Geschichten:Zeitenwende – Greifenfeder
Reichsstadt Greifenfurt, Ende Peraine 1045 BF
Die Choräle klangen noch in ihrem Ohr. Der beissende Geruch der Weihekräuter hatte ihren Geist geschärft. Morgen stand die lange Reise in ihre Heimat an – ein Ort von dem sie keine klare Vorstellung mehr besaß außer den alten Mythen ihrer Kindheit und dem ständigen mulmigen Gefühl einer unklaren Bedrohung. Hier in Greifenfurt hatten sich ihre Nerven zwar in den Jahren ihres Noviziat deutlich beruhigt, aber ihr Geist hatte sich angewöhnt in jedes Zwielicht zu spähen und auf das leiseste Geräusch zu lauschen. Nichts und niemand entkam ihrer Aufmerksamkeit. Auch deswegen hatte sie sich bewusst für ihren Weihenamen entschieden: Solaria von Hartsteen.
Auf dem abgeschirmten Innenhof des Praiostempels, der zu den bescheidenen Gemächern der Geweihten führte, sah sie ihren Mentor stehen, dessen Freundlichkeit und Offenheit wie die warme Sonne wirkte. Mit dem Hochgeweihten hatte sie in den letzten Jahren unzählige Diskussionen über den Glauben und die Politik des Reiches geführt, und häufig hatte er ihre impulsive und leidenschaftliche Meinung durch seine klaren und ruhigen Argumente so eingefangen, dass ihr der Kopf schwirrte. Nun trat er ihr in seinem schlichten und würdigen Gewand entgegen und reichte ihr lächelnd die Hand.
„So trennen sich nun, meine gelehrige Schülerin, unsere Wege und nur die Götter wissen, ob und wann sie sich dereinst wieder kreuzen werden“, eröffnete der wortgewandte ältere Mann seine Verabschiedung.
Solaria nickte ergeben, behielt ihren Lehrmeister dabei aber fest im Blick.
„Dein Rat und Beistand wird im Herzen des Reiches dringend benötigt werden. Die letzten Jahre und Monde haben die Grundfesten des Reiches und der göttlichen Ordnung erschüttert. Unsere Aufgabe ist es, die Fundamente zu stützen und in den Zeiten des Wandels, in dieser Zeitenwende wie wir sie nun erfahren, das feste Geleit zu geben, damit die praiosgewollte Ordnung nicht zusammenstürzt.“
„Bei Praios, so sei es“, lautete ihre Antwort.
Sie wusste gut genug, vor welcher Aufgabe sie stand. Der Ausbruch der schwersten Krise des Königreichs im Herzen des Reiches war mit dem Namen ihres Bruders verknüpft, und auch wenn das Haus Hartsteen sich bei der anschließenden Fehde des Fuchsrudels um Sigman Therengar von Gareth-Firdayon gegen die Kaiserkrone in der Rolle des bloßen Beobachters befunden hatte, so drohte es nun nach der Entscheidung der Königin ihren Verwandten Alderan Sanz von Gareth zum Großfürsten zu krönen ins Abseits gedrängt zu werden, ebenso wie die anderen geschwächten großen Adelshäuser Garetiens. Dieses Ungleichgewicht bedrohte die innere Stabilität des Reiches.
„So fahre denn wohl und reise heim nach Garetien und zurück zum Feidewald.“ Dann wurde seine Stimme noch sanfter und freundlicher, als sie es je ihr gegenüber war. „Nimm dieses kleine Geschenk als Erinnerung an deine Zeit in den Landen Scraans an. Es ist ein kleines bescheidenes Kleinod, das ich zu fertigen einem der Goldschmiede hier in Greifenfurt den Auftrag erteilt hatte. Wenn du in Zeiten großer Not einen festen Ort für deine Gedanken brauchst, dann möge es dich an den Heiligen Scraan und seine opferbereite Dienerschaft an der Breite erinnern.“
Und mit zärtlicher Hand berührte er leichte ihren bebenden Busen und steckte Solaria eine goldene Brosche in Form einer Greifenfeder an das Revers ihrer Geweihtenrobe. Mit warmen Blick schaute er die junge Frau an, die unbewegt und kalt das Geschenk entgegennahm und es mit einem „Seid gedankt im Namen Praios“ quittierte. Einen kurzen Augenblick verspürte er eine Wärme und Sehnsucht nach diesem Körper, nickte aber nur und trat einen Schritt zurück, um ihr den Weg frei zu geben.
Solaria ging raschen Schrittes weiter und schloss schnell die Tür ihrer Kammer. Sie fühlte sich nun auch an diesem Ort nicht mehr sicher und dankte ihrem Herren, dass sie ihn morgen beim Sonnenaufgang würde verlassen dürfen.