Geschichten:Aidaloê - Teil 10
[ Im Landhaus des Edlen von Weißenhain ]
Die Junkerin saß in der Wohnstube des Edlen Rudegar von Immenhort zu Weißenhain. Der beinahe 60 Sommer zählende Ritter aus alten Tagen hatte der Reisegruppe aus dem nicht sehr fernen Maarblick seine traviagefällige Gastfreundschaft gewährt. Er sah blass aus und ausgezehrt, hatte er doch nach eigenen Angaben die letzten Nächte wenig geschlafen. Immer wieder hatte ein Albtraum ihn wachgehalten, ein Traum von seinem ältesten Sohn – der junge Ritter war bei der Verteidigung Gareths gefallen. Man hatte nur noch eine beringte Hand gefunden. Umso erschrockener reagierte der Lehnsmann des Barons zu Schwarztannen auf den Bericht der Junkerin über den Überfall auf seinem Gut. Es war sein Sohn Rothar, der seinem Vater riet, die Büttel zu verstärken. Resignierend nickte der Edle und sofort machte sich sein jüngerer noch lebender Sohn daran, diese Anweisung zu erfüllen.
„Macht Euch keine unnötigen Sorgen“, versuchte Aidaloê ihn zu beruhigen und sprach so mit sanfter, melodischer Stimme als sänge sie ein Schlaflied. „Es war nur eine kleine Gruppe von Banditen, möglicherweise stammten sie aus dem Reichsforst. Anzeichen einer größeren militärischen Organisierung konnte Ritter Trautmann von Haderstein aber nicht feststellen.“
Sie nahm mit ihrer grazilen Hand den Kelch auf, in den der Edle frischen Apfelsaft hatte pressen lassen. Verräterisch zitterte ihre Hand, denn noch immer hatte sie das Bild des haarigen Kerls vor Augen, der versucht hatte, sie aus dem Wagen zu ziehen. Rasch trank sie einen Schluck.
Rudegar strich sich durch den hellen Bart. Seine Bewegung war so langsam, dass er dadurch noch müder und erschöpfter aussah, als ohnehin schon. Der Edle hatte seinen Lebenswillen eingebüßt ...
Aidaloê spürte es unvermittelt wie einen Stich in ihre Seele. Die Müdigkeit senkte sich deutlich und schwer auf ihr Gemüt und sie wusste intuitiv, dass es nicht ihre Müdigkeit war. Sie zwang sich, ihre elfische Empathie, diese seltsame Zaubergabe als Erbe ihrer geheimnisvollen Mutter zu unterdrücken und wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu oft verlor sie diese Kontrolle und fühlte, was ein Gegenüber fühlte oder las, hörte oder nahm sonst irgendwie wahr, was dieses Gegenüber in diesem Moment dachte.
Ein Diener des Edlen begann, kleine Brötchen aufzutischen, frisch und warm aus dem Ofen. Dazu reichte er auf Anweisung seines Herrn einige Käsestückchen und Geflügelfilets. Die Herren Immenhort von Weißenhain waren bekannt dafür, es mit den Geboten Travias ernst zu meinen. Doch Rudegar selbst nahm kein Brötchen, keinen Käse und kein Fleisch.
„Sagt, Wohlgeboren... ich hoffe ich verhalte mich nicht ungebührlich, wenn ich Euch frage, welche Geschäfte Euch gen Schwarztannen führen?“
Aidaloê schüttelte den Kopf. „Nein, Ihr verhaltet Euch nicht ungebührlich“, antwortete sie lächelnd – eine Abweisung hätte den Edlen schmerzhaft getroffen. „Ich möchte mit Eurem Lehnsherren, Seiner Hochgeboren Bibur von Schwarztannen ...“
Der Gesichtsausdruck des Weißenhainers ließ die Junkerin innehalten. Rudegars Miene war wie versteinert, sein Gesicht plötzlich erblasst. „Ja, wisst Ihr es denn noch nicht?“ presste er zwischen seinen dünnen Lippen hervor und Aidaloê konnte nur den Kopf schütteln. „Baron Bibur von Schwarztannen ist tot...!“