Geschichten:Das Einhorn in Eslamsgrund - Rätsel aus dem Feuer

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Pfalz Breitenhain, Ende Rahja 1035 BF, am Abend

»Und dann sind wir diese elendige Waldsteiner Elfenhexe für alle Zeiten los.«

Die Gesichter der beiden Zuhörer im Turmzimmer spiegelten nicht unbedingt die Begeisterung und die Zuversicht des Pfalzgrafen wider. Während die Miene des tulamdischen Medicus, so wie immer, keinerlei Rückschlüsse auf dessen Meinung erlaubte, hatten sich während des ausführlichen Berichts seines Herren breite Falten auf die Stirn des Breitenhainer Kastellans aus der Kaisermark gelegt. Irgendetwas in Reo Rondriol vom Wirsel sträubte sich leise gegen die Vorstellung, dass es dem Willen der Zwölfgötter entsprechen solle, eine rechtmäßige Baronin mit List und Waffengewalt in einem Hinterhalt auf kaiserlichem Boden um ihre Krone und ihr Leben zu bringen. Auf der anderen Seite, dachte Wirsel, es wäre nur ein weiterer Stein mehr, über den diese inkompetente Kröte würde stürzen können.

In die erwartungsvolle Stille, während der Hilbert von Hartsteen seine beiden Ratgeber nacheinander eindrücklich anschaute, erklang ein dumpfes Klopfen. Sofort richteten sich die Blicker dreier Augenpaare auf der verschlossenen Eichentür.

»Wer da?«, rief der Pfalzgraf unwirsch.

Leise ertönte eine Kinderstimme vor der Tür: »Mein Herr, ich bin’s, der Drego. Darf ich reinkommen?«

Die drei Männer schauten sich kurz fragend an, nickten sich dann jedoch. Mit einer wedelnden Handbewegung wies der Pfalzgraf seinen Kastellan an, die Tür zu öffnen. Dieser erhob sich innerlich seufzend von seinem Holzstuhl, während die anderen beiden auf den Polstersesseln sitzen blieben.

Der junge Page Drego Aurelian von Rossreut trat in das nur von wenigen Kerzen beleuchtete Zimmer seines Herren, nach außen den schüchternen Knaben mimend, wie er es schon bei seinem Vater stets erfolgreich getan hatte, um zu bekommen, was er wollte. Der Lockenkopf verneigte sich artig vor den drei Männern und hielt sein Haupt gesenkt. Die Hände hielt er in den Taschen seines Pagenrockes.

»Nun mal raus mit der Sprache, mein Junge. Was führt dich hierher und lässt dich uns Erwachsene in unseren wichtigen Gesprächen stören?«, fragte der Pfalzgraf mit väterlichem Ton. Längst hatte Hilbert begonnen, in dem Jungen den Sohn zu sehen, den ihm die Götter wohl niemals gewähren würden.

»Es ist wegen dem Besuch von seine Hochwürden Hillinger hier auf Breitenhain vor wenigen Tagen. Ich habe gesehen, wie er dem Nandus-Geweihten im Rosengarten heimlich einen Brief zugesteckt hat, als sie dort zusammen mit Selinde geredet haben. Seine Gnaden überflog die Zeilen des Briefs und hat ihn dann in seine Tasche gesteckt. Am Abend dann bin ich in sein Zimmer, um ihm sein Abendessen zu bringen, da hatte er den Brief gerade zerrissen und in das Feuer im Kamin geworfen. Aber«, und hier lächelte der Junge das erste Mal, und es zeigte sich ein spöttischer Zug um seine Lippen, »ich hab die Reste aus dem Feuer geholt, als seine Gnaden sich wieder an sein Stehpult gestellt hat und sein Buch weitergeschrieben hat.«

Drego nahm seine Hände aus den Taschen und holte ein paar rußige Fetzen Pergament hervor. Stolz übergab er sie Hilbert, der sie skeptisch musterte und dann kommentarlos an seinen Leibmedicus weiterreichte. Dieser überflog die stark mit Brandflecken beschädigten Zeilen, während der Kastellan sich mit einem Seitwärtsschritt hinter den Tulamiden stellte und über dessen Schultern mitlas. Ein leises Pfeifen ging dem Kaisermärker über die Lippen.

»Na was denn? Was steht drin?«, fragte der Pfalzgraf neugierig. »Lies vor, Tumanjan

Der Tulamide räusperte sich und las mit feiner, akzentuierte Stimme vor, was er auf den verschiedenen Schnipseln entziffern konnte:

»Als unsere wichtigste Aufgabe gebietet uns der göttliche Nandus [Brandfleck] allgegenwärtigen Hindernisse zu beseitigen, auch auf die Gefahr hin von den Hütern einer unterdrückenden Herrschaftsmoral als arglistige Störenfriede beschimpft und mit den äußersten Mitteln bekämpft zu werden.

Richtige und wahre Herrschaft kann niemals aus einer kontingenten Quelle, wie sie die Geburt oder der Stand sind, hervorwachsen, sondern nur aus [Brandfleck] aller durch den freien Zugang zu allen Wissensquellen und durch selbstlose und gerechte [Brandfleck] individuellen geistigen Fähigkeit entsprechend [Brandfleck]

[Brandfleck] zur Revolution gegen die bestehende Ordnung wollen wir aufrufen [Brandfleck] zu einer Reform der Gesellschaft motivieren, in welcher Amt und Würden nicht den zur Herrschaft Untauglichen vorbehalten werden [Brandfleck]

[Brandfleck] zum Prüfungsfest des nächsten Götterlaufes zu der in diesem Brief verborgenen Stadt zu pilgern und in großer Zahl zu versammeln, um der großen Offenbarung des Willens Nandus beizuwohnen [Brandfleck]«

Stille machte sich im Zimmer breit. Der junge Page hatte sich an einen der schweren Samtvorhänge gestellt und schien fast dahinter zu verschwinden. Niemand achtete mehr auf den Knaben.

»Das ist… krass«, sagte Reo Rondriol vom Wirsel, seine Überraschung und Beunruhigung kaum verhehlend. »Und ein Angriff gegen die praiosgefällige Ordnung.«

Hilberts Blick ging zum Tulamiden, der mit unbewegter Miene die Pergamentfetzen vor sich auf den kleinen Tisch legte. »Das kann alles Mögliche bedeuten. Wir wissen nicht, wer der Verfasser des Briefes ist, auch ist er stark beschädigt, so dass weite Teile seines Inhalts unklar ist.«

Der Pfalzgraf fuhr sich nachdenklich über sein Kinn. »In jedem Fall ist es sehr beunruhigend. Wo und wann soll diese Versammlung sein?«

Schulterzuckend antwortete der Medicus: »Die Nandus-Jünger sind Freunde von Rätseln, ich gehe davon aus, dass wir den vollständigen Inhalt des Briefes benötigen, um diese Frage zu beantworten. Es deutet aber daraufhin, dass das Prüfungsfest am Ende des Efferdmonds ein wichtiges Datum zu sein scheint.«

»Fragen wir doch den Geweihten danach«, schlug der Kastellan vor.

Hilbert winkte verächtlich ab. »Erwartet von diesem Sturkopf keine Antworten. Eher würde der sich auf einem Scheiterhaufen verbrennen lassen, als uns über diese Verschwörung zu unterrichten. Und wenn es nach mir ginge, würden er und seine ganzen Nandus-Freunde genau dort landen.«

»Was werdet Ihr jetzt mit dieser Information anstellen, Hochwohlgeboren«, funkelten die Augen des Tulamiden fragend.

»Ganz einfach. Zur Krönung meines Vetters im Praios wird auch der neue Cantzler des Königreiches anreisen. Ich werde ihm die Beweisstücke unter vier Augen vorlegen und ihm das weitere Vorgehen überlassen. Soll Horulf von Luring doch beweisen, ob er tatsächlich die großen Fußstapfen seines kleinen Bruders Praiodan ausfüllen kann oder ob er nur für einen kleinen Landrichter in Reichsforst taugt.«