Geschichten:Ein Lied - Warme Hand
14. PRA 1044 BF Burg Gramwacht
Ugdane wusste nicht recht, warum ihr Herz so pochte, als sie den breiten Torbogen der Burg Gramwacht passierte. Die Mauern hoben sich in der dämmernden Abendluft wie die Schultern eines Mannes, der sich endlich entschlossen hatte, wieder gerade zu stehen. Kein Palast, gewiss nicht — aber tadellos instand gesetzt, mit neuen Schindeln, glatten Steinflächen und dezenten Holzverzierungen, die von einer gewissen schlichten Schönheit zeugten. Es war ein Heim, kein Prunkbau. Und sie mochte das.
Korwin wartete im Innenhof, stand dort wie ein Fels zwischen Pferdetränke und Kräuterbeet, die beide erstaunlich ordentlich gepflegt wirkten. Sein Schlapphut in der Hand, sein etwas unsicheres Lächeln, das sie schon von weitem sehen konnte. Er wirkte, als wolle er gleichzeitig Ritter, Gastgeber und einfach nur er selbst sein — und wisse nicht recht, welche dieser Masken ihm am besten stand.
„Frau Ugdane… hohes… also… willkommen“, brachte er hervor, und das leicht unbeholfene Räuspern ließ sie unwillkürlich lächeln.
Ein ansehnlich gekleidetes Bauernmädchen führte sie durch den Torbogen in den Hauptraum. Der Saal war überraschend einladend. Keine übertriebene Zier, aber gepflegt. Die Eichentafel poliert, die Wände mit einfachen Tapisserien bestückt, die das Wappen der Gramfeldens und Szenen aus dem Jagdleben zeigten. Auf dem Tisch, vom Feuer mild erleuchtet, standen Speisen, die tatsächlich an ausgedehnte Mühe erinnerten: Forelle, Brot, Eintopf, Kräuter.
Als sie sich setzten, sah Korwin sie mit dem Blick eines Mannes an, der fürchtet, dass ein falsches Wort die ganze Mühe zunichtemachen könnte. Es war rührend. Und es tat ihr gut.
Sie sprachen über die Ausritte der letzten Wochen, seine Minneverse, über das Wetter der letzten Tage. Nichts Weltbewegendes, aber warm, langsam, vertrauter werdend. Und als sie ihm schließlich sagte, dass seine Verse „ehrlich und schön“ gewesen seien — nicht elegant, nicht kunstvoll, aber echt — leuchtete sein Gesicht, als hätte sie ihm den Ritterschlag erneuert.
So begann der Abend. Und sie ahnte nicht, dass er noch merklich eindrücklicher werden würde.
Der Abend war weiter vorangeschritten. Das Feuer knisterte ruhig im Kamin, während ein sanfter Schwall von Wärme über den Saal glitt. Ugdane fühlte sich seltsam leicht, vielleicht wegen des Weins, vielleicht wegen der Tatsache, dass Korwin ihr nicht aus den Augen wich — aber nie aufdringlich, eher wie jemand, der staunt, dass ihm ein Glück widerfährt, das er nicht ganz begreift.
„Ihr lacht heute mehr als sonst“, bemerkte er leise, als sie an einem Stück Brot kaute.
„Vielleicht liegt es an eurer Gesellschaft“, antwortete sie, und das kleine Zucken in seinen Mundwinkeln verriet, dass er sich Mühe gab, nicht zu breit zu grinsen.
Dann aber geschah es. Ein eigenartiger Farbton am Rand des Fensters. Ein kaum merkliches Glimmen. Ugdane dachte zuerst, es sei nur eine Fackel draußen, vielleicht ein Funkenflug des Feuers. Doch das Licht wurde stärker. Und anders.
Sie drehte sich zum Fenster, und ihre Finger erstarrten auf der Tischkante. Über der Dämonenbrache, fern am westlichen Horizont, war der Himmel plötzlich in ein irreal glühendes Lila-Orange getaucht. Wie flüssiges Metall. Wie der Feuerschein einer Schmiede, in die der falsche Stoff geraten war.
„Bei den Zwölfen…“, entfuhr es ihr.
Korwin stand bereits. Seine Schultern spannten sich an, sein Kiefer mahlte. Er kannte diese Farben. Das sah man. Er war nie ein Mann vieler Worte, schon gar nicht über die Brache — aber jeder, der hinsah, erkannte: Das war seine Welt. Sein Schatten. Der Preis seiner Pflicht.
Doch dann kam das Kreischen. Ein langgezogenes, schrilles Echo, das über das Tal fuhr wie der Schrei eines Wesens, das weder Tier noch Vogel sein durfte. Am Himmel, im Licht des fremden Glühens, zeichneten sich drei fliegende, drachenähnliche Gestalten ab. Ihre Silhouetten zitterten, flackerten, verzerrten sich.
„Drachen?“, hauchte sie.
„Nein“, sagte Korwin rau, langsam. „Keine, die aus dieser Welt stammen.“
Die Kreaturen zogen Kreise über dem leuchtenden Horizont, als badeten sie im Licht der Brache. Ein weiterer Schrei gellte, dann verschwanden sie langsam in der Ferne. Zurück blieb das unruhige Farbspiel am Himmel.
Ugdane atmete tief aus. „Wie könnt Ihr… so ruhig bleiben?“, fragte sie leise.
Korwin legte die Hand auf die Fensterbank. „Weil ich’s muss.“ Er wandte sich ihr zu. Keine Pose, kein Heldengesicht, keine gesuchten Worte. Nur er — müde, aufrecht, ehrlich. „Wenn ich anfange zu zittern… wer soll’s dann richten?“
Da brach etwas in ihr auf. Etwas Weiches, das sie lange verschlossen hatte. Nicht Mitleid — nein. Respekt. Und vielleicht… Zuneigung.
Sie trat neben ihn. Ihre Schulter berührte seine, nur einen Herzschlag lang, doch genug, um ihm zu zeigen, dass sie nicht zurückwich.
„Ihr seid stärker, als ihr selbst glaubt“, sagte sie.
Er sah sie an, überrascht. Ein wenig verloren. Aber dankbar. Dann, sehr vorsichtig, legte er seine große Hand über ihre viel kleinere. Und sie ließ es zu.
Der Himmel beruhigte sich nur langsam, als hätte er ein Eigenleben, das erst nach und nach einsah, dass Schrecken und Spektakel genug gewesen waren. Das unnatürliche Lila-Orange verblasste, und die Dämmerung senkte sich wieder wie eine Decke über das Land. Der Wind, der durch die Scharten der Burg strich, roch noch immer leicht nach etwas Metallischem, Bitterem — doch er trug auch den vertrauten Duft von Holzrauch mit sich, von Erde und entferntem Frühjahrsgras.
Ugdane ließ ihre Hand noch einen Moment in Korwins ruhen. Das Gewicht seiner Finger, schwer und warm, wirkte plötzlich wie etwas, das sie schon länger hätte spüren wollen. Als sie schließlich den Blick vom Fenster löste, merkte sie, wie ihr Herz leise schlug — nicht vor Furcht, sondern vor einer seltsam klaren Erkenntnis.
Das hier ist kein Mann, der leicht lebt. Aber einer, der standhält.
„Kommt“, sagte Korwin schließlich leise, als fürchte er, der Himmel könne wieder aufflammen, wenn er zu laut spräche. „Der Eintopf wird sonst kalt.“
Sie mussten beide über diesen unbeholfenen Versuch eines Übergangs lächeln. Und genau dieses Lächeln löste den Rest ihrer Anspannung. Gemeinsam kehrten sie zum Tisch zurück. Ugdane setzte sich wieder, und Korwin tat es ihr nach — doch dieses Mal wirkte die Nähe anders. Weniger formell. Weniger wie ein bemühtes Ringen um Höflichkeit. Mehr… wie ein Einverständnis.
„Passiert euch das oft?“, fragte sie vorsichtig und schob sich eine kleine Portion des Eintopfs genießend auf den Löffel. „Ich meine… solche Erscheinungen.“
Korwin schnaubte leise, nicht spöttisch, eher resigniert. „Oft genug, um’s zu kennen. Aber nicht oft genug, um mich dran zu gewöhnen. Manchmal schrei’n die Viecher die ganze Nacht. Manchmal wochenlang nichts. Die Brache hat ihre eigenen Launen.“
„Und Ihr seid… allein damit?"
Korwin zuckte mit einer Schulter. „Ich hab die Leute im Dorf. Und meine Freunde und Waffenknechte. Wenn’s drauf ankommt, schaut jemand immer nach mir. Nicht, weil ich’s will, sondern weil es so ist. Ich bin selten allein. Es gibt immer Hände, die festhalten, wenn’s nötig wird… Freunde, die wissen, dass man sich nicht von Angst lähmen lässt.“
Ugdane nickte langsam. Ihr Blick glitt über seine Hände, schwielig, von alten Narben gezeichnet. Ein Leben, das viel nahm, hatte sich dort eingeschrieben. Und dennoch… dennoch hatte er es fertiggebracht, Verse zu schreiben, ihr den Hof zu machen, unbeholfen, aber mit Herz. Und er hatte sie eingeladen, nicht um zu prunken, sondern um ehrlich zu sein.
Plötzlich verstand sie, wie viel Mut das eigentlich gekostet haben musste. „Ich fürchte… ich habe Euch unterschätzt“, sagte sie schließlich.
Korwin blinzelte. „Wie meint ihr das?"
„Ich hielt Euch für einen… rauen Mann. Einen, der sich vielleicht nicht viel kümmert. Der tut, was er will und nicht, was er soll.“
Er lachte leise, ein dumpfes, warmes Lachen. „Naja… manchmal tu ich auch, was ich will.“
„Das sehe ich“, antwortete sie und nahm einen weiteren Schluck Wein, der ihr Wangen und Mut wärmte. „Aber ich sehe auch… warum Ihr so seid, wie Ihr seid.“
Korwin neigte den Kopf leicht, als hätte sie ihn tatsächlich getroffen. „Ihr seid schon viel rumgekommen“, sagte er nach einem Moment. „Habt viel geseh’n. Ich weiß, dass ich gegen andere Ritter und Edelleute… nun ja… nicht viel Glanz hab.“
„Glanz interessiert mich nicht.“ Sie legte die Hand auf den Tisch, nicht auf ihn — aber nah genug, um eine Einladung zu sein. „Ich habe genug von Männern gesehen, die glänzen. Aber kaum einen, der leuchtet.“
Korwin sah sie an, als hätte sie gerade eine Tür geöffnet, von der er bis eben nicht einmal wusste, dass sie existierte. „Ich… ich weiß nicht, ob ich leuchte“, murmelte er.
„Doch“, sagte sie sanft. „Heute Abend habt Ihr’s getan.“
Er atmete tief durch, und zum ersten Mal seit sie ihn kannte, setzte sich ein Ausdruck auf sein Gesicht, der fast wie Ruhe wirkte. Nicht Selbstsicherheit — die hatte er selten. Aber ein stilles Einverstandensein mit dem, was er war.
Sie aßen weiter, redeten über harmlosere Dinge: über das Wetter, über ihre Kinder, über den Kräuterwäldchen südlich der Burg. Ugdane merkte, dass seine Fragen ernst gemeint waren, nicht höflich. Er hörte zu, wirklich. Und er lachte über ihre Erzählung von der Küchenkatze, die einst einen halben Käselaib gestohlen hatte. Und sie lachte mit, nicht weil die Geschichte so wunderbar wäre, sondern weil er lachte.
Der Abend wurde wärmer. Sanfter. Und irgendwann — wie zufällig, doch unvermeidlich — berührten sich ihre Hände auf dem Tisch. Diesmal zog keiner sie zurück.
„Ugdane?“, fragte er leise.
„Hm?"
„Ich… bin froh, dass ihr gekommen seid."
Sie lächelte. Nicht verlegen. Nicht zurückhaltend. Sondern mit dem leisen Triumph einer Frau, die endlich erkennt, dass das Herz, das sie prüft, wahrer schlägt, als sie befürchtet hatte.
Im Hintergrund knackte das Kaminholz. Draußen heulte ein letzter Sommerwindstoß über die Mauern. Doch in diesem Saal war es warm. Und ihre Zweifel, die sie über Wochen begleitet hatten, begannen zu schmelzen wie Schnee im ersten Morgensonnenschein.
Der Abend glitt langsam in die Nacht. Die Dunkelheit hatte die Burg umhüllt, doch drinnen hielt das Feuer den Raum warm. Ugdane saß Korwin gegenüber, die Hände um den Becher gelegt, als wollte sie die Wärme darin in sich aufnehmen. Die Schatten an den Wänden tanzten, wie die Erinnerungen der letzten Stunden, und ein leises Knistern erfüllte die Stille zwischen ihnen.