Benutzer:Wertlingen/Briefspiel

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Am Rande

Sorgen des kleinen Mannes

Gerding von Karseitz blickte angestrengt auf den Lederstiefel, den er in der einen Hand hielt. Seine Augen tränten und sein ganzer Rücken tat weh, als habe ihm jemand einen Knüttel übergezogen und so lange auf ihm herumgedroschen, bis sein Rückgrat gebrochen war. Seit vier Tagen waren sie nun auf dem Turnierplatz und neben seinen üblichen Knappendiensten hatte ihm Prinz Edelbrecht auch noch die Obhut über seinen Geleitzug übergeben, während der Prinz selbst an den Turnieren teilnahm und sich, wie Gerding den Eindruck hatte, jetzt schon seit vier Tagen gepflegt verprügelte. Und obwohl er mit Gewissheit wusste, dass dem nicht so war, hatte Gerding so langsam das Gefühl, als habe er in der ganzen Zeit seit ihrer Ankunft in XXX kein einziges Mal ein Auge zugemacht. Stattdessen war er dem Märkischen Zeremonienmeister Argan Hyperion Simian Plauenfelde bei dessen Versuch, die kleine Greifenfurter Gesandtschaft zu ordnen und in Zaum zu halten zur Hand gegangen, hatte im Namen des Prinzen mit den Kaufleuten über die Nachschublieferungen verhandelt und sich um die überall herumwuselnden Pagen und Knappen gekümmert. Ab und an war der Prinz voebeigekommen, hatte über das ganze Gesicht gestrahlt und eine halbe Sanduhr über eine besonders gelungene Finte oder ein besonders beeindruckendes Manöver berichtet und war dann wieder in Richtung des Turnierplatzes verschwunden. Gerding indes hatte noch kein einziges Mal überhaupt die Turnierwiese betreten, sah man vom Knappenturnier ab, das von den Märkern mit einiger Mühe gewonnen worden war (XXXwenn das genehm ist, lass es stehen, sonst lass sie einfach verlierenXXX). Auch wenn die Ausbildung zum märkischen Ritter keine großen Meriten in der Tjoste erwarten ließ, immerhin lernte man in Greifenfurt eher 'von allem ein wenig' mit einem Schwerpunkt auf der Geländegängigkeit und schnellen, harten Angriffen - die hinsichtlich den rondragefälligen Turnierregeln durchaus eher eine Interpretation im Grauzonenbereich darstellten - so kam der märkische Kampfstil der Buhurt doch sehr entgegen. Wann immer er ein wenig Luft hatte, kümmerte er sich um die Ausrüstung des Prinzen, die unter den harten Turnierbedingungen litt. Kaum hatte Gerding ein paar Schuhe gereinigt und geputzt, da standen auch schon wieder drei schmutzige Paare neben dem Lager des Prinzen. Einige der Wappenröcke waren mittlerweile jenseits einer Flickbarkeit und wenn Gerding für jeden Gang zum Grobschmied am Rande der Zeltstadt einen Kupfer erhalten hätte, dann könnte er sich nun endlich ein neues Kettenhemd maßschmieden lassen, davon war er überzeugt. Von den angetretenen Märker Rittern war bereits zwei Drittel im Tjost und Turnei unterlegen, forderte doch das unablässige Kämpfen gegeneinander seinen Tribut. Die Medici waren mittlerweile auf dem Platz zahlreicher als die Grashalme und über dem Lager hing das leise Stöhnen der Verwundeten. Der Prinz war heute Morgen mit einem blauen Auge humpelnd von dannen gezogen und Gerding war ob der vielen Arbeit nichts anderes übrig geblieben, als seinem Herrn viel Glück zu wünschen und sich in die Arbeit zu stürzen, anstatt an den Schranken zu stehen und Prinz Edelbrecht zuzujubeln, wie er dies noch am ersten Tag getan hatte. Wenn es so weiterginge, würde wohl auch der Gemahl der Markgräfin Irmenella von Wertlingen nicht mehr lang am Turnier teilnehmen, zu hochrangig waren seine heutigen Gegner und er selbst durch die zahlreichen Kämpfe zu fertig. Ein Rascheln an der Zeltplane ließ Gerding aufblicken und auf eine schmale Gestalt im Zelteingang blicken,Thoralf von Breitenquell, den Knappen des Barons von Dunkelsfarn. Der Knabe hatte einen Leinensack in der Hand, aus dem Holzpföcke herausragten. "Hast du Lust auf eine Partie Pölches?" Die leuchtendblauen Augen des gerade der Pagenzeit Entwachsenen blitzten unter dem rotblonden Haar und das ganze Gesicht seines Gegenübers strahlte zu Gerding herüber. Thoralf war für seine nie versiegende gute Laune und seine Begeisterungsfähigkeit geradezu berüchtigt und hinter vorgehaltener Hand munkelten die Greifenfurter Knappen, dass Thoralf wahrscheinlich sogar eine Wunde begeistert begrüßen würde. Wie dem auch sei. Gerding ging die lange Liste seiner heutigen Verpflichtungen durch, stellte fest, dass er hoffnungslos im Rückstand war und wollte schon antworten, als er des Aufruhrs hinter dem Knappen gewahr wurde. "Seid vorsichtig mit seiner Libden!" Gerding entfuhr ein Seufzen, dann, als die Erkenntnis ihn überkam, hellte sich sein Gesicht auf und er sah zu dem wartenden Knaben hinüber: "Anscheinend hat es nun auch Prinz Edelbrecht erwischt. Und wie ich ihn kenne, wird er nicht länger als nötig still liegen und sich den Ärzten beugen. Das heißt..." und hier ging ein Grinsen über das Gesicht des Knappen, "ich werde noch eine gute Sanduhr zu tun haben und dann kann sich genauso gut der Prinz um alles kümmern. Sobald ich mich hier losgeeist habe, komme ich rüber und wir spielen eine Runde. Und vielleicht hat ja auch Karon Zeit und Lust auf eine Partie.

Wissensdurst

Bücherwissen

Rhys ap Rhiapp stapfte munter die Landstraße entlang, mit sich und ganz Dere hochzufrieden. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass seine gestrenge Herrin, Baronin Gunilde von Dergelstein zu Dergelstein ihm tatsächlich einmal zu Studienzwecken Urlaub geben würde. Gut, seit sie und ein paar weitere Edle der Mark unter anderem über einen uralten Folianten mit Sagen und Legenden der Mark gestolpert waren, hatte man ausgemacht, mehr über die dort erwähnten Landmarken zu erfahren. Aber dass dies bedeuten könnte, dass er selbst es sei, der in dieser Angelegenheit durch die Mark ziehen würde, davon hätte er nicht zu träumen gewagt. Vielleicht hatte die ganze Sache auch mit dem Vorschlag der Markgräfin zu tun, ihrerseits der Baronin einen Gelehrten zur Verfügung zu stellen, der die Mytrhen dieses Landstriches untersuchen sollte... auf alle Fälle war er nun unterwegs, begleitet lediglich durch ein Maultier, und vor sich die einladenden Mauern Hesindelburgs. Wie dem auch sei. Während der Geweihte das Tor des Landstädtchens passierte und den im Schatten lehnenden Bewaffneten einen Gruß zusandte, pries er Hesinde und steuerte den Marktplatz an.

Kurz hob Rhys den Blick zu den überkragenden Fachwerkgeschossen der Handelshäuser, die den Platz umschlossen und sich anschickten, die bereits tief stehende Praiosscheibe auszuschließen, dann lenkte er sein Grautier hinüber zu der schlichten aber nichts destotrotz beeindruckenden Fassade des kleinen Hesindetempels des Ortes.

Man hatte die gesamte Vorderseite des Hauses mit hölzernen Schindeln bedeckt, die, einem Schuppenkleid nicht unähnlich, so kunstvoll versetzt waren, dass sie wirkten, als habe sich eine riesige Schlange rund um den Tempel geschlungen. Einzelne Schindeln waren vergoldet worden und bildeten ein Zick-Zack-Muster, welches über die Rückenpartie der Schlange zu laufen schien. Ebenfalls in Schindeln hatte man vom Giebel des Hauses herab den Schlangenkopf nachgebildet, aus dem gerötete Schindeln herausragten und die gespaltene Zunge formten. Bei den Augen des Reptils handelte es sich augenscheinlich um kleine, grüne Butzenglasfenster, von denen der reisende Geweihte annahm, dass sie bei beginnender Dunkelheit sicherlich von innen erleuchtet würden.

Fast zaghaft klopfte Rhys an der, ebenfalls mit Holzschindeln bedeckten, zweiflügligen Tür, neben welcher ein kleines kupfernes Schild hing, welches auf den Namen des Tempels: Nomenklaturia Rohali verwies. Rhys hob eine Augenbraue. Zwar übersetzte man den Namen leichthin mit 'Vom Worte des Heiligen Rohal', streng genommen aber musste es 'die Benennungen des Rohal heißen', ein wirklich schönes Beispiel dafür, dass der Name eines Dings Macht hatte und die Kenntnis eines solchen Namens auch bedeuten konnte, sich das Benamte zu unterwerfen. Und ein Beispiel dafür, dass die Feinheiten der Sprache an das einfache Volk verschwendet waren.

Knirschend öffnete sich einer der Flügel und ein hoch gewachsener Mann trat hervor. Kurz musste sich Rhys zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen. Der Neuankömmling sah aus wie die weniger schmeichelhaften Skulpturen, die man auf den Boronäckern all überall sah. Der Kutte nach handelte es sich um den Tempelvorsteher, einen gewissen Refardeon Scafel, doch dem Aussehen nach hätte diesem auch die Boronkutte gut zu Gesicht gestanden.

"Ihr wünscht?" Die Stimme des Mannes war so tief wie er hochgewachsen war. "Verzeiht, Rhys ap Rhiapp mein Name, ich bin hier im Rahmen einer Recherche." Rhys nickte seinem Glaubensbruder zu: "Ich beschäftige mich mit den Sagen und Legenden der Mark und habe gehört, hier bewahre man einige der wirklich alten Folianten zu diesem Thema auf.

Sein Gegenüber blühte bei diesen Worten sichtlich auf. Die schlaffen Wangen röteten sich, die Augen begannen zu blitzen und die Haltung des Geweihten veränderte sich merklich. Mit stolzgeschwellter Brust sah Refardeon sein Gegenüber an: "Da seid Ihr aber tatsächlich genau an der richtigen Stelle, mein Bruder. Nirgendwo werdet ihr schönere und wertvollere Folianten zu diesem Thema finden, denn in der hiesigen Bibliothek, einer Schenkung der Frau Baronin. Lasst euer Gepäck und euer Tier ruhig hier draußen stehen. Ich werde einen der Akoluthen bitten, es in den Stall zu bringen und Euch eine Kammer fertigzumachen. Inzwischen folgt mir und wir werden zusammen eintauchen in die Welt der Sagen und Legenden aus den Zeiten von Greifenmark und Saljeth."

Und während im Inneren die zwei Gelehrten hinaufstiegen in die von der Abendsonne golden illuminiereten Bibliotheksräume, schallten draußen das heisere Geschreih eines Esels und die unterdrückten Flüche eines Akoluthen über den Platz... wobei letztere zumindest in Bosporano erklangen.

Bildungskanon

  • Zum Meister der Mark kommt ein reisiger Nandusgeweihter und erbittet vom Meister der Mark einen Schutz- und Geleitbrief, der ihm die Tempel der Hesindekirche ebenso öffnen soll wie die Haushaltungen der Adligen. Bredogar verweist allerdings darauf, dass er hier keinerlei Handhabe habe und wenn überhaupt, eher der Illuminatus der Mark entsprechende Befugnisse habe, zumindest was die Tempel angehe.

Bredogar Eustachius von Parsenburg sah von seinem Schreibtisch auf, an dem er während der letzten zehn Minuten ungeachtet seines Besuchers verschiedene Schriftstücke gelesen und ein paar Briefe geschrieben hatte. Sein Besucher hatte sichtlich Probleme gehabt, die lange Wartezeit ruhig zu überbrücken. Immer wieder war er aufgesprungen und zum Fenster gestratzt, um gleich darauf in seinen Umhang zu greifen und ein kleines Kästchen aus Schildpaat zu ziehen, welches aber unter dem geraunten "Hier wird nicht geraucht" seines Gegenübers wieder in den Tiefen des Umhanges verschwand. Anschließend hatte er in ein kleines Büchlein gesehen, dieses sofort wieder weggesteckt und von dem, auf einem Seitentischchen stehenden Wein genippt, nur um erneut aufzuspringen und zum Fenster zu eilen. Und bei all dem hatte es den Anschein gehabt, als würde sich der Meister der Mark nur noch tiefer in seine Angelegenheiten vergraben.

"Eine stattliche Agenda, wenn Sie mich fragen." Der Meister der Mark wies mit dem Kinn kurz zu einer Sammlung Empfehlungsschreiben, die der Besucher ihm bereits vor einigen Tagen mit der Bitte um eine Audienz zugesandt hatte. Der gutaussehende weißblonde Hühne vor ihm nickte bestätigend und richtete die verwässert blauen Augen auf den kleinen Dicken mit der Halbglatze. "Und was genau, kann ich für Sie und die Ihren tun, Werter Herr Thamos Bragaleon von Idajon?" "Euer Gnaden." Die Stimme gegenüber war weich wie ein Daunenkissen. Bredogar musste sich zurückhalten, dass nicht seine Wachsamkeit, wenn nicht mehr, stante pede einschlief. "Da liegt ein Irrtum vor. Euer Exzellenz, der Herr. Mein Amt ist politischer, nicht theologischer Natur." "Ich meinte mich selbst, Euer Exzellenz." Ein deutliches 'In-den-Blick-Nehmen' der Korrespondenz folgte, dann sah der Meister der Mark erstmals auf und seinem Besucher direkt über die dicken Augengläser hinweg ins Gesicht: "Oh, verzeiht, Euer Gnaden. Auf Eurer Karte steht lediglich 'Gelehrter' zu lesen. Ich war mir nicht bewusst, dass ihr von einem der Tempel hierher gesandt seid." "Ich...", der Geweihte wollte augenscheinlich zu einer Erwiderung ansetzen, entschied sich aber dagegen. "Vielleicht sollten wir dieses Geplänklel anseit stellen und stattdessen auf den eigentlichen Grund meines Kommens kommen." Ein leichtes Schmunzeln ob des eigenen Wortspieles kräuselte die Lippen des gutaussehenden Geweihten, während seine Hände wie von selbst in die Umhangtasche flogen, das Schildpattkästchen hervorzogen und sofort wieder verschwinden ließen, ein kompliziert anzusehender Tanz, welcher allerdings ohne anerkennendes Publikum selbst aus den eigenen Reihen blieb. Bredogar nickte, dann sortierte er ein wenig umständlich die vor ihm liegenden Papiere um und zog ein halb beschriebenes Bütten hervor, in das er sich augenblicklich zu vertiefen schien. "Sie brauchen es jetzt nicht zu lesen. Ich kann es auch mündlich vortragen. Das geht schneller." Der Meister der Mark lehnte sich, das plötzlich uninteressant gewordene Schriftstück immer noch in der einen Hand, zurück und blickte dem unruhigen Mann in die Augen. "Ich bitte im Namen der Kirche des Nandus darum, dass mir die Mark in Eurer Hand die Freiheit gibt, die Haushaltungen wie auch die Tempel der Mark zu besuchen und das Wissen und die Erleuchtung überall hinzutragen." "Nun, wenn es weiter nichts ist..." Der Besucher nickte erfreut und beugte sich auf dem ohnehin durch das beständige Auf und Ab schon genug malträtierten Sessel nach vorne. "... dann werde ich Euch wohl nicht helfen können." Der Nandusgeweihte riss erstaunt die Augen auf. "Aber..." "Wie Ihr bereits aufmerksam vernommen habt, erstrecken sich meine Befugnisse mitnichten auf das theologische Gebiet. Somit sind mir bezüglich der Erlaubnis, euch Besuchsfreiheit in den Tempeln zu gewähren - oder, wie Ihr in Eurer Anfrage formuliert habt: 'die Möglichkeit, auch im Namen der Greifin die Tempel zu öffnen und zu inspizieren' - von Seiten der Geistlichkeit Schranken gesetzt. Ein Aspekt, den eure weltoffene Kirche mit ihrer Ausrichtung auch auf das freie politische Wort, weahrscheinlich lediglich nicht im Blicke hatte." Den kurzfristig einsetzenden Widerstand überhörte der Meister der Mark, der sich bereits wieder in den Brief vertiefte, während er weiter ausführte: "Schutz- und Geleitrechte wie hier erbeten, werdet Ihr wohl nicht benötigen. Die Edlen dieser Region sind offene, gottesfürchtige Menschen, die einem Geweihten, so er offen als solcher auftritt, immer Tür und Tor öffnen und Gastung gewähren. Und der einfach Bürger ist viel zu gutgläubig.., als dass er nicht einen Geweihten der Götter sehr hoch achten würde. Wiewohl, ich werde Euch zwei Gewappnete mitgeben, die sich um Euren Schutz sorgen werden." Das kurze Zögern inmitten des Satzes war durch eine kurze Notiz auf einen Zettel überspielt worden, dem ein Zug an der Klingelkette folgte. Der eintretende Sekretarius des Meisters der Mark nahm das Schriftstück an sich und verschwand ohne ein Wort. "Die beiden Gardisten sollten Euch die Reputation verleihen, die Ihrt erbeten habt, selbst wenn sie natürlich kein schriftliches Dokument darstellen." "Ich..." "Euer Gnaden brauchen sich nicht bei mir zu bedanken. Ich versuche nur hilfreich zu sein. Nichtsdestotrotz ersuche ich Euch, den angedachten Wunsch, die Tempel und Klöster der Mark zu besuchen, an Seine Ehrwürden von Dergelstein, den Illuminatus der Mark zu richten. Dies müsste in seine Zuständigkeit fallen." Der Meister der Mark erhob sich hinter seinem Schreibtisch, schob die Empfehlungsschreiben seines Besuchers zusammen und reichte sie diesem in die ausgestreckte Hand. "Und dann wünsche ich Euch, Euer Gnaden, natürlich viel Erfolg bei Eurer Bildungsmission in unserer lieblichen Mark."

Bücherwürmer

  • Anschließend wandert er weiter zum Kloster Rabenhorst, um mit dem dortigen Bibliothekarius Menachion Gluckenhag zu sprechen und das in der Bibliothek befindliche Exemplar des Der Schattenschnitzer - Legenden aus der Mark einzusehen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass kurz zuvor ein Nandusgeweihter die Bibliothek besucht und gezielt nach der hier befindlichen steinernen Säule gefragt hat.

Die Sicht war großartig. Rhys ap Rhiapp blickte über die weite Landschaft hinweg, die sich unterhalb des Klosters Rabenhorst ausbreitete wie ein aufwändig geknüpfter Teppich. Hier oben, direkt unterhalb des hoch aufragenden Nebelsteins, schmiegte sich das Kloster an der Bergflanke an und schaute weit über das Hesindelburger Land hinaus. An schönen Tagen meinte man gar das Schimmern Gareths weit in der Ferne zu erahnen. Nur mühsam riss sich der schmächtige Mann von dem Anblick los und betrat über den ausgefahrenen Karrenweg die eigentliche Burganlage, an den hoch aufragenden Torflügeln vorbei.

Nachdem er sich bei dem hageren Torwächter ausgewiesen und die ihm aufgetragenen Grüße an den Abt des Klosters, Rabanus Falk von Krähenklamm, ausgerichtet hatte, ging es in der über der gesamten Burg lastenden Stille am Kräuterbeet vorbei in die Schreibstube und von dort vom leisen Knarzen der Schreibfedern gegrüßt, hinunter auf der gewundenen Stiege, die herab in die Klosterbibliothek führte. Beeindruckt blieb der Secretarius der Baronin von Dergelstein stehen, als sich ihm der unterirdische Raum auftat. Direkt vor ihm inmitten des Blickfeldes ragte eine über und über mit Reliefs ausgestaltete Säule zum Kreuzgewälbe herauf. Miniaturisierte Gestalten schienen mit altertümlichen Waffen aufeinander einzuhacken, wobei die Steinränder bereits derartig abgenutzt waren, dass man an den meisten Stellen nur erahnen konnte, um was es sich tatsächlich handeln mochte. Als man das Kloster Rabenhorst an dieser Stelle errichtet hatte, hatten die zuständigen Bauleute die Ruinen eines uralten Tempels unter wildestem Gestrüpp gefunden und nachdem alle Betzeiligten darin überein gekommen waren, dass es sich hierbei zwar um einen historischen, nichtsdestotrotz wohl dem Zwölfgötterpantheon zuzuordnenden Tempel handeln müsste, hatte man die noch vorhandenen Steine und Mauerreste im neuen Gebäude verbaut. Das beeindruckenste Relikt eben jenes Tempels war diese Säule gewesen, wohl ein Teil der uralten Krypta des vorherigen Tempels und so schwer, dass man sie beim besten Willen nicht hatte bewegen können. So hatte man hier an dieser Stelle die vorhandenen Mauern genutzt und ein Archiv geschaffen, um das der Sekretarius die hiesigen Mönche glühend beneidete. Anerkennend hob er den Blick auf die Abschlusssteine in den hoch gewölbten Rippen der Deckenkonstruktion, dann besah er sich die steinernen Einfassungen, welche - wie auch immer ihr vorheriger Zweck gewesen sein mochte - nun die uralten Pergamentrollen und Folianten beherbergten, die man aus verschiedenen Richtungen an diesem Ort zusammengeführt hatte.

Erst nach einer geraumen Weile fiel sein Blick auf ein zusammengefaltet dasitzendes Männlein in der Kutte eines Ordensbruders der Etilianer, welches einen merkwürdigen Stab über die Seite eines überaus dicken Quartbandes bewegte. Der Stab bestand zur Gänze aus durchsichtigem Material, höchstwahrscheinlich Bergkristall, und war wie ein Prisma geformt. Nur kurz überlegte der Hesindegeweihte, ob er den Gelehrten stören sollte, indes hielt er es für eine Sache der Höflichkeit, den Vertieften auf sich aufmerksam zu machen. So trat er näher an das Stehpult heran, über das sich das Männlein gebeugt hatte. Angemessen leise räusperte sich Rhys, dann redete er den Mann unwillkührlich flüsternd an: "Verzeihung, Euer Gnaden, ich möchte Euch nicht stören, aber..." Die Gestalt hob den Kopf und blickte Rhys aus Augen an, deren linke Iris seltsam grau schimmerte, als wabere ein Nebel hinter der Pupille. Ein flüchtiger Blick hin zum Buch zeigte dem Sekretarius, dass der Bewrgkristall augenscheinlich dem Zwecke der Vergrößerung diente. "Genau dies macht ihr gerade." Die Stimme des Alten war wie das Krächzen einer Nebelkrähe, heiser und brückig. "Nun," versuchte es der Geweihte ein weiteres Mal, "mein Name ist Rhys ap Rhiapp und ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch, welches ich unendlich gerne einsehen würde, interessiert mich doch sehr, wie sich die dort verzeichneten Geschichten von denen in einer Schrift unterscheiden, welche ich unter geheimnisvollen Umständen vor gar nicht allzulanger Zeit erhielt." Auf dem Gesicht des Bibliothekars breitete sich die typische Neugier des Wissenschaftlers aus, während zugleich ein nachdenklicher Ausdruck die Stirn umschattete. "Und es handelt sich um das in dieser Bibliothek befindliche Exemplar des Schattenschnitzers wage ich zu behaupten." Rhys blieb die Spucke weg. "Woher wisst ihr...?" Sein Gegenüber lächelte ein wenig, dann wandte er sich um und trat zu einem der steinernen Bücherregale, um aus diesem einen in altersdunkles Leder geschlagenen Quartband zu entnehmen. "Den letzten Besucher empfing ich hier unten vor nicht einmal acht Tagen. Ein Nandusgeweihter hatte sich, wie es schien, in den Finsterkamm verirrt und war so auf unser Kloster gestoßen. Interessiert an allem, was mit Bildung zu tun hat, wie es ihre Art ist, fackelte er nicht lange und ersuchte um eine Besichtigung von Schreibstube und Archiv. Und hier angekommen wollte er gar nicht mehr gehen, angesichts der alten Schriften und vor allem angesichts der Säule, welche es ihm augenscheinlich ganz besonders angetan hatte. Er erbat sich, Pauszeichnungen anfertigen zu dürfen und die Geschichte der Säule zu erfahren. Ich verwies ihn auf genau jenes Buch, nach dem Ihr mich gerade gefragt habt, Euer Gnaden." "Ein Zufall." "Die Zeit hat mich gelehrt, dass es keine Zufälle gibt. Wie dem auch sei. Ich gewann den Eindruck, er fand nicht das, was er suchte." Aud den fragenden Blick Rhys hin huschte ein weiteres Mal ein kleines Lächeln über das Gesicht des Mannes, dann fuhr er fort: "Er blätterte das Buch erst langsam, dann immer schneller durch, ohne sich Notizen zu machen. Und letztlich dauerte sein Besuch nicht viel länger. Kurz fragte er noch, ob ich weitere Erkenntnisse bezüglich der Säule habe, was ich allerdings verneinen musste, dann verließ er augenscheinlich ein wenig frustriert Archiv und Kloster in der Richtung, aus der er gekommen war." Rhys hatte mit wachsender Verwirrung zugehört. Schließlich brach es aus ihm heraus: "Woher wissen Sie, dass er in der selben Richtung verschwand? Sie sind ihm doch sicherlich nicht gefolgt." Dass er sich vor allem nicht vorstellen konnte, dass dieser Mann in der Lage gewesen wäre, dem Verschwindenden mit dem Blick zu folgen, behielt er für sich. Sein Gegenüber sah ihn schmunzelnd an: "Euer Gnaden, meint Ihr wirklich, nur weil dies ein Kloster des schweigenden Herren ist, würden sich hier Ereignisse nicht weitertragen und Geheimnisse bewahren lassen? Wir leben hier weit ab von aller Zerstreuung der großen Städte, da ist man dankbar für alles, was geschieht. Eure Ankunft, zum Beispiel, war den Brüdern in den Türmen bereits bekannt, bevor Ihr überhaupt den Bergpfad verlassen hattet. Und da Ihr seid, was ihr zeigt," der Blick des Etilianers glitt beredt über Rhyss Robe, "war ebenso klar, dass es nur eine Frage von Herzschlägen sein würde, bis Ihr Eure Schritte hier hinab lenken würdet." Rhys nickte verstehend. Auch wenn Dergelstein mitnichten ein so einsamer Ort wie dieser war, war der Weg der Informationsverbreitung hier wie dort gleich. "Und was steht in diesem Folianten über die Säule?", wollte er wissen. "Da müsst Ihr selber lesen. Ich für meinen Teil habe zu tun." Und mit dieser endgültigen Feststellung trat der Bibliothekar wieder zurück hinter sein Stehtpult und ließ Rhys mit dem alten Folianten und einem gerüttelten Maß an Neugier zurück.

Bildungsbürgertum

  • Nandusgeweihter trifft auf Nasar, den Hauptmann der Bannstrahler und versucht diesen, als ebenfalls einem Halbgott verbunden, auf, ihm zu helfen. Er verweist zudem auf dessen augenscheinliche Rivalität zu Illuminatus der Mark und erbittet Unterstützung. Diese wird nicht gewährt. Als sich Idajon umwendet, um Nasar zu verlassen, erhält dieser eine Vision...

Der Wagen ratterte schlingernd auf dem Kopfsteinpflaster vorbei, während der Knabe schwitzend sein Schwert über den Kopf schwang, die Zähne zusammengebissen und einen Ausdruck auf dem Gesicht, als plane er, sein Gegenüber ungerammt in den Boden zu spitzen. Den aufeinander gepressten Lippen entfuhr ein Grunzlaut, während er nach vorne stürzte und die Waffe mit martialischer Gewalt herabsausen ließ... zumindest mit der martialischen Gewalt, zu der ein schmächtiger Dreizehnjähriger fähig war, was letztlich zumindest einen Anfang darstellte. Das Metall prallte hart auf, wurde aber kontrolliert abgelenkt und wischte seitlich nach unten, während die gegnerische Waffe einen Bogen beschrieb und mit voller Wucht gegen die Schulter des Jungen prallte... gut, so viel Wucht, wie ein voll ausgebildeter und meisterlicher Kämpfer zuließ, um seinen Schüler nicht zu verletzen aber mit einem äußerst schmerzhaften blauen Fleck darauf hinzuweisen, dass er in Zukunft würde vorsichtiger sein müssen.

Trotzdem traf der Schlag weit schmerzhafter, als er gemeint war. Vielleicht eben weil der Junge wusste, dass sein Lehrmeister nicht alle verfügbare Kraft und Schnelligkeit eingesetzt hatte, um ihn zu schonen. Oder aber weil sein Lehrmeister noch nicht einmal erhitzt war. Oder weil er gegen das Langschwert mit einem einfachen Stab aus Steineichenholz kämpfte, der lediglich an den Enden mit einer metallenen Ummantelung versehen war, um ihn auszubalancieren und ihm mehr Schwung zu verschaffen. Oder auch nur deshalb, weil sein Lehrmeister blind war und ihn trotzdem wie ein Welpen zusammenprügelte.

Nasar, Hauptmann der Bannstrahler und 'Beschirmer der Ordnung Greifenlande zu Greifenfurt' verharrte locker mit gebeugten Knien, den Stab ausbalanciert vor sich in der Luft, die nutzlosen Augen geschlossen, alle Sinne bis zum Äußersten angespannt. Sein Knappe seufzte und hob erneut das Schwert, ließ es aber wieder sinken, als er den Gesichtsausdruck seines Meisters wahrnahm. Dieser hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und es schien fast, als wittere er. Hjalmar stand lange genug in den Diensten Nasars, um die Zeichen zu deuten. Flink sah er sich auf dem Übungshof vor dem Greifenfurter Bannstrahlerturm nach allen Seiten um, während er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sein Meister den Stab sachte auf den Boden stellte, als diene er lediglich dazu, einem Blinden Krücke und Auge zu sein.

Einmal hatte er Nasar deshalb zur Rede stellen wollen, immerhin konnte man dieses Verhalten ja durchaus als Täuschung auffassen, doch der hagere Mann hatte nur in sich hinein gelächelt und einen dieser kryptischen Sprüche vorgebracht, die sein Knappe, Lehrling und Schüler mehr zu fürchten gelernt hatte als alles Andere. Denn meistens hatten die Rätselworte keine offensichtliche Lösung, blieben aber trotzdem oder gerade deshalb wie beste Pechackerner Schmiere im Gedächtnis kleben und beschäftigten einen, bis man es vermeindlich geknackt hatte, nur um auf Nachfrage in einer Richtung erweitert zu werden, an die man noch überhaupt nicht gedacht hatte.

Damals hatte Nasar gemeint, er täusche sein Gegenüber ja gar nicht. Dieses sehe im Gegenteil letztlich aus sich selbst heraus nur das, was es sehen wolle. Und weil seine Phantasie nicht ausreiche, in dem Stab eines Blinden etwas anderes zu sehen als eine Gehhilfe, müsse er doch nicht auf weitere Verwendungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Schließlich stelle Praios auch lediglich seine Sonnenstrahlen zur Verfügung, damit man die Welt im rechten Licht betrachten könne. Wie man aber das, was man sehe, interpretiere und wie man hierauf seine Handlungen ausrichte, dies schreibe der Götterfürst niemandem vor sondern belasse es jedem Einzelnen, aus eigenen Fehlern und eigener Betrachtung zu lernen.

Hjalmar hatte sich sein Leben als Knappe wahrlich anders vorgestellt. Und auch seinen Lehrmeister hätte er sicherlich nicht ausgesucht. Und doch war da etwas an diesem asketischen Mann mit der spiegelnden Glatze und den milchweißen Augen, das ihn genauso fesselte wie die Rätselsprüche oder die Frage, warum dieser Blinde trotz allem in der Lage war, jede seiner Bewegungen vorauszuahnen, ehe er selbst sich dieser überhaupt bewusst war.

In dem langen Jahr, welches er nun schon hier im Bannstrahlerturm weilte, hatte der Knabe gelernt, den Ahnungen seines Herrn zu vertrauen und in dessen kleinsten Gesten zu lesen. So konnte er dessen Aufmerksamkeit ohne Probleme hin zu einer Gestalt folgen, die sich, einen augenscheinlich schweren Tornister auf dem Rücken, quer über den Hof zögerlich näherte, während sie suchend nach links und rechts blickte. Woher sein Meister geahnt hatte, dass sich dieser Mann... "Wenn du genau hinhörst, so haben alle Waffengänge, die hier ausgefochten werden, ihren ihnen eigenen Rhythmus und Tanz, an denen ich ohne Weiteres unterscheiden kann, wer sich da gerade einen Übungskampf liefert. Das leichte Hinken dort hinten zum Beispiel wird Pranjane sein, der schwere Schritt dort drüben, gepaart mit dem heiseren Keuchen beim Schlag Ucurion. Und wenn du diese Übungen als Symphonie ansiehst, wie ich es tue, dann kannst du hören, wenn sich plötzlich die Töne ein wenig verschieben, weil die Kämpfer jemandem ausweichen müssen, der ihren Weg kreuzt. Der Jemand ist somit ernst genug zu nehmen, dass man ihm Platz macht, aber nicht bedrohlich oder ungewöhnlich genug, dass man den Kampf abbricht." Nasar raunte seinem Knappen die Erklärung zu, als habe er die Gedanken des Jungen lesen können. Hjalmar lief eine Gänsehaut über den Rücken. Jeder wusste, dass Nasar immer wieder Visionen von seinem Herrn empfing, doch wenn es nach Hjalmar ging, wäre dies überhaupt nicht nötig gewesen, um den Ruf des Bannstrahlers zu festigen, mit den blinden Augen weit mehr zu schauen als ein Sehender. Ihm war es grausig unheimlich, wie sein Lehrherr scheinbar mühelos auch noch seinen intimsten Gedanken zu lesen verstand.

Der Mann, der sich ihnen nun auf direktem Wege näherte, trug die Kleidung eines Geweihten der Nanduskirche, wenn Hjalmar in seinem Wissen um Götter und Kulte nicht vehement falsch lag. Dazu passte auch die dicke Lederrolle, die sich der Mann neben seinem Ranzen umgehangen hatte und die sicherlich einen fulminanten Stapel an Pergamenten enthielt, sowie die Schreibfeder, die er sich hinter sein Ohr geklemmt hatte und die bei jedem seiner nun plötzlich energischen Schritte munter auf und ab wippte. Augenscheinlich hatte der Fremde in ihnen sein Ziel gefunden.

Endlich hatte der Mann sie beide erreicht und nickte dem Knappen freundlich zu, während er sich gleichzeitig sammelte, um nach einem kleinen Räuspern den Hauptmann der Bannstrahler anzusprechen: "Thamos von Idaijon mein Name, Geweihter des Nandus, Sucher und Finder, Gelehrter im Namen der Kirche. Verzeiht, aber seid ihr zufällig Nasar, der 'Beschirmer der Ordnung Greifenlande zu Greifenfurt'? Und wäre es, wenn dem so wäre, möglich, dass Ihr mir eine kleine Zeit unter vier Augen gewährt?" Hjalmar zuckte ein wenig unter dem Redeschwall des hoch gewachsenen Mannes zusammen. Sein Herr neigte zu gegenteiligem Verhalten und sprach, wenn überhaupt, überlegt, langsam und nie mehr als wirklich nötig... es sei denn, er hatte ein neues Rätselwort für seinen Knappen.

"Nun, um ehrlich zu sein: nein, ja und letztlich schwer zu sagen." Hjalmar biss sich verzweifelt auf die Unterlippe, um nicht über das gesamte sommersprossige Gesicht zu grinsen, während er zu Boden starrte. Der Nandusgeweihte stockte in seiner Bewegung und - so weit es Hjalmar aus seiner zum Beobachten doch recht ungünstigen Lage heraus beurteilen konnte, starrte den Bannstrahler ungehörig lang an. Sicherlich kräuselte sich auch seine Oberlippe und wahrscheinlich stellte er irgendetwas mit einer seiner Augenbrauen an.

Schneller als der Knappe erwartet hätte, fing sich der Geweihte wieder und räusperte sich. "Ihr meint?" "Ich bin Nasar, dabei spielt kein Zufall mit. Und wir können uns gerne zu einer Tasse Tee und einem Gespräch zurückziehen, so Ihr dieses andachtet, wobei ich meines Knappen bedürfte, um die notwendigen Schritte der Teezubereitung durchzuführen, was sechs Augen bedeuten würde, wobei es einer genauen Definition bedürfte, ob man die meinigen ob ihres Zustandes tatsächlich noch als Augen im eigentlichen Sinne bezeichnen kann. Dies wiederum würde die Anzahl der Augen auf die geforderte Zahl von vier zurücksetzen." Kurz zögerte Thamos von Idaijon, dann nickte er zum Einverständnis, nur um direkt im Anschluss dies noch einmal verbal nachzuschieben. Immerhin war er von der Blindheit seines Gegenübers überzeugt.

Auch hierzu hatte Nasar seinem Schützling einiges an Ausführungen zuteil werden lassen mit der Quintessenz, dass Blindheit letztlich überhaupt nichts mit den Augen sondern vielmehr mit Geisteskraft zu tun habe, doch der Knappe war erfahren genug, um dahingehend einfach den Mund zu halten, die Herren zu begleiten und seine Ohren gespitzt zu halten. Er wusste schon jetzt, dass Nasar nach dem Weggange des Fremden eine genaue Einschätzung Hjalmars fordern würde, inklusive genauer Beschreibungen, wie und aus welchen Beobachtungen heraus er zu seinen Überlegungen gekommen sei.


Der Tee war schnell bereitet und zog in einer großen bauchigen Kanne, während Hjalmar Teegläser bereitstellte und ein wenig Rosinen in kleine Schüsselchen füllte. Er hielt sich im Hintergrund, während die beiden Gesprächspartner sich zuerst eine geraume Weile anschwiegen, wie sich das für eine ordentliche Konversation gehörte. Während der nun folgenden ersten Schlucke sprach man über Belanglosigkeiten und tauschte sich über Straßenverhältnisse und Reiseanekdoten aus. Endlich aber stellte jener Thamos sein Teeglas aus der Hand und blickte vor sich, als suche er den Anfang eines Gesprächsfadens. "Wir beide haben uns den Göttern verschrieben. Ihr dem Götterfürsten, ich dem Sohn zweier Götter. Unserer beider Kirchen eint zudem der Glaube daran, dass die Menschen ausgebildet werden sollen, die Gebote der Götter und deren Weisungen zu verstehen und zu begreifen. Sie sollen - verzeiht mir diese Floskel - zur Erleuchtung geführt werden."

Hjalmar zuckte innerlich zusammen. Abgesehen davon, dass er dem Geschwafel des Geweihten nur mit Mühe folgen konnte, schien dieser in dem Versuch, die gemeinsamen Interessen herauszustellen, wesentliche Unterschiede beider Kirchen schmählichst zu vernachlässigen. Er sprach über die Bedeutung von Wissen als Grundlage der Beurteilung von menschlichen Handlungen, nur um sogleich thematisch zur Notwendigkeit zu springen, Artefakte und alte Schriften sicherzustellen, dass sie nicht in unwissende Hände gerieten. Und dann verwies er plötzlich auf die stadtbekannte Rivalität zwischen Nasar und dem Illuminatus der Mark und der Möglichkeit Nasars, jenem ein wenig Ungemach zu bereiten, wobei alles in rechtlich einwandfreien Bahnen bliebe. Er solle Thamos lediglich beauftragen, im Namen des Bannstrahls Artefakte und Schriften sicherzustellen, welche er nach einer eigenen Abschrift Nasar übergeben wolle, damit dieser sie in die Obhut der Kirche nach Auraleth verbringen und sich so das Lob der Kirche und ein wenig Neid seitens des Dergelsteiners erhaschen könne.

Hjalmar mühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zur Schau zu tragen. Die Vorgehensweise des Nandusgeweihten widersprach so entschieden der Politik, welche Nasar hier im Bannstrahlerturm verfolgte, dass es schlimmer nicht sein konnte. Wie konnte Thamos auch nur im entferntesten annehmen, Nasar werde sich in ein derartiges Spiel einlassen. Dann plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich mit einigen der alten Kämpen hier in Greifenfurt über seinen Herrn unterhalten und von diesen Bannstrahlern sagen lassen, dass Nasar vor seiner Erblindung bei einem Steinmonument namens Peraines Nadel ein von Standesdünkel und Ehrgeiz zerfressener Mensch gewesen sei, dass aber die Versehrung der Augen und die plötzlich einsetzenden Visionen Nasar zur Gänze gewandelt hätten. Wahrlich, insgeheim war Hjalmar heilfroh darüber, diesem neuen Nasar zu dienen und nicht seinem Vorgänger.

Nachdem der Hauptmann der Bannstrahler sich die erschöpfend langen Ausführungen des Nandusgeweihten schweigend angehört hatte, entschuldigte er sich in kurzen Worten, um abschließend die Bitte rundheraus abzulehnen. "Wir unterstehen letztlich trotz aller Rivalität, die man uns andichten mag, dem Illuminatus von Greifenfurt. Ihm sollte Eure Bitte gelten, zumal sein Sigulum euch Tür und Tor weiter öffnen dürfte und auch die Gesichter der hier Lebenden weniger mit Furcht und mehr mit götterergebener Freude zieren dürfte, als dies meine Unterschrift jemals könnte."

Kurz befürchtete Hjalmar, Thamos, dessen Gesicht sich unter den kurzen aber klaren Worten Nasars stark gerötet hatte, könne es an der notwendigen Zurückhaltung mangeln lassen und tatsächlich schien der Nandusgeweihte kurz mit sich zu ringen, während er sich erhob. Dann jedoch bedankte er sich fast unfreundlich knapp und verließ das Zimmer des Hauptmannes.

Hjalmar wollte schon seinen Herrn ansprechen, als dieser plötzlich zusammenzuckte, seine Hände vor die Augen presste und aufkeuchte. Sein ganzer Körper erbebte, während er in kurzen Stößen die Luft einsog und nachgerade wieder ausspieh. Dann, eine Ewigkeit schien vergangen, obwohl sicherlich nur ein paar Sekunden verstrichen waren, fiel der ausgemergelte Mann in sich zusammen, gerade eben noch aufgefangen durch den schmächtigen Jungen, welcher just zu diesem Zwecke das gerade abgewaschene Teeglas aus der Hand hatte fallen lassen. Wie von Ferne vernahm er die flüsternde Stimme seines Herren und doch prägten sich die Worte in seinem Geist ein, als seien sie hineingemeißelt: "Ein Stein, groß wie ein Berg, darauf der Greif. Und um ihn herum, wie wimmelnde Ameisen, Schwarzpelze. Dunkle Wogen, aus denen der Fels zerklüftet sticht, Welle um Welle brechend, doch endlos der Ozean. Und die Flanken des Greifen zieren die Banner der Mark wie das Banner der Donnerherrin. Doch der Stein färbt sich rot und es ist nicht der stinkende Brodem des Orken... Kämpft, Brüder, kämpft für die Götter. Kämpft für die Greifen. Denn die Orken, die Orken kommen!!!"

Bücherverbrennung

  • Als Rhys ap Rhiapp im Kloster des Praios und der Peraine in Hexenhain vorbeischaut, muss er feststellen, dass einige der dortigen Folianten verschwunden sind. Der dortige Scriptor Dappert Altgruber ist selbst überrascht, war ihm dies doch noch nicht aufgefallen. Allerdings gab es zwei Tage zuvor ein kleines Feuer in einem Schuppen am anderen Ende des Klosters, als eine größere Pilgergruppe im Hause weilte. Damals ist die ganze Gemeinschaft mit Löscharbeiten beschäftigt gewesen und auch Dappert ist schnell aus der kleinen Bibliothek gerannt, um zu helfen.


Rhys ap Rhiapp sah sich in dem Gelass des Klosters des Praios und der Peraine um. Dies also entsprach dem, was andernorts die Bibliothek sein sollte. Ein leichtes Grinsen legte sich über das Gesicht des Hesindegeweihten.

Im Raum standen mehrere Regale vollgestopft mit Bürchern, Pergamenten und Schriftrollen. Im Halbdunkel lagen auf zwei kleinen Borden dicke Folianten, deren Ledereinbände mit Staub bedeckt waren. So sah also das Reich des örtliche Hesindegweihten aus, der anscheinend mehr den alltäglichen Aufgaben der Ausbildung der Novizen angetan war, als der Ordnung in seiner Bibliothek. Aber es war ja auch kein Kloster der Hesinde, in dem er sich hier befand, sondern eines des Praios und der Peraine, da gab es andere Prioritäten.

Am Tage seiner Ankunft hatte Rhys einen außerordentlich guten Eindruck von diesem Kloster bekommen. Die Brüder und Schwestern des Praios und der Peraine hatten hier der Wildnis mit viel Mühe und Schweiß eine Heimstatt abgerungen, den Zwölfen zum Wohlgefallen. Die Klosteranlage erstreckte sich auf einem kleinen Hang, dessen eine Seite steil zum Blauwasser abfiel. Von einer kleinen Steinmauer umgeben, standen hier das Hauptgebäude mit dem Tempel, dem Dormitorium und dem Scriptorium. Nach einem kleinen Innenhof folgten die Wirtschaftsgebäude, eine kleine Schmiede und die Ställe. Neben der Schmiede hatte Rhys einen kleinen Schuppen entdeckt, dessen Dach in Teilen verkohlt war. Überall hatte konzentrierte Betriebsamkeit geherrscht, die auf einen strengen und ordnenden Geist schließen ließ. Zwei Brüder waren gerade dabei, die verbrannten Bretter des Schuppendaches auszutauschen.

Nach seiner Ankunft hatte er umgehend um eine Audienz mit dem Prior gebeten und diese auch erhalten. Das Gespräch mit dem ehrwürdigen Scraanfried Schoberstein war zufriedenstellend verlaufen. Er hatte ihm die nötige Unterstützung sofort zugesagt.

Doch dann war er von einem Novizen im hinteren Teil des Scriptoriums in dieses Gelass geführt worden und der Anblick hatte ihn ernüchtert, ihn aber auch hoffnungsvoll gestimmt. Hier würde er vielleicht Glück haben, denn diese Unordnung konnte auch bedeuten, dass er hier auf noch unendecktes Wissen stoße könnte.

Ein Quietschen der Türangeln ließ ihn herumfahren. Vor ihm stand ein Mann mittleren Alters. Er hatte wohl schon vierzig Sommer gesehen und trug das einfache Gewand eines Bruders der Herrin. "Hesinde zum Gruße, Bruder im Geiste", begrüßte er den Ankömmling und verneigte sich leicht.

Dappert Altgruber reichte ihm eine von eingetrockneter Tinte leicht verschmutzte Hand und wies mit der Linken auf einen kleinen Tisch, an dem zwei Stühle standen. Auf dem Tisch stand eine Sturmlaterne, die neben den kleinen Fenstern die einzige Lichtwelle im Raum darstellten. "Wie kann ich Dir im Namen der Herrin behilflich sein?"

Rhys neigte leicht den Kopf und setzte sich auf den angebotenen Sitz. "Mit wurde durch glückliche Fügung und die Güte meiner Herrin eine alte Legendensammlung der Mark in die Hände gespielt, worauf ich auf die Idee kam, die alten, noch irgendwo verzeichneten Sagen und Legenden Greifenfurts zusammenzutragen, ehe sie zur Gänze verloren gehen können. Und so bereise ich im Augenblick die Baronien und Klöster und suche nach alten Handschriften und Folianten, in denen eben jene Geschichten und Mythen verzeichnet sind. Und dies bringt mich somit auch in dieses Kloster und zur Frage, ob sich solcherart Schriften in Eurem Besitz befinden."

Dappert lächelte weise, wobei er allerdings entschuldigend den Kopf schüttelte. "Leider kann ich dir da nicht weiterhelfen. Unser Bestand umfasst ausschließlich theologische Schriften und ein paar Grundgrammatiken des Bosparano, sieht man von einer Sammlung von Reiseberichten aus dem Besitz des alten Barons Imladris von Weißenfels ab."

Rhys Stirn legte sich in Falten. "Reiseliteratur?" "Nun ja, uralte Schwarten wie die Reisememoiren von Sanin I. der seinerzeit den Großen Fluss bis Ferdok erkundete oder die Reise des Geweihten der Paranja 'Hudilbert von Hzsalko' durch die Lande des Prajan und der Paranja."

"Hmmm. Mitunter enthalten solche Schriften auch Verweise auf lokale Besonderheiten und den sich um sie rankenden Mären. Kann ich sie vielleicht mal sehen?"

Dappert erhob sich und orientierte sich kurz. "Das sollte kein Problem darstellen. Wartet einen kleinen Augenblick." Und damit steuerte er ein kleines, im hintersten Winkel des Raumes stehendes Regal an, vor dem er in die Hocke ging.

Kurze Zeit war nur das Blättern von Pergament und das Knarren von alten Leder zu hören, dann richtete sich der Geweihte wieder auf und sah zu Rhys hinüber. "Das ist nun wirklich eigenartig." "Wie meinen, Bruder?" fragte Rhys.

"Na sie sind nicht mehr da, sind sie nicht. Verzeiht, doch trotz der Unordnung die hier herrscht, ich kam in den beiden letzten Wintern nach meiner Ankunft hier nicht dazu, den Bestand zu katalogisieren, weiß ich, dass die Originalabschriften hier hinten gelagert waren, Bruder."

Er erhob den Zeigerfinger mit trotzigem Blick.

"Ganz genau sogar, waren es doch wie bereits gesagt, die einzigen nicht theologischen Bücher. Bei Der Herrin Hesinde, wer kann sie nur genommen haben? Außer mir, der Subpriorin Heline und Prior Scraanfried hat niemand Zutritt zu diesen Räumen." Bei der Nennung des Namens der Subpriorin war ihm eine leichte Röte in die blassen Wangen gestiegen.Rhys konnte nicht umhin, eine unbeantwortete Romanze zu wittern. Nun, das war eine Sache der Rahja und die würde sich sicherlich selbst um diese Geschichte kümmern wollen...

"Und beiden Genannten hätten mich sicherlich über eine Entnahme informiert." Rhys kratzte sich abermals am Kopf und runzelte die Stirn. "Aber wer sollte hier in diese Bibliothek einbrechen und Folianten stehlen?" Im Gesicht seines Gegenübers spiegelte sich Rhys Ratlosigkeit wieder. "Es weiß ja wahrscheinlich noch nicht mal irgendwer, dass hier überhaupt Schriften lagern." Dappert nickte bestätigend mit dem Kopf. "Zwar verirrt sich manchmal der ein oder andere Pilger, der aus dem Tempel falsch abgebogen ist und auf einmal im Scriptorium steht, aber Gelehrte Leute wie du es bist, Bruder, hatten wir seit einigen Götterläufen nicht mehr da." Rhys nickte verstehend. "Und sicherlich sind solche Fehlgänger so selten, dass sie kaum der Erwähnung wert sind." Dappert nickte bestätigend: "Abgesehen von der Wittib vor fünf Götterläufen und dem Kerl vor drei Tagen fiele mir keiner ein. Und der Kerl war mit einer riesigen Pilgergruppe unterwegs und suchte den Abort. Das war kurz bevor drüben der Schuppen neben dem Backhaus in Flammen aufging." Rhys zuckte die Achseln. "Fehlt sonst noch etwas?" Nun war es an Dappert, etwas irritiert zu gucken. "Tatsächlich. In dem Regal dort drüben fehlt... nun ja... meine Lieblingsbuchstütze." Rhys Blick sprach Bände: "Deine Lieblingsbuchstütze?" Verlegen wandte der Scriptor sich einem Regal zu und entfernte akribisch Staub, während er erklärte: "Ach, das war ein etwa faustgroßer Stein, den ich in der Sakristei gefunden habe. Stammt wohl ursprünglich aus der Krypta oder aus dem Schrein, der in alter Zeit an dieser Stelle stand. Uralt und schon sehr abgenutzt, aber man konnte ganz deutlich eine kleine geringelte Schlange oder so etwas ausmachen."

Bildungsmisere

Wann immer er hier vorbeikam, es fiel ihm schwer, nicht beeindruckt zu sein. Vor ihm loderte die Statue des Greifen, der dem Tempel seinen Namen gegeben hatte, blutrot auf, als loderten um seinen Sockel Flammenlanzen - Reflexionen der Praiosstrahlen, die durch die farbigen Fenster geworfen und durch kunstvoll ausgerichtete Spiegel und Messingplatten in der Mitte des weiten Runds gebündelt wurden. Der Meister der Mark war alles andere als ein Schwärmer, aber hier, in der großen, von exotischen Düften und alveranischen Chorälen durchzogenen Halle, konnte es durchaus passieren, dass sein akkurater Schritt stockte und er innehielt, weil sich ihm ein kleiner Schatten auf die Seele legte und seine Augen unerklärlicher Weise plötzlich tränten.

Bredogar Eustachius von Parsenburg steuerte auf den Zugang zur Sakristei zu, von keinem der überall herumstiebenden Praiosdiener aufgehalten. Er erweckte den Eindruck eines Mannes, der ganz genau wusste, wohin er sich wenden musste. Und da dies im Tempel des Herrn völlig ungewöhnlich war, ignorierte man ihn der Einfachheit halber.

Kaum hatte er die Sakristei erreicht und betreten, als ihm auch schon der Sakristan des Tempels in den Weg trat. "Exzellenz, womit kann dieses bescheidene Haus dienen?"

Der Meister der Mark blickte das Hindernis ungnädig an. "Für jemanden, der sich der Wahrheit verpflichtete fühlen sollte, habt Ihr gerade eine kapitale Lüge formuliert."

Über das Gesicht des Hühnen flog ein Lächeln, während er mit tiefer Stimme erwiderte: "Oh, Exzellenz, gerade Ihr solltet wissen, dass es immer auf die Verhältnismäßigkeit ankommt. Und im Vergleich zum Tempel des Lichtes ist der hier gezeigte Reichtum wahrlich überschaubar..."

Bredogars Gesicht verzog sich sauertöpfisch, während er scheuchend mit der Hand wedelte: "Papperlappapp. Genug der Worte gewechselt. Seine Ehrwürden erwarten mich."

Der Sakristan neigte leicht den Kopf, dann schnippte er kurz mit dem Finger, worauf ein Zaunlättchen von Knaben hinzustob, die kupferroten Haare streichholzkurz, das Gesicht nahezu eine einzige riesige Sommersprosse. Dürr und kurz wie er war glich der Bursche doch dem riesenhaften Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Er war in eine einfache Novizenrobe gehüllt, die an allen nur erdenklichen Stellen an ihm schlackerte.

"Führe Seine Exzellenz zu Seiner Ehrwürden, Cuneman."

Der Knabe verbeugte sich kurz, dann eilte er auf bloßen Füßen vor dem Meister der Mark her, dass sich dieser beeilen musste, Schritt zu halten. Es ging mehrere schmale Wendeltreppen hinauf und in schwindelerregender Höhe auf einer Galeria direkt unterhalb der hohen Tempelkuppel hinüber in einen anderen Teil des Tempels. Erstaunt gewahrte der Meister der Mark eine Reihe von beschädigten Skulpturen und Möbelstücken, die man hier in luftiger Höhe und außerhalb des Blickbereiches der Tempelbesucher augenscheinlich abgestellt und vergessen hatte. Einige Durchgänge öffneten sich zu kleinen Kammern, in denen Akoluten Werkstücke ausbesserten oder Schriftrollen kopierten. Dann ging es eine weitere Wendeltreppe nach oben und in einen schlicht gestalteten Raum, der sich hoch über den Häusern Greifenfurts knapp unterhalb der alles überragenden Tempelkuppel befand und durch seine Fensteröffnungen den Blick über die ganze unter der Praiosscheibe liegende Stadt und über die Ebene der Mark bis hin zu den im fernen Dunst liegenden Flanken des Finsterkammes eröffnete.

Der Illuminatus der Mark stand mit dem Rücken zur Tür, den Blick auf das unter ihm liegende Land und die ameisengleichen Gestalten gelenkt, welche über die Plätze und durch die Straßen der märkischen Metropole eilten. "Bring unserem Gast eine Sitzgelegenheit, Cuneman, und dann besorg ein wenig Obst und Getränke."

Der Novize nickte und verschwand - so schnell, wie er alles zu tun schien - und kam nach kurzer Zeit wieder, ächzend einen schweren Scherenstuhl aus massiver Steineiche schleppend, den er mit sichtlicher Erleichterung aufstellte, nur um sofort wieder zu verschwinden und mit einem roten Kissen zurückzukehren, welches er geschickt auf dem Sitzmöbel drappierte. Und wieder entschwand er, um kurze Zeit später abermals aufzutauchen, ein Klapptablett mit Früchtekorm und zwei Schneidmessern im Schlepptau, welches hernach durch zwei Karaffen und eine ebensolche Anzahl von Silberkelchen ergänzt wurde. Endlich stellte sich der Knabe - leicht schnaufend - neben die Türöffnung und verharrte stumm, während sich der Illuminatus Greifenfurts endlich umdrehte und dem Meister der Mark jovial den bereiteten Sitzplatz bot; selbst nahm er auf einem, in die Wand eingelassenen Chorgestühl Platz. Dann legte er die Fingerspitzen aufeinander und sah interessiert zu dem leicht untersetzten Mann, der sich in all dem Trubel bisher kaum bewegt hatte und nun eher widerwillig auf dem angebotenen Stuhl Platz nahm.

"Wie kann ich Euch behilflich sein, mein lieber Freund?"

Der Meister der Mark sah bei der Feundschaftsbekundung seitens des Praiosgeweihten ein wenig unwillig aus, enthielt sich allerdings eines Kommentars und sah kurz aber vielsagend zu dem in der Türöffnung wartenden Jungen.

"Du kannst für's Erste gehen, Cuneman." Die Stimme des Illuminatus hätte väterlich geklungen, wäre nicht - kaum hörbar - ein stählerner Ton mitgeschwungen.

Kaum war das Tapsen der bloßen Füße verklungen, räusperte sich auch schon der Meister der Mark und begann: "Bevor ich auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen komme, würde mich eine Kleinigkeit brennend interessieren: Habt Ihr in letzter Zeit Besuch von Seiten der Kirche der Hesinde oder ihrer Filiationen gehabt?"

Caitmar von Dergelstein runzelte die Stirn, während seine Augen aufzuglühen schienen: "Eslamsgrund?"

"Nicht ganz. Aber die Richtung stimmt."

"Ihr wollt sagen, dass..."

"Vor nicht ganz acht Tagen ersuchte ein gewisser Thamos von Idaijon um eine Audienz bei der Greifin..."

"... und wurde stattdessen bei Euch vorstellig."

"Ihre Ehrlaucht war außerhäusig."

Die Braue des Praiosgeweihten wnaderte nach oben: "Verstehe."

"Er erbat einen Schutz- und Geleitbrief, der ihm die Tempel der Hesindekirche ebenso öffnen sollte wie die übrigen Tempel und die Haushaltungen der Adligen der Mark."

Nun zeichnete sich auf dem Gesicht des Oberhauptes der Märkischen Praioskirche echte Sprachlosigkeit ab, ein Anblick, den der Meister der Mark in sich einsog wie einen besonders guten Trester und in Gedanken für spätere Augenblicke reinen Glückes verkorkte und wegstellte. Die Stimme Praiomons klang fast ein wenig belegt als er antwortete: "Das ist... ungewöhnlich."

"Ich verwies darauf, dass es mir nicht anstünde, ihm eine solche Erlaubnis zu erteilen, da ich nicht über das Hausrecht in den Götterhäusern verfüge, und verwies ihn an Euch, wobei ich aus Eurer Reaktion ersehe, dass Euch dieses Ansinnen der Nanduskirche neu ist und er somit die entsprechende Anfrage schuldig geblieben ist."

Die einzige Antwort bestand in einem Nicken, während die Züge des Illuminatus erkennen ließen, dass er bereits sämtliche Möglichkeiten und deren Konsequenzen durchspielte. In Gedanken zählte der Meister der Mark die Sekunden und war hochzufrieden, als nach kurzer Zeit Praiomon Caitmar von Dergelstein das Haupt hob und ihn mit einem stählernen Blick musterte. 43 Herzschläge. Er selbst hatte zwei weniger gebraucht, bis er seine Schlüsse gezogen hatte. "Ihr..."

Der Meister der Mark nickte: "Ich habe meine Leute bereits ausschwärmen lassen. Unauffällig natürlich und ohne konkrete Angaben. Man dürfte mir bis heute Abend entsprechend Bericht erstatten. Allerdings..."

Der Illuminatus nickte: "Ich werde mich um Tempel und geistliche Einrichtungen kümmern."

"Darf ich Euch dann für heute Abend zu einem kleinen und völlig informellen Mahl ins Grafenhaupt einladen?"

"Eine Stunde nach Praiosuntergang?"

"Ich werde auf Euch warten."

"Euer Exzellenz", der Illuminatus nickte seinem Gegenüber zu und bestellte mit einem knappen Wedeln ein Glas für den Meister der Mark. Man traf sich im Erkerzimmer des Grafenhauptes, einer Kammer im ersten Stock, deren Tür mit Leder augepolstert war und die außer einem in die Fensterniesche geschobenen Tisch und einer durchgehenden Bank nur noch einen Klingelzug enthielt sowie drei an den Wänden angebrachte Öllampen. Die Magd, die den Meister der Mark heraufgebracht hatte, nickte ob der Bestellung Caitmars, dann zog sie sich zurück und schloss die Tür.

"Und? Was haben Eure Nachforschungen ergeben?" "Kurz gesagt: Nichts. Der Nandusjünger scheint wie vom Dereboden verschluckt. Ein letzter Hinweis war, dass er die Stadt durch das Greifentor verließ. Aber das ist auch schon alles. Er hat sich wohl an einigen unangemessenen Orten aufgehalten, hat unter anderem den alten Hernkersturm betreten wollen, hat die Nekropole besucht... aber was genau er wollte, konnte ich nicht feststellen."

Der Illuminatus sah hocherfreut aus, verkniff sich aber ein Grinsen: "Und das schmeckt Euch nicht." Der Kanzler Greifenfurts warf dem religiösen Oberhaupt der Mark einen warnenden Blick zu und erhaschte so, wie die Gesichtszüge des vor ihm sitzenden Mannes einen nachdenklichen Zug annahmen. "Ich für meinen Teil konnte in Erfahrung bringen..."

Ein lautes Pochen unterbrach das Gespräch. Dann wurde die Klinke heruntergedrückt. Die Magd trat ein und brachte ein Glas und eine Karaffe mit Wein sowie ein wenig Brot und Wurstwaren. Das Gespräch stockte, bis sie die Kammer wieder verlassen hatte.

"Augenscheinlich hat der Nandusjünger an meiner Statt dem Orden des Bannstrahls einen Besuch abgestattet und Nasar um eine entsprechende Empfehlung gebeten..."

"Die er, wie ich den Weißkittel einschätze, nicht erhalten hat."

"Korrekt. Und es ist müßig zu erwähnen, dass er es noch an der ein oder anderen weiteren Tür versucht hat."

"Dann hat ihm wenigstens mein Argument eingeleuchtet, dass die Sache selbst nicht in die märkische Magistratur fällt."

"Wie dem auch sei. Zeitgleich zu seinem Besuch sind im Therbunitenspital ein paar Dokumente verschwunden und der 'Beschirmer' hat eine Vision gehabt."

"Ich hörte davon."

"Aber alles krudes Zeug."

"Ich dachte mir, dass ihr das so bewerten würdet."

"Und was habt Ihr nun vor?"

"Ich habe Karon, meinen Knappen drauf angesetzt, sich umzuhören, ob im einfachen Volk Stimmung gemacht wird. Er ist unbekannt genug, dass er nicht auffällt und jung genug, dass man ihm zutraut, sich für das Eslamsgrunder Gewäsch zu interessieren."

"Ich bezweifle, dass sich der Kerl tatsächlich zuerst die Hauptstadt aussuchen wird. Vielmehr würde ich an seiner Statt eine der aufstrebenden Handelsstädte infizieren. Die sind für solches Gedankengut empfänglicher."

"Ich habe schon einen Boten nach Breitenbruck endsandt. Eslamsroden ist zur Zeit sowieso ein unsicheres Pflaster, da wird ein solcher Funke fast nicht nötig sein, um einen Brand auszulösen."

"Und wenn es dann brennt, hat man zumindest guten Grund, gehörig aufzuräumen und vielleicht Missstände, auf die man derzeit keinen Einfluss hat, mit dem Eisenbesen auszumärzen..."

"Gernot von Rothenborn sitzt mir zur Zeit einfach viel zu fest im Sattel, während dem Landbaron aufgrund des resichsstädtischen Status die Hände gebunden sind."

"So eine städtische Unruhe kann ganz schöns Veränderungen auslösen, wenn man sie mit Feuer und Schwert bekämpfen muss. Zumal, wenn man dies der Kaiserin zuliebe auf sich nimmt. Da kann es dann unabwendbar werden, dass man einen Stadtherren ersetzt, um die Ordnung wiederherzustellen. Und nichts ist langlebiger als ein Provisorium. Und niemand ist einem enger verbunden als der, den man in Amt und Würden gesetzt hat."

"Eure politische Auffassungsgabe erstaunt mich immer wieder."

"Es ist das selbe Spiel, nur die Vorzeichen sind andere."

Kurz sannen die beiden Männer ihren jeweiligen Gedanken nach, dann räusperte sich der Illuminatus: "Es ist erfrischend, mit Euch gedanklichen Austausch zu pflegen."

"Das Vergnügen liegt da ganz auf meiner Seite."

"Vielleicht sollten wir es uns zur Gewohnheit machen, ab und an ein Gläschen zu trinken. Und sei es nur, um im Gespräch zu bleiben."

"Ich schlage Feuerstage vor."

"Wie passend."

Bücherschatz

"Praios zum Gruße!", knurrte der ältere Mann, der bis eben noch in die Bearbeitung einiger Dokumente vertieft gewesen war. Gleich mit den ersten Worten machte Answin von Boronshof, Vogt auf dem gleichnamigen Gut, klar, welches Gottes Diener hier auf das freundlichste Entgegenkommen hoffen durfte. Dennoch erhob er sich mühsam und umrundete hinkend den schweren Schreibtisch, um der Hesindegeweihte Madalieb von Kieselholm einen Stuhl anzubieten, bevor er sich wieder auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch begab. Gleich darauf kam er ohne Umschweife zur Sache: "Da dies kein Höflichkeitsbesuch sein dürfte, verzeiht mir die direkte Frage. Was führt euch hierher und wie kann ich euch behilflich sein?"

Schnörkellos und rauh. Wie der Vogt, so hatte sich der Geweihten zuvor auch das Gut selbst präsentiert. Umgeben von Wall und Pallisade gab es auf dem ganzen Gutshof nur ein einziges steinernes Gebäude - das Gutshaus selbst, mit dem gewaltigen Turm aus mächtigen Feldsteinen, der sicher deutlich älter war, als der Rest des Gutes. Doch selbst beim Gutshaus schien mehr auf Wehrhaftigkeit als auf Repräsentation geachtet worden zu sein: die Fenster waren schmal, die Tür klein und aus massiver Steineiche zusammengezimmert. Der Rest - Scheune, Stall und Schuppen - bestand aus zum Teil nur grob behauenen Stämmen und Brettern. Man hätte meinen können, das Gut wäre erst vor kurzem in Eile wieder aufgebaut worden und harre noch der Vollendung, wäre das Holz nicht längst schon von der rauhen märkischen Witterung ergraut gewesen...

Die Geweihte erläuterte ihr Anliegen. "Alte Dokumente sucht ihr?" Ein kurzes, bellendes Lachen entrang sich der Kehle des Vogtes, das in einen Hustenanfall überging. "Alte," fuhr er keuchend fort, nachdem er sich halbwegs wieder beruhigt hatte, "alte Dokumente gibt es hier nicht. Es gibt hier Abrechnungen, Zehntbücher, Korrespondenzen - aber nichts älter als 1012 BF. Damals war der Schwarzpelz hier und der hatte nichts übrig für alte Pergamente - das Feuer, das er legte, dafür um so mehr."

Aussagen wie diese hatte Madalieb auf ihren Reisen durch die Mark schon zu oft gehört, um noch Enttäuschung zu verspüren. Dennoch blieb ein leises Gefühl von Verlust, wenn sie an all das Wissen über die Geschichte dachte, das der Mark und den Märkern damals verloren gegangen waren. Doch die Erfahrung hatte sie auch gelehrt, dass in mancher Familie ein Schatz geblieben war, der durch glückliche Fügung die Zeiten überstanden hatte. Und so fragte sie auch hier, ob es nicht wenigstens eines oder zwei, möglicherweise ganz unbedeutend erscheinende Werke gäbe, die die Zerstörung des Gutes überlebt hatten.

Der Vogt dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. "Das einzige ältere Buch, das wir hier haben, ist ein Märchenbuch über die Mark. Einstmals war es unser Lieblingsbuch, Kindergeschichten, die unsere Eltern uns mitgaben, als sie uns in Sicherheit bringen ließen. Das Einzige was uns von ihnen geblieben ist. Ich habe früher auch meinen Kindern daraus vorgelesen und manchmal darin geblättert..." Die Stimme des Vogtes war bei den letzten Worten immer leiser geworden und sein Blick schien durch das Fenster hinaus ins Weite zu gehen. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr nach einem leichten Räuspern fort. "Wenn es euch etwas nützt, könnt ihr natürlich gerne einen Blick hineinwerfen. Aber wie gesagt, es sind Kindergeschichten, erwartet also nicht zu viel davon."

Die Geweihte brannte vor Neugierde, dieses Buch zu sehen, konnte sich dahinter doch sowohl bedeutungsloses Geschreibsel wie auch ein wahrer Schatz verbergen. Eilig bedankte sie sich bei Answin von Boronshof, der seinen Hausdiener Perainian rief, um den Folianten holen zu lassen. "Vielen Dank für euer freundliches Entgegenkommen. Wenn ihr erlaubt, so werde ich eure kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, sondern mich eurem Bediensteten anschließen, um das Buch gleich vor Ort in Augenschein zu nehmen", antwortete Madalieb. Mit einem Kopfnicken gab Answin von Boronshof seine Einwilligung, bevor er sich wieder seinen Dokumenten zuwandte.

"Das Märchenbuch?" Der alte Hausdiener kratze sich verlegen am Kopf, als er mit der Geweihten draußen im Flur stand. "Ja, also, das habe ich vor einer Weile noch gesehen. Ich hab' mich gewundert, wie es da hin kommt, da hat es gar nicht hingehört. Wo war das doch gleich? In der Speisekammer vielleicht?" Langsam schlurfend führte er die ungeduldige Geweihte durch die Küche bis in die große Kammer, in der es verführerisch nach geräuchertem Schinken roch. Ein Buch jedoch war hier nirgends zu sehen. "Nein, also hier war es nicht", bemerkte der Alte kopfschüttelnd, nachdem er sich ausgiebig in dem Raum umgesehen hatte.

Ein weiteres Mal kratzte er sich ausgiebig am Kopf, bevor ihm ein neuer Einfall kam. "Im Schuppen ist es gewiss gewesen, euer Gnaden. Wartet, ich führe euch sogleich dorthin." Im Stillen ein Stoßgebet um Geduld murmelnd, folgte ihm Madalieb, doch erwies sich auch dieser Gang als vergeblich.

Als sie ratlos vor dem kleinen Gebäude standen, das sie eben erfolglos durchwühlt hatten, brachte die strahlende Praiosscheibe den Mann auf einen neuen Einfall. "Nein, so hell war es dort nicht. Wo keine Sonne scheint..." murmelte er vor sich, um dann zu rufen: "Ich hab's: Im Keller ist es gewesen! Muss eines der Kinder dort liegen gelassen haben." Innerlich unziemlich fluchend, folgte die Geweihte dem Alten erneut durch das Gebäude, während sie vor ihrem inneren Auge einen von Stockflecken gezeichneten, von Feuchtigkeit zusammengeklebten Folianten vor sich sah. Doch für das Buch hatte sie zunächst gar keinen Blick, als sie die Gewölbe unter dem Wehrturm betraten. Im Licht der flackernden Fackel erkannte Madalieb mit einem Blick, dass dieses Gemäuer alt war. Was ihren Blick aber wie magisch auf sich zog, waren die Wände, die teilweise mit halb verwitterten Inschriften bedeckt waren.

"Seht ihr, hier ist es", krächzte derweil triumphierend der Alte, als er das Buch auf einem leeren Fass liegen sah. "Nehmt es mit, dann zeige ich euch eure Kammer und ihr könnt es dort in Ruhe betrachten", ergänzte der Diener. Doch die Geweihte nahm nur geistesabwesend den schweren Band entgegen, den Perainian ihr gab, während sie wie gebannt die Inschriften musterte. "Geht nur, ich bleibe noch einen Moment hier," sagte sie, während sie das Buch auf den Boden legte und näher an die Wand herantrat. Kopfschüttelnd wandte der alte Diener sich zum Gehen.

Die kleine Kerzenflamme zitterte bedenklich, während die Geweihte den Kopf näher in Richtung der Steintafel bewegte. Der geborgene Foliant war eine wahre Schatztruhe gewesen und dies in verschiedensten Bereichen. Nicht nur, dass die dort versammelten Märchen samt und sonders Varianten bekannter Geschichten darstellten, die augenscheinlich eigens auf das Junkerntum umgestaltet worden waren, in ihnen verbargen sich hierdurch auch Angaben von unschätzbarem Wert für die Altertumskunde. So hatte die Hesindegeweihte aus den Beschreibungen heraus nicht nur ein Menhirfeld gefunden, welches in einem in der Nähe des Gutes befindlichen Waldstück standen und völlig überwuchert waren, in weiterer Nachbarschaft des Gutshofes hatte sie zudem in den völlig vermoderten Trümmern einer ehemaligen Zentscheuer den Boden freiräumen lassen und dann eröffnet, was ein finsteres Kellergelass zu Tage gefördert hatte, in welchem sie nun beim Schein der Kerze kniete und auf die uralte, das sternförmige Gewölbe tragende Säule starrte. Das Rund des Steines war über und über mit Vertiefungen geschmückt, an welchen der Zahn der Zeit so lange genagt hatte, bis von der einstigen Schönheit nur noch Schemen zu erkennen waren. Nichtsdestotrotz strahlte der steinerne Koloss immer noch eine Erhabenheit aus, die der Geweihten eine Traviahaut auf die Arme zauberte.

Kurz besann sie sich, dann rief sie sich den Text des jüngst transkribierten Märchens in Erinnerung:


"Drei und Eins und Drei und Eins

Zwischen dem WELTENHERZ und DER SPHÄRE

ließ ich den Pölzel ruhn,

welcher vom Tode zur Feste gegangen.

Sicher unter den Meinen verbarg ich es im Schoße der Elemente.


Eingehend bei den Göttern

beließ ich den Ursprung meines Wesens und die Quelle meiner Macht,

denn Dere war schon lange nicht mehr sicher.


Und die Kinder der Kindeskinder waren der einzige Schutz und die einzige Sicherheit, derer ich mich verSICHERN konnte.

So ruhet nun in EINS bis euch dereinst birgt,

wes Augen die eines Kindes."


Die Geschichte selbst war von unendlicher Schlichtheit, ja Profanität gewesen, so dass ihr die eingeschobenen Verszeilen bereits beim ersten Lesen ins Auge gesprungen waren. Nun glitt ihr Blick über den Fußboden, der mit riesigen Steinplatten besetzt war. Lange hatte sie über den kryptischen Angaben gegrübelt. Dann war ihr an anderer Stelle im Buch eine Bemerkung von anderer Hand aufgefallen, in welcher auf eine Sternensäule in der Zentscheuer hingewiesen worden war. Die Zentscheune des Gutes indessen hatte sich als völlig unergiebig gezeigt und von den Sassen hatte sich niemand bemüßigt gefühlt, ihr bei ihren Recherchen zu helfen. Erst eine große Flasche starken Obstbrandes und eine große Seite Speck hatten einem der uralten Köhler endlich eine weitere Sage des sogenannten Boronshofes entlockt. Augenscheinlich hatte der Boronshof seinen Namen nicht zu Unrecht. In der frühesten Vorzeit hatte an dieser Stelle ein kleines Dörfchen gestanden, in dem unvermittelt eine fürchterliche Seuche ausgebrochen war. Den Beschreibungen nach konnte es sich durchaus um eine Form der Keuche handeln, übereinstimmend wurde auf jeden Fall ausgeführt, dass die Krankheit das gesamte Dorf in kürzester Zeit befallen und wie ein räudiger Köter in seinen Fängen gehalten und geschüttelt hatte, bis niemand mehr am leben war. Lediglich die Bewohner eines Waldbauernhofes, welche im Angesicht des Grauens ein Boronsrad in die Tür gebrannt hatten, kamen mit dem Leben davon.

Und sie selbst stand nun inmitten des schon längst verschollenen Dorfes in der Krypta eines ehemaligen Tempels des Brajan, welcher augenscheinlich zur Menzelszeit bereits geschliffen gewesen war und auf dessen Steinboden man die erste Zentscheuer des Dorfes errichtet hatte.

Und wenn sie den Text richtig deutete, dann hatte ein Vorfahr des Junkers hier unten etwas versteckt, was einerseits für die Familie eine Sache von schiksalhafter Wichtigkeit zu sein schien, bei der das Wissen darum aber andererseits so gefährlich gewesen war, dass man es versteckt und wohl über die Zeit vergessen hatte. Nur der Spruch hatte die Generationen überdauert und war von Ahn zu Ahn weitergegeben worden in Form des Märchens 'Vom Steinernen Herzen'. Ein Geräusch wie das Reiben von Stahl auf Stein riss Madalieb aus ihren Überlegungen. "Ist da jemand?" Die Hesindegeweihte sah hinauf zu dem Loch hinter ihr, durch das sich die Sprossen einer Leiter zum schwindenden Tageslicht hinaufreckten. Als keine Antwort kam, runzelte sie die Stirn, dann vertiefte sie sich wieder in ihre Betrachtungen.

Ein Kindervers. Ein Kindervers und ein Abzählreim, so viel war sicher. Doch was wollten die anderen Informationen ihr sagen? Plötzlich ging ein Grinsen über das Gesicht der Geweihten. Sie entnahm ihrer Tasche ein Stück weiße Kreide und ließ sich auf die Knie nieder. Die Zunge halb im Munde tauchte sie hinab in die ureigene Vergangenheit, die Stirn in Falten gelegt, die hohe Säule fest im Blick... die Sternensäule. Zwischen Weltenherz und Sphäre. Die so kryptisch anmutende Beschreibung hatte eine Saite in ihr zum Schwingen gebracht und ihre Kindheit hervorgelockt. 'Käsekästchen'! Wie lange war es her, dass sie das Spiel mit ihren Geschwistern im Hinterhof des kleinen Stadthauses gespielt hatte, welches sie mit ihren Eltern bewohnten. Drei und Eins und eine Sphäre. Sie umrahmte die großen Steinquader mit weißer Kreide und schuf ein symmetrisches Muster von Quadraten, ausgehend von den drei hinter der Sternensäule gelegenen Platten, welche wohl die siebte der Sphären bezeichneten, und von der Säule, die augenscheinlich für die sechste Sphäre stand immer weiter, bis sie die letzten Kästchen für das Weltenherz festgelegt hatte.

Dann hob sie einen kleinen Hammer auf und begann, auf die vor ihr befindlichen Steinplatten vorsichtig zu klopfen, den Kopf lauschend schräg gelegt. Unter den Platten der dritten Sphäre klang es hohl. Ein glückliches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der Geweihten aus, die in die Hände spuckte und einen langen Meißel zog, den sie vorsichtig in den Spalt zwischen den Steinen einfädelte. Die Anstrengung, den Stein hochzuwuchten ließ ihr die Ohren klingeln. Nichtdestotrotz gelang es und der Stein kippte zur Seite. In der so sichtbar gewordenen Vertiefung ruhten mehrere faustgroße Steine, auf denen sich Linien und Glyphen abzeichneten. Madalieb sog gierig die Luft ein, dann explodierte die Welt um sie herum.

Als die Geweihte wieder zu sich kam, war die Kerze fast vollständig heruntergebrannt. Behutsam tastete sie an den schmerzenden Schädel. Ihre Fingerkuppen suchten sich ihren Weg durch Partien klebrigen Haars während sich ihre Augen abmühten, die gewohnte Schärfe wiederzuerlangen. Die Höhlung war leer.

Bildungshunger

Meister der Mark erfährt, dass irgendwer in der Stadt Reichsweg ins Stadthaus eingebrochen ist und ein dort befindliches, uraltes steinernes Stadtsiegel gestohlen hat.

Bücher-ei

In der Bibliothek wird Madalieb von Kieselholm von hinten niedergeschlagen und einer Reihe von interessanten Folianten beraubt... Was ein Spaß!!!!

Bildungs-fern

Kaum mach Hause zurückgekehrt wird Rhys ap Rhiapp Opfer eines feigen Anschlags.

Rabenhorster Gespräche

Tafelspitz

Vorsichtig stieg er die ausgetretenen steinernen Stufen hinauf. Vor sich hörte er das leise Klirren der Schlüssel, mehr Laute würde die vor ihm gehende Gestalt nicht von sich geben. Endlich erreichten sie das richtige Stockwerk und bewegten sich den langen Gang entlang, wie schon so oft die letzten Wochen.

»Glauben Sie mir, mein Freund, für ein echtes Tafelspitz benötigen Sie die allerbesten Zutaten. Da dürfen Sie keinesfalls etwas Anderes verwenden als den Meerrettich aus der Altenau, vorzugsweise den Eslamsrodener Wurz oder den Dunkelsfarner Kren. Und am besten mischen Sie ihn zusätzlich mit fein geriebenen Äpfeln aus der Breitenau, der Donfanger Parmäne oder der Hexenhainer Renette, im Verhältnis eins zu eins, vielleicht mit einem Schuss frischer Sahne. Und denken Sie daran, dass die Zubereitung des Fonds, in dem Sie den Tafelspitz kochen, von allerhöchster Bedeutung ist. Nur die allerbesten Zutaten garantieren eine annehmbare Qualität. Achten Sie auf Königsgauer Rüben, Kressenburger Stangensellerie und vor allem Zalgoer Karotten, wohlgemerkt die kleinen, zarten.«

Er schüttelte den unwillkommenen Gedanken - Erinnerungen an vorhergehende Besuche - ab und beobachtete, wie die mit einem weißen Gewand mit schwarzem Boronsrad gekleidete Gestalt vorsichtig den Schlüssel in das überdimensionierte Schloss schob, umdrehte und anschließend mit einiger Mühe den riesigen Riegel wegschob, um dann die schwere, eichene Bohlentür aufzuziehen. »Und dazu Kartüffeln aus Weiden: Balihoher Rote, Tralloper Braune oder, wenn Sie ganz viel Glück und einen gut sortierten Gemüsehändler haben, Moosgrunder Blaue! Vorsichtig im simmernden Wasser gar gekocht, so dass sie gerade noch bissfest sind, und mit ein klein wenig Petersilie bestreut, herrlich! Oder aber, wie meine selige Mutter dies zu tun pflegte, nach dem Kochen halbiert und in ein wenig Butterschmalz geröstet. Und niemals dürfen Sie die Schale wegschneiden. Dadurch verlieren sie ihr ganzes Aroma. Oh. Und denken Sie an die Prise Muskat!«

Ein kurzer Blickwechsel, ein zögerndes Nicken, dann trat er in den hohen, engen Raum. Der Noionite ging an ihm vorbei zu dem kleinen Tisch am schmalen, hoch angebrachten Fenster, und löste der dort sitzenden Gestalt vorsichtig den Knebel. Er selbst setzte sich auf den Stuhl, dem Gefangenen gegenüber.

„Ah“, die sanfte, ausdrucksstarke Stimme mit dem eigenartig distinguierten Tonfall begrüßte ihn wie ein samtener Regen, „da seid Ihr ja wieder. Und? Habt Ihr mittlerweile über meine Frage nachgedacht?“

Er zuckte ein wenig zusammen, bemüht, sich durch die freundliche und offene Sprechstimme seines Gegenübers nicht gefangen nehmen zu lassen… »Aber die größte Sorgfalt müsst Ihr natürlich dem Tafelspitz selbst widmen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn Ihr das falsche Stück Fleisch verwendet oder, noch schlimmer, wenn Ihr bei seiner Zubereitung einen Fehler macht. Das Fleisch sollte von makelloser Schönheit sein, fein marmoriert, mit nur dünnen Fettadern durchwachsen, dafür aber im gesamten Fleischstück. Am besten achtet Ihr darauf, dass es aus dem unteren Filet oder dem tiefen Rücken herausgelöst wurde. Je trainierter und jünger, desto zarter. Und achten Sie auf das Geschlecht. Das weibliche Gesäß neigt leider schon sehr früh zum Fettansatz, was dem Fleische abträglich ist. Ich bevorzuge für mein Tafelspitz vierzehnjährige Knaben oder Mägde mit knabenhaftem Äußeren.« „Ihre Frage?“

Das Lächeln war gutmütig vergebend, in der Stimme schwang eine leichte Belustigung: „Die Frage, ob nach den Geboten Eurer Herrin der Mensch nicht eine dem Tier gleichberechtigte Kreatur sei. Und natürlich damit die Frage, was dies für den Verzehr desselben bedeutet.“

Bries

"Wo wir gerade bei Kren waren..." Die Sonne hatte den Zenit verlassen und strebte unaufhörlich den in der Ferne schimmernden Gipfeln entgegen. Noch war das Licht hell, doch schon bald würden die nahen Gipfel erst golden, dann rot aufschimmern, um sich anschließend in ein dunkles Cape zu hüllen. Und er würde es ihnen nachtun und die Burg verlassen. Obwohl es draußen heiß war, fröstelte ihn ein wenig. Doch lag dies sicherlich nicht ausschließlich an den dicken Mauern. "... es geht meines Erachtens nach nichts über eine gute Auswahl exzellenter Kräuter und Gewürze, das könnt, ja das müsst Ihr mir glauben. Kein Gericht kommt ohne Kräuter aus, ja manchmal sind erst die Kräuter und Gewürze das, was aus einem lapidaren Fleischklotz ein echtes Geschmackserlebnis macht. Seht euch nur die Breitenbrucker Grüne Soße an. Erinnert Ihr euch an das Jahr 14, als es in der ganzen Breitenau kein Kurkumerkraut gab? Eine Katastrophe!" "Sicherlich, ich..." "Und nur hier trifft das Sprichwort nicht, dass das Gute so nah liegt. Glaubt mir, Kochen ist ein wenig wie Malen. Man zerstößt ganz vorsichtig die Grundsubstanzen, reinigt sie, baut sie in Töpfchen und Tiegelchen vor sich aufd und dann beginnt man sie erst vereinzelt, dann in immer größeren Mengen miteinander zu verschmelzen. Duftnoten legen sich übereinander und lassen Grundtöne hervorschimmern: Da haucht die Schärfe des Pfeffers dem süßlichen Zimt Leben ein, da ergänzt der zerstoßene Koriander die Bitterkeit des Fenchels, da umschmeichelt die Zitronenmelisse den Knoblauchhederich. Und wenn sich Euch dann irgendwann die Duftgärten des Südens offenbaren, wenn ihr zum allerersten Mal über die Basare von Fasar oder Jergans geht, dann werdet ihr das Gefühl eines Blinden haben, der bislang überzeugt war, zu sehen, und dem man mit einem Male das Tuch von den Augen nimmt, wie es seinerzeit Dschindziber von Cavazoab in seinem Höhlengleichnis beschrieb." "Aber..." "Und seid gewiss: Die exakte Kenntnis des richtigen Krautes ist ein größerer Schatz, als es Gold oder Silber jemals werden können. Vertraut mir. Damals, in meinen Jahren als Herrscher über die Feldküche, kannte ich jeden Offizier anhand seiner Vorlieben und seiner Ressentiments. Ich wusste, wer auf welches Gewürz, wer auf welche Speise mit Winden, wer mit Magenbeschwerden und wer gar mit schlimmeren Nebenerscheinungen reagiert. Ja selbst der Marschall hatte so manche Schwäche, was das Essen angeht, und es lag an mir, für eine reibungslose Versorgung des Heeres zu sorgen, selbst als unsere eigenen Vorräte aufgebraucht und nichts Anderes zu bekommen war als das einheimische Getier und die Pflanzen, die all überall wuchsen. Ich hatte beständig eine Ladung Eingeborener in einem Käfig hinter dem Küchenzelt, die mir als Rat und Ideengeber und manches Mal auch als Vorkoster dienten. Oh ja. Kräftige Männer und Frauen allesamt, von seltsamen Pflanzen und Tieren genährt und gleichzeitig Wilde und Weise. Niemals später habe ich so köstliches Bries gehabt wie damals; ich weiß nicht, was die Menschen hier so alles im Kopf haben, aber das Essen, das war damals von unvergleichlicher Köstlichkeit. Und mehr als ein Gewürz wirkte nicht nur auf den Gaumen..."

Falscher Hase

„Ich brauche wohl nicht zu erklären, dass mir das überhaupt nicht gefällt!“ Selten hatte der Kanzler seine Herrin derartig wütend gesehen. „Was denkt die sich überhaupt?“ Bredogar hüstelte geziert, während er von einem Bein auf das andere trippelte: „Verzeihung, Euer Eminenz, aber in diesen Kreisen…“

„Denkt man nicht?“

„Eminenz!“

„Ach, hört endlich auf so herumzuhampeln und ratet mir, was ich machen soll, außer klein beizugeben und eine Reihe von Protestnoten abzugeben.“

„Nun, Ihr könntet darauf bestehen, dass Eure Leute ihn eskortieren und…“

„Ich soll meine eigenen Leute gefährden, indem ich Ihnen dieses…“ Die Wut der Markgräfin war wie ein extrem scharfes Rasiermesser, das nur so nach einem Ansatzpunkt schrie, um alles Mögliche wegzurasieren. „Subjekt?“ Der Kanzler kannte diese Stimmungen schon. Letztlich vermied er es in solchen Situationen auf das Äußerste, Witze zu machen oder irgendetwas schön zu reden. Hier half nur ruhig bleiben und zu hoffen, dass sich die Ruhe auf die zierliche Landesherrin übertragen würde.

„… dieses Subjekt anvertrauen? Pah. Da könnte ich ja…“

„Liebes?“

Die Tür wurde aufgestoßen und der Gatte der Greifin betrat das Arbeitszimmer, in dem Bredogar mit seiner Herrin parliert hatte. Amüsiert bemerkte der Kanzler, wie das Schriftstück, das Irmenella die gesamte Zeit herumgeschüttelt hatte wie ein tollwütiger Hund einen Knochen, in einem Wimpernschlag hinter dem Rücken der Frau verschwand. „Was soll ich eigentlich dem Fürsten von Albernia mitbringen? Und willst du wirklich nicht mitkommen? Die Reise wird bestimmt interessant und mit ein wenig Phex sogar abenteuerlich. Und jetzt rede nicht um den heißen Brei. Ich weiß sehr wohl, dass du mich hier aus dem Wege haben willst, weil wieder einmal etliche Questen angelaufen sind und eines edlen Recken harren.“ Der Kanzler bemühte sich, mit der Zimmerwand zu verschmelzen, während die Gefühle im Gesicht der Greifin schneller wechselten als das märkische Wetter im Phex.

„Da hast du wohl Recht.“ Die Stimme Irmenellas klang geschlagen, als sie ihrem Gatten in die Augen blickte. Liebevoll umschlang dieser seine Frau und küsste sie recht privatissime, als habe er den Meister der Mark überhaupt nicht bemerkt. Dann, Bredogar zublinzelnd, löste er sich wieder aus der Umarmung, hielt seine Frau auf Armesweite von sich um sie zu betrachten und lächelte sie spitzbübisch an.

„Ich weiß. Und weil ich weiß, dass du dies nur aus Sorge um mich machst, werde ich es auch ertragen.“ Mit diesen Worten küsste der Koscher Erbprinz seine Frau noch einmal mitten auf den Mund und schritt tänzelnd von dannen.

„Schickt IHR das Subjekt mit den vertrauensvollsten Märkern, gerne mit Mitgliedern des Ritterbundes, und schärft ihnen ein, dass es keine Option wäre, ihn zu verlieren, egal was passiert. Macht sie darauf aufmerksam, dass sie sonst ein sehr persönliches Problem mit ihrer Landesherrin bekommen.“

Fragend hob der Kanzler die Braue.

„Noch eine Konfrontation heute halten meine Nerven nicht aus.“

Wie auf Kommando öffnete sich die Tür: „Schatz, ich habe es schon wieder völlig vergessen: Was bringe ich Finnian jetzt noch mal mit?“

Punipan

„Habt Ihr sie dabei?“ Die Stimme des Sprechers vibrierte vor Aufregung, während der Geweihte sich noch damit abmühte, den prallen Beutel durch die Tür zu manövrieren. „Ja. Aber Ihr bekommt sie erst, wenn Ihr Euch an unsere Abmachung gehalten habt!“ Vorsichtig stellte der Geweihte den Beutel auf einem Stuhl ab, dann zog er langsam und behutsam Schachteln, Tiegelchen und metallene Formen aus seinem Sack, die er auf dem zwischen ihnen stehenden Tischchen aufbaute. Ganz zum Schluss entnahm er dem Bündel eine kleine Pappschachtel und legte sie außer Reichweite des Gefesselten, der das kleine Päckchen nicht aus den Augen ließ, während ein paar Wassertröpfchen in seine Mundwinkel traten. „Also gut. Macht mir den einen Arm los und gebt mir einen Löffel, dann können wir anfangen.“ Behutsam löste Cundrîus Ährenstein die Handfessel und reichte dem Mann vor sich einen silbernen Löffel, den er auf ein kleines Samtkissen mit einer Getreidestickerei gelegt hatte. Ein prüfender Blick seines Gegenübers fiel auf die Stickerei, dann überzog ein Lächeln die Wangen des Gefesselten. „Tante Luzelinde, wenn ich nicht irre. Und der Löffel dürfte zum Familiensilber gehören.“ Cundrîus nickte, während er mit ansah, wie der Mann vorsichtig den Löffel in eine der Formen schob, ein Stück herausstach, den Inhalt auf Augenhöhe hob und erst neugierig betrachtete, um dann die Nase daran zu halten und mit halb geschlossenen Augen den Duft einzusaugen. Plötzlich öffnete sich das eine Auge sehr weit und fasste sein Gegenüber in einen zwingenden Blick, während sich die fleischigen Lippen um den Löffelinhalt schlossen. Ein leichtes Schnaufen ertönte, dann weitete sich die Iris überrascht und der Mund begann eine vorsichtige Kaubewegung. Ein leises Stöhnen aus der Körpermitte wurde mit einem feinen Schmatzen beantwortet, als sich wieder das Auge, fast anklagend, auf Cundrîus richtete. „Ihr habt Talent.“ Die Bemerkung zauberte ein feines Lächeln auf das Gesicht des Geweihten, doch er schwieg und beobachtete die Reaktionen auf dem Gesicht seines Gegenübers als hinge sein Leben davon ab. „Ein ganz kleines bisschen roten Pfeffers und eine Prise Arangenschale und es wäre perfekt.“ Cundrîus nickte und schrieb in ein winziges Buch, das er fast verschämt aus der Tasche gezogen hatte und auf dem nun der Blick des Gefangenen missbilligend ruhte. „Wenn Ihr nicht in der Lage seid, dies im Kopfe zu behalten, wie wollt Ihr dann jemals eine richtige Zunge ausbilden? Rezepte sind etwas für schwache Leute. Der wahre Koch kann mit seinen Sinnen jede noch so feine Nuance wahrnehmen und ist in der Lage, beim ersten Schmecken ein Gericht bis auf die Graneinheiten zu deduzieren. Haltet Euch nicht mit dem Schreiben auf. Trainiert eure Sinne. Eine junge Braut schmeckt am besten, wenn man sie bei Vollmond an einem ganz frühen Morgen bei Taufall geerntet hat. Bedenke dabei, mein Junge, dass der Tod stressfrei erfolgen sollte. Ich empfehle das Kissen. Das ist immer zur Hand und hinterlässt keine Flecken auf dem Bettzeug.“ Cundrîus versuchte, alle Implikationen auszuschalten. Was hatte er alles auf sich genommen, um IHN zu sehen und SEINE Rezepte zu erhalten. Nicht die so ganz Speziellen. Die würde er sicherlich demnächst vernichten. An die Zutaten war nicht heranzukommen und… halt. Dies war nicht sein Vokabular! Seit einiger Zeit schon hatte er fortwährend das Gefühl, als werde er langsam mit einer feinen Schmutzschicht überzogen, die sich ihm in Mund, Nase und Augen legte und einen Teil seiner Wirklichkeit hartnäckig trübte. Aber die Erfolge, die er in letzter Zeit erzielt hatte, die Geschmacksexplosionen, zu denen er plötzlich imstande war, die Gerichte, bei denen einem die Tränen in die Augen stiegen, das war es wert. Mehr noch: das war ALLES wert. „Ein wenig Pimpinelle und Knoblauchrauke, etwas Zitronenmelisse und ein winziges Quantum an Hirschhornsalz…“ Der Gefangene probierte sich durch die Gerichte, schnupperte, besah, kostete und immer wieder entfuhr ihm ein Schnaufen höchster Beglückung, wenn sich die fleischigen Lippen um eine neuerliche Köstlichkeit schlossen. Endlich legte er den Silberlöffel vorsichtig zur Seite und blickte den Geweihten mit schiefgelegtem Kopf an. „Wenn ich es nicht ganz genau wüsste, würde ich schätzen, dass etwas von meinem Blut in Euren Adern fließt, mein Lieber.“ Cundrîus spürte, wie eine Gänsehaut seine Arme entlanglief. Ob aus Vergnügen oder Abscheu konnte er nicht verifizieren. „Alles ist exzellent gekocht und bei allem fehlt lediglich ein winziges Maß an Raffinesse um es in den Adelsstand zu erheben.“ Cundrîus klappte sein Büchlein zu und nickte, während er sich daran machte, die Speisen wieder in seinen Beutel zu räumen, bis nur noch die Pappschachtel übrigblieb. „Und nun die Bezahlung.“ Cundrîus nickte und öffnete vorsichtig den Deckel. „Ich habe alles so gemacht, wie Ihr es mir aufgetragen hattet. Der Zuckerbäcker meinte, er habe selten Gebäck aus Punin liefern lassen, aber er könne nun nachvollziehen, warum Ihr genau dies hättet haben wollen.“ Das Gesicht seines Gegenübers entgleiste, was Condîus ein besänftigendes Lächeln aufzwang. „Er hatte direkt mehrere Exemplare bestellt und Eures nicht angerührt. Ich muss allerdings zugeben, dass ich dieses Exemplar hier von einem Magister untersuchen lassen musste.“ Sein Gegenüber blickte vielsagend auf seine Umgebung und die gefesselte eine Hand und nickte verständig. Dann richtete er seine Augen auf die elfenbeinfarbene Oberfläche mit der kleinen, verspielten Borte aus brauner Schokolade, wohl aus dem fernen Moha-Land importiert. Er kniff seine Augen ein wenig zusammen und studierte die Pracht eingehend, während sich auch Cundrîus vorbeugte und die kleinen, tanzenden Männchen besah, die sich um das winzige Kunstwerk der Puniner Zuckerbäckerkunst herum wanden. Ihn umwehte ein sanfter Geruch nach Bittermandel und Zucker. Anfortas lächelte verzückt, während er vorsichtig das Gebäck anhob und seinem Mund entgegenreckte: „Das ist ja geradezu wundervoll!“