Geschichten:Zeitenwende – Igelstachel

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Burg Hutt, Anfang Ingerimm 1045 BF

„Noch einen, Mama?“

Freundlich nickte Niope vom See ihrem Sohn zu, der mit strahlendem Lächeln und glänzenden Augen auf ihrem Schoß saß. Ihr in luftige Stoffe gehüllter Körper konnte die deutliche Wölbung ihres Bauches nicht mehr verbergen, dass die gräflichen Zwillinge bald ein Geschwisterchen bekommen würden. Niope streichelte Freilian sanft über seinen Lockenkopf, während er das feine Gebäck mit seinen kleinen Händchen griff und begeistert hineinbiss.

„Du verwöhnst das Kind, Niope“, erklang es von der Tür her. Graf Odilbert hatte bereits einen längeren Moment dort gestanden und unbemerkt das Treiben seiner Gattin und der beiden Kinder beobachtet. Sie sahen sich kaum, bis spät in die Nacht empfing er Adlige und Patrizier der Grafschaft Hartsteen, die ihn mit seinen Anliegen beschäftigten.

Nach den Zeiten der blutigen Kämpfe sollten nun die Waffen schweigen und die Worte der Diplomatie wieder in Hartsteen Einzug halten. So hatte der Graf es den Wirren der Fehde in Hartsteen dem wieder einberufenen Grafenrat der wichtigsten Adelsfamilien versprochen. Es strengte Odilbert sehr an, die verschiedenen Standpunkte anzuhören, jeden Betroffenen zu Wort kommen zu lassen und dann eine besonnene und für alle Seiten gütliche Entscheidung zu treffen. Häufig gingen die Streitereien um Nichtigkeiten und nahmen ihren Anfang im Versuch, den Anderen zu übervorteilen. Wie oft hätte er einfach gerne einem sanftzüngigen Patrizier sein verlogenes Bittgesuch mit einem Schlag ins Gesicht zurück gegeben, wie oft die offen vorgetragen Dummheit eines Niederadligen mit einem höhnischen Lachen lächerlich gemacht. Aber er hielt sich mit seiner impulsiven Laune zurück, versuchte die Last der ihm übertragenen Verantwortung würdig zu tragen und die Rolle des gerechten Herrschers anzunehmen.

„Papa!“ erklang es begeistert aus den Mündern der beiden Kinder. Während Freilian gewandt von seiner Mutter heruntersprang, rannte seine Schwester Rondirai mit gezogenem Holzschwert auf ihren Vater zu. Sie hatte gerade noch die kleinen hölzernen Figuren mit heftigen Schlägen bearbeitet, die ihr von einem Orksklaven aus Hartsteen geschenkt worden waren. Und so erreichte Rondirai ihren Vater vor ihrem Bruder, der verdrießlich mit anschaute, wie Odilbert seine Tochter hochschleuderte und sie mit Schwung auf seine Schulter setzte.

„Da sind ja wieder diese Igelstachel. Ich sehe es nicht gerne, wenn du die Kinder mit diesen neumodischen und teuren Dinge verweichlichst, Niope“, schwang ein leichter Tadel in den Worten Odilberts mit. „Ich hätte als Kind niemals von meinen Eltern so eine überzuckerte und fremdländische Süßigkeit bekommen.“

„Ich gebe sie ihnen aber, Odilbert. Der neue Zuckerbäcker Leuckers aus Hennenfeld, der Schwiegersohn der Schulzin Hardane, hat doch mit diesem neuen Gebäck etwas wirklich hervorragendes geschaffen. Ich sehe es nur als richtig an, dass der Hartsteener Grafenhof das meisterhafte Können aus den Ländereien des Feidewalds unterstützt.“

Tatsächlich hatte es die lokale Süßigkeit der Igelstacheln, die der umtriebige und geschäftstüchtige Handwerker aus edlen Zutaten und Gewürzen des aventurischen Südens herstellte, bei den Bewohnern der größeren Städte nach den harten Hungerjahren der Blutigen Adelskämpfe zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Erst vor wenigen Monden hatte er eine eigene Manufaktur in der Reichsstadt Hartsteen eröffnet, um dort nach seinem Geheimrezept das östliche Garetien und die Hauptstadt Gareth damit zu beliefern. Selbst der konservative und traditionelle Adel der Grafschaft gab dies zu und preiste diese Neuheit – wenngleich nur heimlich und in privaten Gesprächen untereinander.

Das Wichtigste für alle, über das niemand ein Wort verlor, war, dass nur sie, die Reichen und der Adel, dieses von Rahja gesegnete Geschenk sich gönnen konnten. Nicht die einfachen Bauern in den von der Fehde versehrten Dörfern auf ihren Schollen, die einfache Handwerksgesellen in den kleinen Städtchen am Rand der Grafschaft, die einfachen Söldner mit ihren Armstümpfen, vernarbten Gesichtern und zerstörten Seelen.

„Ich wollte euch nur mitteilen, dass meine Schwester in wenigen Tagen hier auf Burg Hutt eintreffen wird, wie sie mir in einer Depesche aus Greifenfurt mitgeteilt hat.“

„Das freut mich sehr. Du hattest mir ja erzählt, wie viel sie dir bedeutet hat bevor sie in ihr Noviziat gegangen ist“, Niope lächelte freundlich. „Ich bin sehr gespannt auf sie. Leider war sie ja weder zum Begräbnis deines Vaters noch zu unserem Traviabund zugegen.“

„Die Pflichten einer Novizin gehen über die Angelegenheiten der Familie“, zuckte Odilbert mit den Schultern während er die Worte seiner Schwester zitierte. „Eigentlich ist sie mir völlig fremd. Mehr als gelegentliche Briefe haben wir uns nicht geschrieben. Ich habe nicht einmal mehr ein Bild von ihr vor den Augen, nur ein paar Erinnerungen an kindliches Lachen und schelmische Augen.“

Niope streichelte Freilian über den Kopf, der zum Schoß seiner Mutter zurückgekehrt war und mit bittenden Augen auf das Zuckergebäck auf dem Tisch schaute – ohne dabei vor seinem Vater zu flehen. Denn er wusste bereits, dass er dafür einen schmerzhaften Schlag erhalten würde, der auch den herrlichsten Genuss nicht wert war. Rondirai tobte weiter um ihren Vater herum und erschlug unsichtbare Orken.


 Wappen Mittelreich.svg  Wappen Koenigreich Garetien.svg   Wappen Grafschaft Hartsteen.svg   Wappen Baronie Hutt.svg   Wappen Baronie Hutt.svg  
 Burg.svg
 
Texte der Hauptreihe:
Anfang Ing 1045 BF
Igelstachel
Greifenfeder


Kapitel 2

Falkenschrei
Autor: Hartsteen