Geschichten:Drei Krähen und ein Räblein – Weil jedes Leben zählt

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Ritterherrschaft Praiosborn, 28. Rondra 1042

„Sie wird doch nicht sterben?“, fragte das Mädchen verängstigt. Ihre Hände bereits blutverschmiert.

„Halt deine Hand einfach weiter gegen den Verband gedrückt“, entgegnete die Geweihte, die das sich zur Wehr setzende Schaf mit ihren Beinen fest umklammert hielt. Auch ihre Hände waren bereits voller Blut.

„Aber es blutet noch immer!“, erwiderte das Mädchen bereits leicht panisch, weil auch durch den Verband, den sie zusammen dem verwundeten Tier um das Maul herum angelegt hatten, noch immer Blut sickerte.

„Es dauert einen Moment“, redete Nurinai beruhigend auf sie ein, „Du musst einfach deine Hand weiter dagegen drücken, dann wird die Blutung aufhören. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das tue.“

„Ihr habt schon mal ein Schaf verbunden?“

„Ein Schaf nicht, aber...“, weiter kam die Geweihte nicht, weil das Tier unter ihr sich erneut aus seiner misslichen Lage zu befreien versuchte und sie und das Mädchen Mühe hatten, es festzuhalten, „... aber ich habe schon so einigen Verwundeten geholfen.“

„Dann seid Ihr aber eine komische Boron-Geweihte“, stellte das Mädchen fest, „Kümmert Euch um die Lebenden...“

Nurinai musste schmunzeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie das hörte. „Wie viele Boron-Geweihte hast du in deinem Leben schon getroffen?“

Das Kind zuckte mit den Schultern: „Hm, ich weiß nicht, ein oder zwei besti...“

Da ging das Schaf in die Knie. Nurinai ließ es gewähren.

„Wie heißt du denn?“, wechselte die Geweihte nun das Thema.

Nella Rosna“, antwortete das Mädchen pflichtbewusst, „Ich komme vom Donnerhof, der liegt da hinten.“

„Und ich bin Nurinai ni Rian und ich komme von der Ruine Praiosborn, die liegt da vorne.“

„Und... Ihr... Ihr wohnt da... wirklich?“

„Ja, das tun wir. Direkt neben der Ruine steht unser Zelt.“

„Aber… aber da soll es doch spuken! Habt Ihr denn... denn gar keine... Angst? Ein hoher Herr soll dort umgehen. Jede Nacht. Er soll seine Liebste suchen und kann sie doch niemals finden...“

Nurinai fixierte das Mädchen und erwiderte: „Dort gibt es keine Geister, glaub mir und diese Geschichte ist eben nur eines - eine Geschichte und mehr nicht. Und das einzige Gefährliche, wovor man sich wirklich fürchten muss, ist das Streitross meiner Schwester, wir nennen es nur Beißi.“

Beißi“, kicherte Nella, „Das ist ein lustiger Name. Warum nennt Ihr ihn so?“

„Weil Beißi gerne beißt, vor allem in die Hände meiner Schwester und in meine.“

„Gut, dass Ihr so gut im Verbinden seid.“

Nun lachte die Geweihte: „Da hast du wohl recht.“

„Ihr seid bei uns vorbeigekommen“, erinnerte sich das Mädchen, „Habt an unserer Tür geklopft. Ich habe Euren Rappen gesehen. Wie heißt er denn?“

„Sie heißt Mors.“

„Was heißt das?“

„Tod.“

„Und warum heißt Euer Pferd denn Tod?“

„Weil mein Herr eben nicht nur Herr über den Schlaf ist, sondern auch über den Tod”, entgegnete die Geweihte und verschwieg, dass Mors ein seltsames Gespür für den Tod hatte, ein untrügliches Gespür und das Mors Nurinai ausgerechnet zum Donnerhof geführt hatte und noch dazu dort stehen geblieben war, war ein schlechtes Zeichen, ein äußerst schlechtes sogar, „Als ich an eure Tür geklopft habe, hat niemand aufgemacht...“

„Wir lassen keine Boron-Geweihten mehr ein“, erwiderte das Kind ernst. Nurinai kam das seltsam vor, irgendetwas ging hier vor sich und sie wusste noch nicht was das sein mochte. Sie wollte aber nicht mit zu direkten Fragen, das gerade erst gewonnene Vertrauen des Kindes zunichte machen, zumal die Untertanen ihrer Schwester zu ihnen allen sehr feindselig eingestellt zu sein schienen.

„Ich verstehe, dass man nicht gerne den Tod im eigenen Haus willkommen heißt, dennoch gehört mein Herr zu den Zwölfen und deswegen schulden wir alle ihm Respekt. Ein jeder von uns.“

„Ich weiß“, erwiderte Nella traurig und vermied es die Geweihte anzuschauen, „Und kommt Ihr nun aus dem Kosch oder aus Albernia?“

„Nun, weißt du, in jeder von uns drei Schwestern schlagen zwei Herzen, das koscher Herz unseres Vaters und das albernische unserer Mutter. In gewisser Weise sind wir also beides: Koscher und Albernier zugleich.“

„In mir schlagen auch zwei Herzen...“, erklärte Nella mit nüchterner Stimme, „... ein lebendes und ein totes.“

„Das Lebende ist deines, doch wem gehört das Tote?“

„Meiner Schwester. Wir waren noch im Bauch unserer Mutter, da ist sie gestorben. Glaubt Ihr, dass sie in den Niederhöllen ist?“

„Das glaube ich nicht“, versicherte Nurinai und glaubte mittlerweile auf die Spur dessen gestoßen zu sein, was hier nicht so recht stimmte, „Die Götter lassen uns nicht allein. Sie sind immer da, auch wenn wir glauben, dass dem nicht so sei.“

„Das... das ist gut. Aber... aber... ist das ganz sicher? Also so richtig? Kann den Golgari durch den Bauch meiner Mutter meine Schwester überhaupt geholt haben?“

„Natürlich!“, Nurinai nickte, „Die Götter können sogar noch viel mehr. Und um Kinder kümmern sie sich besonders, weil Kinder die unschuldigsten Wesen auf ganz Dere sind und somit ihrer ganz besonderen Fürsorge bedürfen.“

Das Mädchen nickte.

„Sag mal Nella, gibt es hier noch andere Kinder? Ich habe keine gesehen.“

„Gibt es“, erwiderte das Mädchen seltsam tonlos, „Die meisten sind da drüben.“ Sie nickte mit ihrem Kopf nach rechts.

„Und die anderen?“

„Mussten sich zuhause verstecken.“

„Warum ist man so feindselig uns gegenüber?“

„Ihr seid Fremde und unter dem Hesinde-Kloster ging es uns immer gut.“

„Und geht es euch nun schlecht?“

Da zuckte Nella lediglich etwas hilflos mit den Schultern und lenkte vom Thema ab: „Ich glaube, es hat aufgehört.“

„Halt deine Hand aber noch einen Moment weiter dagegen gedrückt, ja?“

Sie nickte: „Was soll ich denn nun zuhause erzählen?“

„Die Wahrheit!“, erwiderte Nurinai, „Am Besten ist es immer die Wahrheit zu erzählen. Sie kommt früher oder später ja doch heraus.“