Geschichten:Späte Post
Am späten Nachmittag war Siegerain von seiner Vorstellungsreise in der Perrimarsch in die Reichsstadt zurückgekehrt. „Endlich wieder Ruhe“, seufzte er erleichtert, kaum, dass er die Türe zu seinem Arbeitszimmer hinter sich geschlossen hatte. Was für seltsame Leute doch in seiner neuen Nachbarschaft saßen! Eine vergeistigte Landvögtin, zwei geistlose Junkerinnen – was könnte man sich mehr wünschen? Oder weniger? Am sympathischsten war dem Oberst noch der Firunslicht gewesen, der aber anscheinend mit zunehmendem Alter immer wunderlicher wurde. Wen interessierten schon die Ahnen oder die Schlachten längst vergangener Zeiten? Wie peinlich! Dem Junker schauderte es kurz; hoffentlich blieb ihm ein solches Ende als abgehalfterte Legende dereinst erspart.
Etwas umständlich nahm Siegerain auf seinem Stuhl Platz und zog – ebenfalls recht umständlich – seine Stiefel aus. Die Dinger brachten ihn noch um! Achtlos warf er das Schuhwerk in eine Ecke, streckte sich kurz und legte dann seine Füße auf den Tisch. So war es doch auszuhalten! Alles in allem war die Reise recht erfolgreich gewesen, konstatierte der Offizier, war er doch überall entweder freundlich oder zumindest neutral aufgenommen worden, sah man von seinem Vasallen Riman ab. Aber dass sich dessen Begeisterung über seinen neuen Herrn in Grenzen hielt, war zu erwarten gewesen und nicht weiter von Belang. Ohne aufzustehen, schenkte sich Siegerain zur Feier des Tages einen Roten ein; Flasche und Krug lagen in einer Schublade seines Schreibtischs immer parat. Als er die Flasche wieder zurücklegte, fiel sein Blick auf das Etikett und ließ den Junker unwillkürlich schmunzeln: Es handelte sich um einen der beiden Weine, die er nach seiner Belehnung aus dem Palast ‚entführt‘ hatte. Das einzig Greifbare dieses traurigen Abends. Müde von der Reise, war er kurz davor, einzuschlafen, als er von einem lauten Klopfen an der Tür jäh in die Gegenwart zurückgerissen wurde. Warum passierte dies immer dann, wenn er sich gerade etwas zu trinken oder Ruhe gönnen wollte?
Rasch setzte sich der Offizier gerade hin, strich seinen Wappenrock glatt und nahm das nächstbeste Pergament zur Hand, bevor er – nun den korrekten und konzentriert arbeitenden Kommandeur gebend – den Störenfried hereinrief.
„Korporal Voltan Fassbender meldet sich mit den eingegangenen Depeschen der vergangenen Tage!“, meldete Siegerains Ordonnanz zackig mit einem kleinen Stapel Dokumenten unter dem Arm.
„Gut, leg´ sie auf den Tisch. Du kannst gehen.“
„Jawohl. Melde mich ab, Herr Oberst!“
Nur mit Mühe konnte sich der Angesprochene ein Grinsen verkneifen. Seitdem Voltan nichts mehr mit der Gattin seines Vorgesetzten zu schaffen hatte, war der Mann regelrecht aufgeblüht – wie vermutlich jeder im Regiment froh war, das Weib nicht mehr sehen zu müssen.
Gelangweilt blätterte der Junker die Depeschen durch. Zumeist eher belangloser Kram oder Dinge, die ruhig noch ein oder zwei Tage liegenblieben konnten. Ein großer Brief ließ den Adligen jedoch regelrecht erstarren. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, erbrach er einige Augenblicke später das Siegel, welches das Zeichen der Travia-Kirche trug, und begann, das im Umschlag befindliche Schreiben zu überfliegen. Am Ende der Lektüre entrang sich ein lauter Jubelschrei seiner Kehle. Siegerain wollte gerade erneut die Schublade öffnen, um der darin befindlichen Weinflasche nun endgültig den Garaus zu machen, als die Türe aufgerissen wurde.
„Ist alles in Ordnung, Herr Oberst?“ rief Voltan ein wenig außer Atem. „Ich habe gerade einen Schrei gehört!“
„Äh, was, wie? Nein, nein. Alles in Ordnung. In allerbester Ordnung sogar. Danke der Nachfrage. Ach, nimm´ dir doch morgen einfach mal einen Tag frei, mein Guter. Du hast es verdient. Weggetreten.“
„Ja-, jawohl, Herr Oberst“, erwiderte die Ordonnanz, bevor sie die Türe hinter sich schloss. Die fast schon aufgekratzt wirkende heitere Stimmung seines Vorgesetzten irritierte ihn zwar nicht wenig, andererseits war ihm diese letztlich herzlich egal, hatte er doch gerade unverhofft einen Tag Ausgang erhalten.
Nun endlich kam Siegerain dazu, sich erneut am Weine zu bedienen und das Schreiben, welches ihn gerade in eine beinahe ekstatische Freude versetzt hatte, noch einmal genauer zu lesen. Die Kirche der Travia hatte der Auflösung seines Ehebundes mit Olberthe aufgrund ihrer „Frevel gegen die heilige Institution der Familie durch exzessiven und unheilbaren Rauschkrautkonsum sowie damit einhergehender völliger Vernachlässigung und Gefährdung ihrer Kinder“ zugestimmt. Endlich!
Jetzt konnte er auch seiner neuen Liebe ebenso offen wie angemessen den Hof machen, was zuvor ob der unklaren Situation mit seiner nunmehrigen Ex-Gattin nicht möglich gewesen war. Und wer mochte wissen, ob daraus nicht dereinst mehr entstünde?
Was kümmerten den Offizier da noch die übrigen Depeschen und Rechnungen? Dafür fände sich beizeiten schon noch eine Lösung, so wie es bisher immer der Fall gewesen war.