Geschichten:Lanzenstechen

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Kronstrasse vor Vierok, 4. Praios 1046 BF:

Es war kurz vor Vierok, als der Knappe erlöst wurde. So müde und verkatert Birte und Alricia beim morgendlichen Aufbruch auf Schloss Auenwacht noch gewesen waren, der Ritt unter strahlender Praiossonne hatte die beiden Waffenmägde bald nüchtern und munter gemacht. Ungeachtet des Knappen, der zwei Schritt vor ihnen ritt und dessen Wangen und Ohren aufgrund der aufgeschnappten ausführlichen Einzelheiten immer röter wurden, hatten die beiden kurz nach ihrem Aufbruch kichernd angefangen, sich über ihre rahjagefälligen Abenteuer während des Krönungsturniers auszutauschen. Von den beiden eher nicht beabsichtigt hörten allerdings auch die scharfen Ohren des Junkers an der Spitze der Reisegruppe den grössten Teil ihres Getuschels mit.

Felian von Perainsgarten schmunzelte, dachte an seinen vorgestrigen Zechabend mit anschliessendem Techtelmechtel mit einer Perricumer Hofritterin und gönnte den beiden eine Zeit lang ihren Spass mit dem Jungen. Anjun war mit seinen 15 Jahren langsam ein junger Mann und damit alt genug um sich für Mädchen zu interessieren. Felian nahm sich vor, demnächst mit der Badehaus-Vorsteherin Iselda Travinger zu sprechen ob sich dahingehend vielleicht etwas einfädeln liesse.

Zunächst aber etwas anderes. Felian winkte seinen Knappen zu sich nach vorne.


«Anjun, du bist langsam soweit, am nächsten Knappenturnier mitreiten zu können», begann der Junker das Gespräch. Das strahlende Gesicht seines Knappen war Antwort genug. «Hast du also Fragen zum Grossfürstenturnier?» Selbstverständlich hatte Anjun viele Fragen zum Tjosten und insbesondere zum vergangenen Grossfürstenturnier. Geduldig erklärte ihm Felian, worauf es beim Tjost ankam – schliesslich sollte sich der Junge bei seinem ersten Turnier wacker schlagen: «Wer es nicht kennt denkt, Lanzenreiten ist einfach. Lanze auf den Arm, Schild gepackt, losgaloppiert und voll auf den Mann. Der sichere Weg aus dem Sattel zu fliegen! Im Tjost ist es wie in einer Schlacht. Es zählen nicht nur Ausrüstung, Kraft und Erfahrung, sondern auch Taktik und Strategie: Nehmen wir mein Ausscheiden im Achtelfinale als Beispiel. Dass ich es überhaupt in den zweiten Lanzengang schaffte ist ein Wunder,» erklärte Felian seinem staunenden Knappen. «Hier wurde ich geschlagen,» Felian tippte sich an die Stirm, «nicht hier,» er zeigte Anjun die geballte Faust.

«Im Tjost gibt es drei Aspekte gegeneinander abzuwägen. Erstens, Genauigkeit. Kraft und Geschicklichkeit nutzen einem nichts, wenn die Lanze den Gegner verfehlt und auch wenn die Lanze trifft gilt es zu überlegen ob man einfach nur auf den Schild zielt, auf die Schulter oder gar auf den Helm. Letzteres machen eigentlich nur Angeber oder wahre Könner, den die Wahrscheinlichkeit zu verfehlen und sich lächerlich zu machen ist hoch. Zweitens, Sicherheit: Es nutzt wenig den Gegner zu erwischen, wenn man gleichzeitig von ihm getroffen und aus dem Sattel gehoben wird. Mit dieser Herangehensweise konzentrierst du dich weniger auf die Lanze, sondern darauf, solide im Sattel zu sitzen und zu bleiben sowie durch einen klugen Winkel des Schilds die gegnerische Lanze abgleiten zu lassen – Bein- und Schildarbeit sozusagen. Und Drittens: Wucht. Im Gegensatz zur Genauigkeit geht es hier nicht ums sorgfältige Zielen, sondern darum mit möglichst viel Geschwindigkeit auf deinen Gegner aufzuprallen. Je schneller dein Pferd und je zentraler du mit der Lanze Rumpf oder Schild des Gegners triffst desto besser – ich habe bereits beobachtet wie Sattelgurte rissen, was von den Zuschauern immer besonders beklatscht wurde… Jede hat jede dieser drei Ansätze seine Vor- und Nachteile und wie in einer Schlacht gilt es, sich vor dem Anreiten zu entscheiden, was man macht. Dies tut allerdings auch der Gegner, was folglich auf ein gedankliches Katz- und Maus-Spiel hinausläuft: Falls er sich so entscheidet, sollte ich so und umgekehrt… Anders als in einer Schlacht gibt es einmal in der Kampfbahn allerdings keine Möglichkeit mehr seine Taktik anzupassen, wenn man erkennt, dass man falsch entschieden hatte. Man gewinnt mit seiner Entscheidung oder man verliert. Genaueres dazu erfährst du, wenn wir das nächste Mal am Dummen Alrik üben. Heute nur so viel: Genauigkeit schlägt Sicherheit schlägt Wucht schlägt wiederum Genauigkeit. Eine gute Lektion dazu hast du am letzten Turnier mitgekriegt, auch wenn du es vielleicht nicht bemerkt hast?»


Seinem erstaunten Knappen erklärte der Junker daraufhin: «Was vielleicht nicht offensichtlich war, ich habe mich im Achtelfinale gründlich blamiert. Blind auf Rondra vertrauend überlegte ich kein Bisschen, was seine und seine und was meine Stärken und Schwächen waren. Du reitest nicht auf Sicherheit gegen einen Gegner, dessen grösste Stärke die Genauigkeit ist. Meine Dummheit wurde folglich bestraft. Hätte ich etwas überlegt, ein simpler wuchtiger Sturmangriff wäre nicht nur erfolgversprechender, sondern auch rondragefälliger gewesen und die göttliche Leuin hätte vielleicht mir zugelächelt.»

Felian überlegte kurz. «Was es an einem Turnier ebenfalls zu bedenken gibt. Bei einem Turnier geht es niemals nur ums Kämpfen, ein Turnier ist immer auch eine Versammlung des Adels. Man trifft sich und tauscht sich aus: Freundschaften und Fehden entstehen und werden beendet, traviagefällige Hochzeiten werden vereinbart oder auch phexgefällige Geschäfte getätigt. Stichwort «phexgefällig»: Man kann in den Schranken erfolgreich sein, aber auch abseits davon. Wie du sicher festgestellt hast wurde viel gewettet auf den Ausgang der Kämpfe und es gibt wohl kein Turnier, wo sich nicht der ein oder andere Streiter nicht nur auf sein Können und die Unterstützung der Donnernden verlässt, sondern versuchet Lanzengänge durch Absprachen und Bestechung zu gewinnen, sei es aus blindem Ehrgeiz oder um vor der adligen Gesellschaft als glänzender Held dazustehen. Böse Zungen behaupten, dass Phex an einem Turnier fast präsenter ist als Rondra. Erzähl dies jedoch bloss keiner Rondrageweihten.»


Felian zwinkerte Anjun zu, ehe er fortfuhr: «Auch beim Wetten auf einen Lanzengang gilt es, sorgfältig Stärken und Schwächen der beiden Kontrahenten sowie die Umstände des Lanzengangs gegeneinander abzuwägen. Nachdem mit Hirschfurten und Sterz und die beiden grössten Favoriten im Viertelfinale ausgeschieden war für mich klar, dass Hinn das Turnier gewinnen würde – wenn er denn wollte und nicht etwa aus Höflichkeit im Endkampf den Grossfürsten gewinnen lassen würde.»

Felian wog mit seiner Pranke ein schweres Ledersäckchen an seinem Gürtel. «Wie du siehst habe ich den Ehrgeiz des Mannes richtig eingeschätzt. Dank Wettgewinnen und erfolgreichen Verhandlungen mit der grossfürstlichen Mundschenkin über Lieferungen unseres Perainsgartner Wassers an den Hof reiten wir nicht nur um eine rondragefällige Lektion reicher, sondern auch mit einem phexischem Gewinn in Form solider Golddukaten nach Hause.»

Erneut zwinkerte Felian Anjun zu: «Und falls man das, was die beiden da hinten vorhin zum Besten gaben, ebenfalls «Lanzenstechen» nennen will, dann auch mit rahjagefälligem Gewinn.»


Anjuns Gesicht hätte einer Tomate zur Ehre gereicht.


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Texte der Hauptreihe:
4. Pra 1046 BF
Lanzenstechen


Kapitel 1

Vertrauter der Krone