Geschichten:Unergründliche Tiefe - Ritter Sharbans Tod und Gedenken

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Schloss Schickelsfeld, Ritterherrschaft Sankt Parinor, Rahja 1945 BF

Hohe Tafel der Familie Sankt Parinor auf Schloss Schickelsfeld. Der Tisch lang, dunkel, gesäumt von 24 hochlehnigen, sehr unbequemen Stühlen, das Gewölbe ebenfalls hoch, die Fenster unter ihren Spitzbögen weit geöffnet. Von draußen dringt der Lärm Gareths herein. Man hat die Fenster zur Stadtseite angelegt – ungewöhnlich, aber verständlich: Zur anderen Seite hätte man nur einen fantastischen Blick auf die Dämonenbrache, aber dieser Blick ist geeignet, den Appetit zu verderben. Der Boden ist aus poliertem Granit, die Wände aus demselben Stein. Schickelsfeld hat in den Jahrhunderten seines immer wiederkehrenden Umbaus seinen Ursprung als Trutzburg an der Dämonenbrache nicht ganz verloren. Man erzählt sich, dass insbesondere die Mauer um das Schloss von Generation zu Generation der hier herrschenden Ritter nach oben gewachsen sei.

Auf den Stühlen sitzen die versammelten, in den letzten drei Wochen greifbaren Mitglieder besagter Ritterfamilie, wobei die beiden das Kopfende der Tafel abschließenden Stühle unbesetzt sind. Sie sind reserviert für den amtierenden Ritter auf Sankt Parinor und dessen Gattin. Doch dieser Ritter ist nicht anwesend – und das ist genau das Problem, dessentwegen die Familie sich auf die unbequemeren Stühle gesetzt hat.

„Nun noch einmal langsam, Schwesterchen. Jetzt, wo auch unser Gänserich von der Rallerau angereist ist, können wir die Geschichte bitte noch einmal von Anfang bis Ende hören, aber bitte weniger konfus als Deine Briefe es waren.“ Alcara von Sankt Parinor stand zwar nur 3ienm kleinen Hesindetempel in der reichsforstischen Provinz vor, aber auch in einem kleinen Tempel kann man den unwidersprochenen Kommandoton gut erlernen. Insbesondere wenn man mit einem Buckel verflucht ist, der Schmerzen verursacht und selbst einen so gescheiten Kopf wie den Alcaras durch die nie endenden wollenden Schmerzen am Denken hindert. Oder an der Geduld. Dieser Mangel an Geduld zeigte sich auch daran, dass sie ihrem Bruder Shazar, der als Gänserich herabgewürdigt wurde, nur weil er als einfacher Travia-Geweihter diente, mit herrischer Geste jeden Widerspruch verbot, die der fügsame Shazar gar nicht nötig gehabt hätte. Wann hätte er jemals widersprochen?

„Dieser Bitte schließe ich mich an, immerhin geht es hier um Vater“, pflichtete Celnidan seiner Schwester bei. Als Rechtsgelehrter am Halsmärker Hof hatte er sich einen überzeugenden Tonfall angewöhnt, staatstragend und mit dem hörbaren Gewicht der schwersten Paragraphen.

„Dir geht es doch nur ums Erbe und nicht um deinen Vater“, rülpste Olruk, der Gatte der um Aufklärung ersuchten Schwester, dessen rote Nase, blaue Wangen und triefenden Säuferaugen nicht etwa dem nächtlichen Besäufnis in der Nacht zuvor geschuldet war. Sondern vielmehr den vielen und sehr regelmäßigen Besäufnissen davor.

„Schluss jetzt“, ergriff endlich das älteste der anwesenden Geschwister das Wort, nämlich die angesprochene Caldessia von Sankt Parinor, die – um das zuletzt gefallen Stichwort des Erbes aufzugreifen – als Älteste auch die Erbin des Hauses, Titels und der Ländereien der für ihren Reichtum bestens bekannten Familie darstellte. „Noch einmal für alle – aber die Kurzform, liebe Alcara. Ich habe die Geschichte jetzt so oft erzählt, dass ich es mittlerweile weniger konfus hinbekomme. Also: Papa ist am Nachmittag des Neunten Ingerimm nach Parinorswacht aufgebrochen, um sich mit der dortigen Brachenwächterin Irida von Gryffingk zu treffen. Zur Beratung, Shazar, du musst nicht alles glauben, was man so erzählt. Papa hatte bestimmt kein Verhältnis mit dieser Person. Er sollte am folgenden Tag zurückkommen, was aber nicht geschehen ist. Da es vorkam, dass Papa länger wegblieb, als er vorher gesagt hat – ja, Shazar: Auch auf Parinorswacht ist er schon länger geblieben. Jedenfalls habe ich mir keine Sorgen gemacht, bis dann Yasinthe von Brachenhag auf der anderen Seite der Brache eine Botin geschickt hat, damit ich sogleich mit Bedeckung in die Brache kommen soll. Die Botin hat mich und Olruk sowie Schwager Frankward mit vier Reisigen zu diesem Orkhügel geführt, den man bei gutem Wetter vom Hohenturm winters im Südosten sehen kann. Dort waren Yasinthe von Brachenhag und Irida von Gryffingk mit ihren Leuten – ich glaube, die Leute der Praiosbornerin waren auch dabei. Alle waren um Papa versammelt. Der lag da, ermordert.“

Caldessia verstummte kurz und unterdrückte ein Schluchzen, ehe sie weitererzählte: „Er war ermordet worden. Eine lange, orkische Lanze steckte in seiner Brust, die hässlichen Fellfetzen am Schaft wehten noch so eklig im Wind. Auch Fangast war ermordet worden, Papas Jagdhund, und Murmel, sein Schlachtross.“

„Murmel? Der hat noch gelebt?“, unterbrach Oleana ihre Schwester. Sie hielt sich meistens bei der Familie ihres Gatten auf und war deshalb nicht auf der Höhe aller Informationen.

„Nun ja nicht mehr“, stellte Alcara unwirsch fest. „Mach weiter, Schwesterchen.“

„Jedenfalls haben die Brachenwächterinnen Papa so gefunden, er war schon zwei Tage tot. Er hatte Am Morgen des zehnten Parinorswacht verlassen. Warum er zu Orkhügel geritten ist, weiß ich nicht. Die Gryffingk wusste es auch nicht. Sie hat ihn sehr gemocht. Papa meine ich, nicht den Hügel. Jedenfalls haben die Brachenwächterinnen gemeint, dass wegen des kultischen Mordwerkzeugs und wegen der möglicherweise ritualartigen Anordnung des … äh … Tatortes Papas Seele in Gefahr sein könnte.“ Hier legte sie eine Kunstpause ein. Sie hatte beim wiederholten Erzählen der Geschichte gemerkt, dass sie an dieser Stelle ihren Höhepunkt hatte.

„Das wäre in der Tat denkbar“, warfen die Geweihten Alcara, Shazar und Torben von Wingeren ein, der Boron geweiht war und seine Mutter, die eine Schwester des Verstorbenen war, zu diesem Familientreffen begleitet hatte.

„Wir haben Papas Leichnam geborgen und im Kloster aufgebahrt. Dort wurde er gesegnet und schließlich bestattet. Die meisten von Euch waren ja dabei. So. Das ist die Sachlage. Ein Riesenproblem. Abgesehen davon kann mich die neue Burggräfin erst nach ihrer eigenen Belehnung mit Sankt Parinor belehnen, aber das ist ja Formsache.“

„Und nun?“, wollte Orungane von Rallerau ölig wissen, die ihren Mann Shazar begleitet hatte, obschon sie wegen der Krönungsfeierlichkeiten des Großfürsten nach Gareth gekommen war und nicht etwa wegen der heiklen Seelenlage ihres Schwiegervaters.

„Also, ich habe mich mit Tante Varena und Vetter Torben sowie mit Seiner Gnaden Radomir von Isppernberg aus der Stadt des Lichts gesprochen. Er sagt, wir sollen für Papas Seele etwas tun, und zwar: Einen Tempel unterstützen, ein Leben geben und eine Queste vollführen. Er hatte auch gleich die Idee, dass wir ihm persönlich Geld geben könnten, aber irgendwie wirkte er auf mich ein bisscehn zu schmierig.“

„Schmierig – ein Praios-Geweihter aus der Stadt des Lichtes?“, fragte Shazar verblüfft nach.

„Na klar, war ja ein Isppernberg“, schmunzelte Olruk weinselig.

„Was heißt: ein Leben geben?“, wollte Oleana wissen.

„Ein Kind in den Tempel geben“, erklärte Alcara, die ahnte, worauf das hier hinauslief. „Ausgerechnet in einen Tempel der Praios-Kirche.“

„Genau“, bestätigte Caldessia.

„Meine nicht!“, bestimmte Celnidan. „Walpert ist leider magisch begabt, und Rudina brauche ich als Erbin.“

„Meine auch nicht!“, erklärte Orungane. „Die sind sowieso Ralleraus.“

„Ganz ruhig, liebe Leute. Meine Celissa wird Novizin. Sie ist die Drittgeborene und fast im richtigen Alter. Das regele ich als Erbin des Lehens also selbst.“

„Und die Queste auch?“, fragte Alcara schnippisch nach.

„Nein, das macht Sibelian. Er muss nicht auf Schickelsfeld bleiben. Seit Papa ihn gerittert hat, sucht er eigentlich eine Aufgabe. Stimmt’s, Beli?“ Caldessias Frage hörte sich nicht gerade ergebnisoffen an.

„Ja. Ich mach’s“, bestätigte Sibelian knapp. Er kannte sowieso schon alles, inklusive der Geschichte vom Tod seines Vaters, der er beim Reifen oft genug zuhören konnte.

„Aha, du hast also alles schon geregelt, Caldessia. Dann kanst du dich ja mit Olruk gleich an die Spitze der Tafel setzen“, ätzte Alcara, die es sonst gewohnt war, alles vorher zu wissen. „In welchen Tempel gebt ihr denn Eure Tochter? Und was für eine Queste wird das?“

„Dazu haben Tante Varena, Vetter Torben und ich eine gute Idee: Letzte Woche erreichte uns ein Aufruf aus Waldstein. Die haben da eine Menge Schwierigkeiten mit Elfen, Waldschraten und anderem Gezücht aus dem wuchernden Reichsforst. Deshalb wollen sie einen Praiostempel stiften wider die Bedrohungen aus dem Waldesdunkel oder so ähnlich. Dieser Tempel soll in Alka stehen, das ist bei Silz. Wahrscheinlich hat der noch keinen Namen – weshalb wir vielleicht mitreden können. Denn dieser Tempel soll Papas Seele retten, das lassen wir uns freilich eine Menge kosten. Würde mich wundern, wenn die da oben noch weitere Stifter brauchen, wenn wir ihnen unsere Summe genannt haben. Celissa geht auch in diesen Tempel als Novizin. Und außerdem müssen die sich verpflichten, unseres Vaters zu gedenken, für seine Seele zu beten und so weiter. Vielleicht können wir bei der Namensgebung des Tempels noch mitwirken, mal schauen.“

„Und Sibelian?“

„Der wird in die Dienste des dortigen Ritters treten, das Salär zahlen wir. Ist ja egal, ob er es hier oder dort von uns bekommt. Oder fast: Die Lebenshaltungskosten im Reichsforst sind für Ritter … äh … unbedeutend. Er kann dann da oben Questen in Praios‘ Namen gegen die Waldgelichter machen. Diesen Ritter von Alka werde ich zu den Krönungsfeierlichkeiten treffen und die Sache in trockene Tücher packen.“ Caldessia lehnte sich zufrieden zurück.

Die Familie staunte nicht schlecht: Zwar war Ritter Sharbans Tod ein schwerer Schlag – vor allem ein so zweifelhafter -, aber Caldessia schien in die Rolle als Erbin sehr schnell hineingewachsen zu sein.