Geschichten:Deutung von Elissas Traum - In Perricum

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Reichsstadt Perricum, Ende Tsa 1040 BF, Kloster des Vergessens


„Verzeiht die Störung, Euer Gnaden“, sprach die Adlige nach ihrem Eintreffen mit leiser und zugleich gemessener Stimme, „aber ich wurde von euren Brüdern und Schwestern in Perricum an Euch verwiesen, um einen für mich sehr seltsamen Traum gedeutet zu bekommen, der mich vor einigen Tagen überkam und mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich wäre euch zu großem Dank verpflichtet, nähmet Ihr Euch meines Anliegens an.“

Nachdem die Baronin ihm den Traum geschildert hatte, schwieg Vater Bishdaryan eine ganze Weile. Er schien den Worten seiner Gesprächspartnerin nachzulauschen, und Elissa vermied es, ihre Spannung zu zeigen. Endlich stand der Geweihte auf und trat aus der Säulenreihe des Radgangs in den Garten, den das Klostergebäude halb umkränzte. Die Frühlingssonne schien ihn zu meiden, das Summen der Insekten sank ein wenig ab – seltsame Einbildungen, fand Elissa.

Bishdaryan winkte ihr, und langsam spazierten sie durch die Pflanzreihen des Gartens, in dem einige Schutzbefohlene des Klosters harkten, Pflanzen setzten oder ihren Gedanken nachgingen. „Viele Symbole enthält Euer Traumgesicht“, sagte Bishdaryan schließlich. Wir sollten sie der Reihe nach durchgehen – Ihr selbst habt den Schlüssel zum Verstehen in Euch.“

„Zuerst: Das Meer könnte etwas verbergen, und aus ihm kommt das sterbende Kind, das Ihr aus der Wildnis in die Zivilisation bringt. Doch niemand nimmt Euch wahr, bis Ihr das Schlüsselwort sprecht. Habt Ihr selbst eine Verpflichtung? Ist Eure Familie in der Vergangenheit eine Verpflichtung eingegangen? Hat sie versäumt, dieser nachzukommen? Antwortet erst, wenn Ihr alle meine Fragen vernommen hat“, wies er die Adelige an, vorerst zu schweigen.

„Am Meer stehen die Felsen, 20 an der Zahl. Obwohl es ein Traum ist, merkt Ihr Euch diese Zahl, also ist Sie von Bedeutung. Die Zahl der Macht, die Zahl der Herrschaft der Götter und des Adels über das Land. Diese ist geschwächt, noch immer. Gibt es einen Weg, wie Ihr die gerechte Herrschaft zu stärken vermögt? Indem Ihr einer Verpflichtung nachkommt, die Euer Bruder oder Vater eingegangen ist?“ Der Noionit hielt inne.

Aufmerksam, fast schon ehrfürchtig hatte Elissa Bishdaryans Worten gelauscht und sie dabei regelrecht aufgesogen. Als er geendet hatte, ergriff die Baronin nach einer kurzen Denkpause erneut das Wort, dabei sehr nachdenklich wirkend.

"Seid zunächst bedankt für Eure Hilfe, Euer Gnaden. Ja, es gibt da etwas, eine Verpflichtung, die sowohl mein Vater als auch mein Bruder nie eingegangen sind. So gesehen habt Ihr Recht: meine Familie ist ihren Pflichten gegenüber dem Land, über das sie herrschte, nicht nachgekommen. Teils aus Ignoranz, teils aus Unwissenheit. Es ist ein alter Bund mit dem Land selbst, den erst ich nach einer richtig gedeuteten Vision erneuern konnte und einzuhalten geschworen habe. Wiewohl ich es nicht genau in Worte zu fassen oder auch nur abzuschätzen vermag, scheint mir dieses Bündnis doch weit mehr zu umfassen als nur die Menschen, die meine Baronie bewohnen, und weit schwerer zu wiegen als der Lehenseid, den ich dem Markgrafen geschworen habe. Irgendwie fühle ich eine enorme Verantwortung auf meinen Schultern ruhen, ohne dass ich es näher erläutern könnte. Seltsam."

Nach einer kurzen Pause fuhr die Adlige fort:

"Was Eure Frage nach der Stärkung der gerechten Herrschaft, wie ihr es ausdrückt, angeht: Ich bin mir nicht sicher, so wie ich mir in vielen Dingen meiner neuen Rolle als Baronin betreffend noch nicht sicher bin. Ich denke aber, dass ich diese Stärkung herbeiführen kann, indem ich versuche, nicht nur an meine menschlichen Untertanen zu denken, sondern auch an das Land selbst und darob vielleicht mal den einen Wald ungerodet lasse und einen anderen nicht leer jage. Helfen Euch meine Antworten weiter?"

Vater Bishdaryan legte seine Linke auf die Schulter der Baronin: "Nicht ich bin derjenige, der Hilfe bedarf, Ihr seid es. Das habt Ihr bestimmt nicht vergessen?" Ein Scherz? Von ihm? Doch wohl nicht.

Elissa blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn der Geweihte fuhr ernsthaft fort: "Ein Bund mit dem Land? Den es zu erneuern gilt? Das klingt in der Tat nach einer großen Verantwortung. Aber bedenkt der Gemeinschaft, die in Eurem Traum angedeutet ist: Als Ihr das Schlüsselwort sprecht, erkennen Sie Euch - als eine der Ihren? Das mag andeuten, dass die Bürde des Bundes nicht allein auf Euren Schultern lasten muss. Um den Wald in Eurem Lehen...", Bishdaryan schmunzelte, "müsst Ihr Euch wohl keine Gedanken machen. Denkt größer, abstrakter. Und dann, scheint mir, habt Ihr selbst durch Eure Antworten die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung Eures Traumbildes gefunden."

Die Baronin ließ die letzten Worte des Geweihten noch eine Weile wirken, dabei ganz in sich vertieft und bemüht, deren Bedeutung zu verstehen. Manches hatte sich ihr nun gänzlich erschlossen, die Bedeutung anderer Aspekte ihres Traums konnte sie zumindest erahnen, während andere noch der Entschlüsselung harrten. Dennoch: Die Reise zum Kloster hatte sich gelohnt! Elissa wandte sich mit einem feinen Lächeln Bruder Bishdaryan zu.

"Ich danke Euch sehr für Eure Hilfe, Euer Gnaden. Manches verstehe ich dank Euch jetzt. Anderes werde ich, so es der Herr Boron will, noch verstehen. Und irgendwie beruhigt es mich, zu wissen, dass es irgendwo im Lande noch weitere Personen gibt, die einen ähnlichen Bund wie ich eingegangen sind. Ich wünsche Euch allzeit der Zwölfe Segen und werde mich nun auf die Rückreise machen, Eurer großen Hilfe stets eingedenk."

Mit einer kurzen Verbeugung wandte sich die Adlige zum Gehen, nicht ohne vor dem Verlassen der Klosteranlage einige Dukaten im Opferstock zu spenden.




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Texte der Hauptreihe:
25. Tsa 1040 BF
In Perricum
In Vellberg


Kapitel 3