Geschichten:Was wir (nicht) wissen und (nicht) wollen
Burg Thannfest, Ende Phex 1046 BF
Rukus von Rabicum hatte schon beim Eintreffen auf der Burg bemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Zunächst waren es nur das zunehmende Getuschel oder vielsagende Blicke verschiedener Bediensteter, denen er zunächst wenig Beachtung schenkte. Als er aber seine Tochter und derzeitige Verwalterin Bergthanns, Geldana, in deren Arbeitszimmer traf, war er fast schon schockiert: Sie wirkte übernächtigt, fahrig und geradezu nervös.
„Dein Schreiben klang fast schon verzweifelt, Liebes.“, begann der Erste Ritter Perricums. „Und wenn ich mir Dich so anschaue, scheint der Eindruck wohl auch zutreffend zu sein.“ Spontan drückte er Geldana kurz an sich, die ihrerseits ihrem Vater eine Umarmung schenkte – beides äußerst unübliche Gesten der Vertraulichkeit im Hause Rabicum. „Also, was ist los, dass Du mich unbedingt sehen wolltest?“
„Ich glaube, wir – nein ich – verliere die Kontrolle über die Baronie.“, begann die Vögtin unvermittelt. Ihr Vater wollte etwas erwidern, doch fuhr die Frau unvermittelt fort. „Wir hatten geglaubt, mit dem ‚Unfall‘ Aldrunas die Zügel hier wieder fest in die Hand zu bekommen. Stattdessen haben wir damit eine Fackel auf ein Fass Hylailer Feuer geworfen. Jetzt glaubt anscheinend jeder hier, uns auf der Nase herumtanzen zu können.“
„Magst Du das kurz näher ausführen?“, fragte Rukus knapp, immer noch nachgerade bestürzt über den Anblick, den seine sonst so beherrschte und kühl analysierende wie planende Tochter ihm gerade bot.
„Nun, jemand hat im letzten Mond die verbliebenen Klingweiler samt Bewaffneter in Murwacht umgebracht oder verschleppt. Zumindest fehlt von Aldrunas Kindern jede Spur. Damit ist die Familie praktisch ausgelöscht, sieht man von einem aufgeblasenen, fetten Praioten und dem Storchenpriester bei Welferich in Tobrien mal ab. Vordergründig offenbar das Werk der Trollzacker Barbaren, aber das glaube ich nicht. Dann hätte es weitaus mehr Tote und vor allem auch Plünderungen gegeben. Nein, die Mörder müssen im Sold eines unserer Feinde gestanden haben.“
„Von denen es derzeit leider allzu viele gibt.“, ergänzte Rukus bitter. „Weiß er von alledem?“
„Nein. Und das soll zumindest vorerst auch so bleiben. Ich befürchte, dass er sich erneut aufregte und dies dann auch das letzte Mal wäre. Ich bin wohl so schon eine große Enttäuschung für ihn.“, schloss die Adlige mit leicht gesenktem Kopf.
„Unsinn. Du hast in kurzer Zeit sehr viel erreicht. Und seien wir doch ehrlich: Letztlich hat er die Lawine, welche uns beinahe fortgerissen hätte, mit seiner schroffen Art und zunehmenden Überheblichkeit selbst ausgelöst. Man denke bloß an die Nachfolge in Arvepass, nachdem der Firunslichter überraschend resigniert hatte. Da hatte er seine Macht über- und die seiner vielen Gegner kapital unterschätzt. Und den Markgrafen hatte er dabei überhaupt nicht auf der Rechnung, so als wäre dieser nur seine willige Mirhamionette. Der Schlagfuß wenig später hat das Ganze lediglich für alle sichtbar gemacht.“
„Soll mich das jetzt trösten?“
„Nein, es soll Dir lediglich aufzeigen, dass Du Dich nun weit größeren Herausforderungen als er zu stellen hast und diese größtenteils auf ihn zurückgehen.“
„Lass´ ihn das bloß nicht hören, sonst gibt es ein Unglück.“, erwiderte Geldana mit einem schiefen Grinsen.
„Ich werde mich zu beherrschen wissen, Kind.“, antwortete ihr Vater lächelnd. „Aber berichte doch bitte weiter, damit wir dann gemeinsam über unsere nächsten Schritte entscheiden können.“
„Nun, dieser vermeintliche Angriff der Trollzacker war leider nur der Auftakt, wenn auch ein sehr schlimmer. Damit meine ich nicht unbedingt die Toten an sich, sondern, dass wir offenkundig unsere Vasallen nicht beschützen können und man in Bergthann seines Lebens nicht mehr sicher ist. Das wiegt ungleich schwerer. Die beiden in Murwacht ansässigen Ritter, die trottelig-naive und der ambitionierte Ardur von Dornhag, haben sich offenbar miteinander verbündet und dieser Ardur fordert nun, unterstützt von der Dunkelthannerin, aufgrund irgendwelcher alten Dokumente die Herrschaft über das Junkertum.“ Mit diesen Worten überreichte Geldana ihrem Vater das entsprechende Schreiben.
Dieser las es aufmerksam und gab es dann zunächst wortlos an seine Tochter zurück; sehr zu deren Überraschung, hatte sie doch fest mit einem Ausbruch ihres sonst so impulsiven Vaters gerechnet. „Tja, das ist schon mehr als dreist und verlangte eigentlich nach einer ebenso schnellen wie unmissverständlichen Antwort, wofür uns aber, vermute ich, momentan die Zeit und die Mittel fehlen, richtig? Und ich nehme an, dass diese ‚Dokumente‘ gefälscht sind?“
„Ja und ja. Letztere sind allerdings sehr gut gemacht; es würde daher viel Zeit und Aufwand erfordern, diese als Fälschungen zu entlarven, was am Ende vermutlich keinen Unterschied machte, da Viele inner- wie außerhalb Bergthanns einfach an deren Echtheit glauben wollen.“
„Vertrackte Sache. Aber so wie Du dreinschaust, scheint das noch nicht alles gewesen zu sein.“
„Leider nein. Jüngst habe ich auch noch in Erfahrung bringen können, dass dieser Ardur ein ganzes Banner Söldlinge in Dunkelthann untergebracht hat. Und dieses Schaf von Ritterin lässt den Kerl nach Belieben gewähren, ja, soll sich sogar unter seinen ‚Schutz‘ gestellt haben. Und auf Zackenwacht treiben sich nun Kämpferinnen der Rash’Waharis herum, höchstwahrscheinlich ebenfalls auf Geheiß des Dornhagers. Die alle aus Bergthann hinauszuwerfen, wäre nur unter Aufbietung all unserer Kräfte möglich und selbst dann wäre es eine sehr langwierige Sache.“
„Und würde natürlich rasch zu DEM Gesprächsthema in Perricum werden.“, ergänzte Rukus nachdenklich. „Und dann spielte es letztlich keine Rolle, ob wir am Ende Erfolg haben oder nicht. Unsere verbliebene Autorität samt Reputation wären so oder so erledigt. Wir würden dann nicht nur schwach wirken, wir wären es schlicht und einfach. Wobei ich mich frage, woher hat dieser Ardur eigentlich das Gold für seine kleine Privatarmee? Mit warmen Worten und hübschen Versprechungen allein wird er die Söldlinge und Nebachotenweiber ja wohl kaum für sich eingenommen haben.“
„Soweit mir zugetragen wurde, hat er es von gewissen Kreisen aus der Reichsstadt erhalten. Ich kann mir auch gut vorstellen, von wem. Aber ohne Beweise werde ich mich hüten, irgendwelche Namen zu nennen. Was soll ich nur tun, Vater?“
Sichtlich betroffen schaute der Erste Ritter seine Tochter an. So verzweifelt hatte er sie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr erlebt! Er nahm ihre Hand, schenkte ihr ein warmes Lächeln, atmete einmal tief durch und setzte dann zu einer Antwort an. „Nun, wie Du weißt, Liebes, bin ich sicherlich nicht das größte politische Genie in dieser Familie, auch wenn ich zuletzt einiges von Dir und durch Dich gelernt habe. Aber ich verstehe etwas von Kämpfen und Scharmützeln. Wir haben zu viele Feinde, zu wenig Zeit und zu wenig Mittel, um die alte Ordnung wieder herstellen zu können. Und mit jedem Tag wird unsere Position schwieriger, das Gerede mehr und unser Ansehensverlust größer. Oder einfach gesagt: Diese Schlacht können wir nicht gewinnen.“
Insbesondere der lakonisch ausgesprochene Schlusssatz schockierte Geldana nachgerade. Wenn schon ihr sonst so streitlustiger Vater die Hoffnung aufgab...
Dieser fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Treffe Dich mit diesem Ardur auf neutralem Grund, höre Dir seine Forderungen an und verhandle mit ihm. Vermutlich wirst Du am Ende mehr oder weniger weitreichende Zugeständnisse machen müssen, so bitter Dich und mich das auch ankommen muss. Aber wir können es uns einfach nicht leisten, über Wochen oder gar Monate einen offenen Streit bis hin zur Fehde über die Herrschaftsverhältnisse in Bergthann zu führen. Das wäre politisch endgültig unser Ende. Und da wäre noch etwas anderes: Welferich.
„Hm? Was ist mit meinem Vetter?“
„Nun, spätestens im nächsten Götterlauf wird er uns wieder mit seiner Anwesenheit beehren. Sein Sohn steht kurz vor seiner Schwertleite, da wird er sicherlich zugegen sein wollen. Und wenn er dann von den – noch dazu ungelösten – Problemen in Bergthann erführe...“ Rukus ließ diesen Satz bedeutungsschwanger offen im Raume stehen.
„Ich verstehe, Vater. Und so sehr es mich auch schmerzt, so denke ich doch, dass Du mit allem recht hast. Ich werde noch diese Woche einen vertrauenswürdigen Boten zum Dornhager mit einem Gesprächsangebot senden. Aber nun sollten wir uns wieder sammeln, es ist Zeit für das Mittagsmahl. Und Du weißt, wie sehr er Unpünktlichkeit hasst.“