Geschichten:Das Einhorn in Eslamsgrund - Wider Fron und Götter

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Reichsstadt Eslamsgrund, 30. Efferd, kurz nach Mittag

An die Stelle des Einhorns war ein weiterer Geweihter des Nandus getreten, der sich mit entschlossener Stimme an die Menschen unter ihm richtete.

»Volk von Eslamsgrund, Bürger des Raulschen Reiches, treue Diener der Kaiserin … Hört mich an...«

Es dauerte eine Weile bis die Menge sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Doch die durchdringende Stimme des Geweihten fing ihre Aufmerksamkeit, zumal die hintersten Reihen dachten das Einhorm würde weitersprechen.

»Ich weiß es, Eure Rufe tun es kund, viele von Euch denken an ihn, viele von Euch sehnen sich vielleicht sogar zurück nach den Tagen unter eurem alten Grafen Yesatan von Eslamsgrund. Ihr wisst, dass er für Leibeigene und Bauern eintrat, wider die Fron.«

Eine einzelne Stimme schrie in die Stille: »Wider Fron und Lehen!« Eine weitere an der anderen Seite des Marktplatzes nahm den Ruf auf und noch eine und wieder eine. Immer mehr stimmten in den Ruf ein. Wenn genug Hunde bellen, dann laufen alle Schafe in die gleiche Richtung. Eines aber war selbst dem ungeübten Beobachter klar: Die Hunde waren nicht zufällig auf dem Platz!

»Nieder mit den Zwölfen!«, tönte es von einer anderen Seite des Platzes. »Wendet Euch von den Göttern ab! Verhöhnt die Zwölfe! Sie haben keine Macht über uns!«

Der Tumult brach wenige Augenblicke später aus. Jemand hatte sich Zutritt zum Praios-Tempel verschafft und schlug mit heftigster Kraft wieder und wieder auf den goldenen Gong, dessen Lärm sich wie ein Teppich über den Marktplatz legte. Die Menschenmenge war höchst erregt, und im aufbrandenden Lärm gingen alle Worte unter. Nur die wenigen direkt in Umkreis des Balkons stehenden Bürger konnten hören, dass über das mahnende Beispiel Siburs gesprochen wurde und von einer göttlichen Ordnung, und diejenigen, die es hörten, würden später davon berichten, wie sehr sie diese Worte berührt hatten.

Das Krachen zusammenstürzender Marktstände, das Schreien und Rufen aus hunderten Kehlen und immer wieder das Dröhnen des mächtigen Gongs. Menschenleiber zuckten in Ekstase und wogten wie vom Sturm gepeitscht umher. Denen, die lesen konnten, wurden Flugblätter in die Hand gedrückt, deren Inhalt immer wieder wie aus einer Stimme aus der Menge gen Alveran gerufen wurde: »Wider Fron und Lehen!«

Nur vereinzelt verließen Menschen den Platz, wie der Hesinde-Geweihte, der zu sich selber mit einer piepsigen Stimme sprach und zur Eile antrieb. Aber es strömten noch mehr Menschen auf den Platz, die spürten, dass dort etwas geschah. Sie wollten wissen, was es war, dass die gesamte Stadt mit Lärm eindeckte, und daran teilhaben. Sie vergrößerten die ekstatische Masse, die begierig darauf war, immer mehr zu wachsen und immer dichter zusammen zu stehen.

Füße wurden gestampft, Arme wurden geschwenkt, jeder bewegte den Kopf. Was immer an den Menschen beweglich war, gewann sein Eigenleben, jedes Bein, jeder Arm lebte wie für sich allein. In ihrer höchsten Erregung fühlten sich die Menschen als eines, als jeder dem anderen gleichwertig und für den Bruchteil eines Augenblick gab es keine Schranken mehr zwischen den Menschen, die so feste Bastion des Standes war gefallen und es schien das Alter selbst keine Rolle mehr zu spielen.

Ein lauter Ruf fuhr über die Köpfe hinweg: »Darum fordere ich jeden göttergefälligen Bürger auf, diese Leute zu ergreifen und der Gerichtsbarkeit zu übergeben!«

Und in diesem Augenblick hörte die Menge das metallische Klacken und Klirren von Bewaffneten. Im Laufmarsch fluteten vom Gerbaldsberg her die rot-weiß karierten Wappenröcke. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Wort über den Marktplatz. »Die Gerbaldsgarde kommt!« Und in jedem Geist bildete sich nur ein Wunsch. Flucht.

Es war die raue Stimme von Verina von Silberhuf, in Garether Platte, rotem Umhang, weißem Helmbusch und den Zweihänder hoch erhoben, die sich an die sie flankierende Gerbaldsgarde richtete: »Stellt die Ordnung her, Männer! Wer sich rührt, kriegt Saures!«