landvögtin nie nach Rubreth zurückgekehrt, um ihren Schlüssel oder ihre Truhe zurückzufordern? Wo doch jetzt mit seiner Hochgeboren von Pfortenstein ihr Gatte das Amt inne hat, könnte sie das doch jederzeit tun."
"Leider nein", sagte Argande sichtlich betrübt. "Zuerst hat diese unmögliche Person es verhindert, die man statt der Ehrensteinerin als Landvögtin eingesetzt hat. Sogar ihren Sohn hat sie von Rubreth wegbringen und in die Obhut des Barons von Hirschfurten gegeben, damit er sicher vor den Erlenfaller Anfeindungen war. Melina hat seitdem keinen Fuss mehr nach Rubreth gesetzt, so sehr schmerzt sie die Undankbarkeit. Immerhin hat sie ihr Amt fast zwanzig Götterläufe tadellos ausgeübt. Es wird wohl einige Zeit vergehen müssen, bis diese Wunden weit genug geschlossen wurden." Hilflos hob sie die Schultern. "Ich hätte ihr das Kästchen selbst gebracht, aber ich habe noch keine gute Gelegenheit gefunden, um eine Reise nach Halhof zu erbitten."
"Aber hat denn Herr Rondradan nicht einfach seiner Gemahlin ihr Eigentum überbringen können?"
"Das hätte er sicherlich, doch hat er es bisher nicht getan", antwortete die Zofe ausweichend. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm. "Wie dem auch sei", sagte sie schnell, "es ist letztlich auch gar nicht notwendig das zu übereilen. Der Schlüssel zu den Gemächern ihrer Hochgeboren ist sicher verwahrt in der Stube der Kammerherrin und ich bewahre den Schlüssel zur Schatulle. Was auch immer Frau von Ehrenstein darin aufbewahrt, es ist so sicher als wäre es auf Rudes Schild." Aufgeregt erhob sich die junge Frau vom Schemel und machte Anstalten gehen zu wollen, doch stand der Ritter noch immer zwischen ihr und der Tür.
"Natürlich, daran habe ich auch nicht gezweifelt."
Halgor hob beschwichtigend die Hände und bemühte sich, seinen Blick auf Argandes Gesicht verweilen zu lassen. Er wartete kurz, bis sie sich wieder gefasst hatte, bevor er bedächtig fortfuhr.
"Ich danke Euch, dass Ihr Euch mir geöffnet habt, Hohe Dame. Mir war zuvor nicht bewusst, was der Verlust von Ritterin Prishya für Euch bedeutet. In einer so großen Burg wie dieser ohne Freunde und Vertraute zu sein, kann sicherlich beängstigend sein." Er sah, dass Argandes Hände sich wieder entkrampften und sprach leise weiter. "Ihr meintet vorhin, etwas von Prishya auch in mir erkannt zu haben. Auch wenn ich selbst dies nicht erkennen mag, so will ich euch doch anbieten das zu sein, was sie für Euch war. Ein Freund." Er öffnete die Arme zu einer einladenden Geste. "Wenn Ihr denn wollt?"
Die junge Zofe sah Halgor einen Moment verblüfft und forschend an. Dann jedoch war sie mit zwei schnellen Schritten bei ihm und umarmte ihn mit überraschender Herzlichkeit. "Ich wusste, dass ich mich nicht in Euch getäuscht habe", sagte sie leise und glücklich, während sie ihren Kopf an seine Brust legte.
Der Ritter strich ihr vorsichtig über den Rücken und die Seite, bevor er die Hand ruckartig zurückzog und sich laut räusperte. "Wir, äh... sollten unser Gespräch vielleicht morgen fortsetzen. Meint Ihr nicht auch?"
"Oh ja, natürlich." Verlegen löste sich Argande und blickte beschämt zu Boden. "Bitte verzeiht meine ungestüme Art."
"Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich weiß wie es ist ohne Freunde zu sein." Ein Anflug von Düsternis legte sich wie ein Schatten über sein Gesicht, doch beeilte sich Halgor dies zu überspielen. Er trat eilig einen Schritt zur Seite und öffnete den Riegel der Tür. Mit der Rechten hielt er Argande die Tür auf, während er die Linke wie ein Page auf dem Rücken hielt, und verabschiedete die Zofe mit einer höfischen Verbeugung.
"Vielen Dank, Herr Ritter." Die Scheupelburgerin machte einen leichten Knicks und schenkte ihm beim Hinausgehen ein fröhliches Lächeln. Wenn er nur gewusst hätte, wie sehr er sie gerade an ihre Kindheitsspiele mit den Geschwistern auf der heimatlichen Burg erinnert hatte.
Sobald die Zofe ein paar Schritte den Flur hinunter gegangen war, schloss Halgor die Tür. Er atmete einmal tief durch und besah sich dann seine linke Handfläche. Ein kleines Seidentäschchen lag darauf und als er seine Finger schloss, spürte er die Konturen eines kleinen Schlüssels darin.