Geschichten:Wissensdurst - Bücherschatz

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"Praios zum Gruße!", knurrte der ältere Mann, der bis eben noch in die Bearbeitung einiger Dokumente vertieft gewesen war. Gleich mit den ersten Worten machte Answin von Boronshof, Vogt auf dem gleichnamigen Gut, klar, welches Gottes Diener hier auf das freundlichste Entgegenkommen hoffen durfte. Dennoch erhob er sich mühsam und umrundete hinkend den schweren Schreibtisch, um der Hesindegeweihte Madalieb von Kieselholm einen Stuhl anzubieten, bevor er sich wieder auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch begab. Gleich darauf kam er ohne Umschweife zur Sache: "Da dies kein Höflichkeitsbesuch sein dürfte, verzeiht mir die direkte Frage. Was führt euch hierher und wie kann ich euch behilflich sein?"

Schnörkellos und rauh. Wie der Vogt, so hatte sich der Geweihten zuvor auch das Gut selbst präsentiert. Umgeben von Wall und Pallisade gab es auf dem ganzen Gutshof nur ein einziges steinernes Gebäude - das Gutshaus selbst, mit dem gewaltigen Turm aus mächtigen Feldsteinen, der sicher deutlich älter war, als der Rest des Gutes. Doch selbst beim Gutshaus schien mehr auf Wehrhaftigkeit als auf Repräsentation geachtet worden zu sein: die Fenster waren schmal, die Tür klein und aus massiver Steineiche zusammengezimmert. Der Rest - Scheune, Stall und Schuppen - bestand aus zum Teil nur grob behauenen Stämmen und Brettern. Man hätte meinen können, das Gut wäre erst vor kurzem in Eile wieder aufgebaut worden und harre noch der Vollendung, wäre das Holz nicht längst schon von der rauhen märkischen Witterung ergraut gewesen...

Die Geweihte erläuterte ihr Anliegen. "Alte Dokumente sucht ihr?" Ein kurzes, bellendes Lachen entrang sich der Kehle des Vogtes, das in einen Hustenanfall überging. "Alte," fuhr er keuchend fort, nachdem er sich halbwegs wieder beruhigt hatte, "alte Dokumente gibt es hier nicht. Es gibt hier Abrechnungen, Zehntbücher, Korrespondenzen - aber nichts älter als 1012 BF. Damals war der Schwarzpelz hier und der hatte nichts übrig für alte Pergamente - das Feuer, das er legte, dafür um so mehr."

Aussagen wie diese hatte Madalieb auf ihren Reisen durch die Mark schon zu oft gehört, um noch Enttäuschung zu verspüren. Dennoch blieb ein leises Gefühl von Verlust, wenn sie an all das Wissen über die Geschichte dachte, das der Mark und den Märkern damals verloren gegangen waren. Doch die Erfahrung hatte sie auch gelehrt, dass in mancher Familie ein Schatz geblieben war, der durch glückliche Fügung die Zeiten überstanden hatte. Und so fragte sie auch hier, ob es nicht wenigstens eines oder zwei, möglicherweise ganz unbedeutend erscheinende Werke gäbe, die die Zerstörung des Gutes überlebt hatten.

Der Vogt dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. "Das einzige ältere Buch, das wir hier haben, ist ein Märchenbuch über die Mark. Einstmals war es unser Lieblingsbuch, Kindergeschichten, die unsere Eltern uns mitgaben, als sie uns in Sicherheit bringen ließen. Das Einzige was uns von ihnen geblieben ist. Ich habe früher auch meinen Kindern daraus vorgelesen und manchmal darin geblättert..." Die Stimme des Vogtes war bei den letzten Worten immer leiser geworden und sein Blick schien durch das Fenster hinaus ins Weite zu gehen. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr nach einem leichten Räuspern fort. "Wenn es euch etwas nützt, könnt ihr natürlich gerne einen Blick hineinwerfen. Aber wie gesagt, es sind Kindergeschichten, erwartet also nicht zu viel davon."

Die Geweihte brannte vor Neugierde, dieses Buch zu sehen, konnte sich dahinter doch sowohl bedeutungsloses Geschreibsel wie auch ein wahrer Schatz verbergen. Eilig bedankte sie sich bei Answin von Boronshof, der seinen Hausdiener Perainian rief, um den Folianten holen zu lassen. "Vielen Dank für euer freundliches Entgegenkommen. Wenn ihr erlaubt, so werde ich eure kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, sondern mich eurem Bediensteten anschließen, um das Buch gleich vor Ort in Augenschein zu nehmen", antwortete Madalieb. Mit einem Kopfnicken gab Answin von Boronshof seine Einwilligung, bevor er sich wieder seinen Dokumenten zuwandte.

"Das Märchenbuch?" Der alte Hausdiener kratze sich verlegen am Kopf, als er mit der Geweihten draußen im Flur stand. "Ja, also, das habe ich vor einer Weile noch gesehen. Ich hab' mich gewundert, wie es da hin kommt, da hat es gar nicht hingehört. Wo war das doch gleich? In der Speisekammer vielleicht?" Langsam schlurfend führte er die ungeduldige Geweihte durch die Küche bis in die große Kammer, in der es verführerisch nach geräuchertem Schinken roch. Ein Buch jedoch war hier nirgends zu sehen. "Nein, also hier war es nicht", bemerkte der Alte kopfschüttelnd, nachdem er sich ausgiebig in dem Raum umgesehen hatte.

Ein weiteres Mal kratzte er sich ausgiebig am Kopf, bevor ihm ein neuer Einfall kam. "Im Schuppen ist es gewiss gewesen, euer Gnaden. Wartet, ich führe euch sogleich dorthin." Im Stillen ein Stoßgebet um Geduld murmelnd, folgte ihm Madalieb, doch erwies sich auch dieser Gang als vergeblich.

Als sie ratlos vor dem kleinen Gebäude standen, das sie eben erfolglos durchwühlt hatten, brachte die strahlende Praiosscheibe den Mann auf einen neuen Einfall. "Nein, so hell war es dort nicht. Wo keine Sonne scheint..." murmelte er vor sich, um dann zu rufen: "Ich hab's: Im Keller ist es gewesen! Muss eines der Kinder dort liegen gelassen haben." Innerlich unziemlich fluchend, folgte die Geweihte dem Alten erneut durch das Gebäude, während sie vor ihrem inneren Auge einen von Stockflecken gezeichneten, von Feuchtigkeit zusammengeklebten Folianten vor sich sah. Doch für das Buch hatte sie zunächst gar keinen Blick, als sie die Gewölbe unter dem Wehrturm betraten. Im Licht der flackernden Fackel erkannte Madalieb mit einem Blick, dass dieses Gemäuer alt war. Was ihren Blick aber wie magisch auf sich zog, waren die Wände, die teilweise mit halb verwitterten Inschriften bedeckt waren.

"Seht ihr, hier ist es", krächzte derweil triumphierend der Alte, als er das Buch auf einem leeren Fass liegen sah. "Nehmt es mit, dann zeige ich euch eure Kammer und ihr könnt es dort in Ruhe betrachten", ergänzte der Diener. Doch die Geweihte nahm nur geistesabwesend den schweren Band entgegen, den Perainian ihr gab, während sie wie gebannt die Inschriften musterte. "Geht nur, ich bleibe noch einen Moment hier," sagte sie, während sie das Buch auf den Boden legte und näher an die Wand herantrat. Kopfschüttelnd wandte der alte Diener sich zum Gehen.

Die kleine Kerzenflamme zitterte bedenklich, während die Geweihte den Kopf näher in Richtung der Steintafel bewegte. Der geborgene Foliant war eine wahre Schatztruhe gewesen und dies in verschiedensten Bereichen. Nicht nur, dass die dort versammelten Märchen samt und sonders Varianten bekannter Geschichten darstellten, die augenscheinlich eigens auf das Junkerntum umgestaltet worden waren, in ihnen verbargen sich hierdurch auch Angaben von unschätzbarem Wert für die Altertumskunde. So hatte die Hesindegeweihte aus den Beschreibungen heraus nicht nur ein Menhirfeld gefunden, welches in einem in der Nähe des Gutes befindlichen Waldstück standen und völlig überwuchert waren, in weiterer Nachbarschaft des Gutshofes hatte sie zudem in den völlig vermoderten Trümmern einer ehemaligen Zentscheuer den Boden freiräumen lassen und dann eröffnet, was ein finsteres Kellergelass zu Tage gefördert hatte, in welchem sie nun beim Schein der Kerze kniete und auf die uralte, das sternförmige Gewölbe tragende Säule starrte. Das Rund des Steines war über und über mit Vertiefungen geschmückt, an welchen der Zahn der Zeit so lange genagt hatte, bis von der einstigen Schönheit nur noch Schemen zu erkennen waren. Nichtsdestotrotz strahlte der steinerne Koloss immer noch eine Erhabenheit aus, die der Geweihten eine Traviahaut auf die Arme zauberte.

Kurz besann sie sich, dann rief sie sich den Text des jüngst transkribierten Märchens in Erinnerung:


"Drei und Eins und Drei und Eins

Zwischen dem WELTENHERZ und DER SPHÄRE

ließ ich den Pölzel ruhn,

welcher vom Tode zur Feste gegangen.

Sicher unter den Meinen verbarg ich es im Schoße der Elemente.


Eingehend bei den Göttern

beließ ich den Ursprung meines Wesens und die Quelle meiner Macht,

denn Dere war schon lange nicht mehr sicher.


Und die Kinder der Kindeskinder waren der einzige Schutz und die einzige Sicherheit, derer ich mich verSICHERN konnte.

So ruhet nun in EINS bis euch dereinst birgt,

wes Augen die eines Kindes."


Die Geschichte selbst war von unendlicher Schlichtheit, ja Profanität gewesen, so dass ihr die eingeschobenen Verszeilen bereits beim ersten Lesen ins Auge gesprungen waren. Nun glitt ihr Blick über den Fußboden, der mit riesigen Steinplatten besetzt war. Lange hatte sie über den kryptischen Angaben gegrübelt. Dann war ihr an anderer Stelle im Buch eine Bemerkung von anderer Hand aufgefallen, in welcher auf eine Sternensäule in der Zentscheuer hingewiesen worden war. Die Zentscheune des Gutes indessen hatte sich als völlig unergiebig gezeigt und von den Sassen hatte sich niemand bemüßigt gefühlt, ihr bei ihren Recherchen zu helfen. Erst eine große Flasche starken Obstbrandes und eine große Seite Speck hatten einem der uralten Köhler endlich eine weitere Sage des sogenannten Boronshofes entlockt. Augenscheinlich hatte der Boronshof seinen Namen nicht zu Unrecht. In der frühesten Vorzeit hatte an dieser Stelle ein kleines Dörfchen gestanden, in dem unvermittelt eine fürchterliche Seuche ausgebrochen war. Den Beschreibungen nach konnte es sich durchaus um eine Form der Keuche handeln, übereinstimmend wurde auf jeden Fall ausgeführt, dass die Krankheit das gesamte Dorf in kürzester Zeit befallen und wie ein räudiger Köter in seinen Fängen gehalten und geschüttelt hatte, bis niemand mehr am Leben war. Lediglich die Bewohner eines Waldbauernhofes, welche im Angesicht des Grauens ein Boronsrad in die Tür gebrannt hatten, kamen mit dem Leben davon.

Und sie selbst stand nun inmitten des schon längst verschollenen Dorfes in der Krypta eines ehemaligen Tempels des Brajan, welcher augenscheinlich zur Menzelszeit bereits geschliffen gewesen war und auf dessen Steinboden man die erste Zentscheuer des Dorfes errichtet hatte.

Und wenn sie den Text richtig deutete, dann hatte ein Vorfahr des Junkers hier unten etwas versteckt, was einerseits für die Familie eine Sache von schiksalhafter Wichtigkeit zu sein schien, bei der das Wissen darum aber andererseits so gefährlich gewesen war, dass man auch dieses 'versteckt' und wohl über die Zeit vergessen hatte. Nur der Spruch hatte die Generationen überdauert und war von Ahn zu Ahn weitergegeben worden in Form des Märchens 'Vom Steinernen Herzen'. Ein Geräusch wie das Reiben von Stahl auf Stein riss Madalieb aus ihren Überlegungen. "Ist da jemand?" Die Hesindegeweihte sah hinauf zu dem Loch hinter ihr, durch das sich die Sprossen einer Leiter zum schwindenden Tageslicht hinaufreckten. Als keine Antwort kam, runzelte sie die Stirn, dann vertiefte sie sich wieder in ihre Betrachtungen.

Ein Kindervers. Ein Kindervers und ein Abzählreim, so viel war sicher. Doch was wollten die anderen Informationen ihr sagen? Plötzlich ging ein Grinsen über das Gesicht der Geweihten. Sie entnahm ihrer Tasche ein Stück weiße Kreide und ließ sich auf die Knie nieder. Die Zunge halb im Munde tauchte sie hinab in die ureigene Vergangenheit, die Stirn in Falten gelegt, die hohe Säule fest im Blick... die Sternensäule. Zwischen Weltenherz und Sphäre. Die so kryptisch anmutende Beschreibung hatte eine Saite in ihr zum Schwingen gebracht und ihre Kindheit hervorgelockt. 'Käsekästchen'! Wie lange war es her, dass sie das Spiel mit ihren Geschwistern im Hinterhof des kleinen Stadthauses gespielt hatte, welches sie mit ihren Eltern bewohnten. Drei und Eins und eine Sphäre. Sie umrahmte die großen Steinquader mit weißer Kreide und schuf ein symmetrisches Muster von Quadraten, ausgehend von den drei hinter der Sternensäule gelegenen Platten, welche wohl die siebte der Sphären bezeichneten, und von der Säule, die augenscheinlich für die sechste Sphäre stand, immer weiter, bis sie die letzten Kästchen für das Weltenherz festgelegt hatte.

Dann hob sie einen kleinen Hammer auf und begann, auf die vor ihr befindlichen Steinplatten vorsichtig zu klopfen, den Kopf lauschend schräg gelegt. Unter den Platten der dritten Sphäre klang es hohl. Ein glückliches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der Geweihten aus, die in die Hände spuckte und einen langen Meißel zog, den sie vorsichtig in den Spalt zwischen den Steinen einfädelte. Die Anstrengung, den Stein hochzuwuchten, ließ ihr die Ohren klingeln. Nichtdestotrotz gelang es und der Stein kippte zur Seite. In der so sichtbar gewordenen Vertiefung ruhten mehrere faustgroße Steine, auf denen sich Linien und Glyphen abzeichneten. Madalieb sog gierig die Luft ein, dann explodierte die Welt um sie herum.

Als die Geweihte wieder zu sich kam, war die Kerze fast vollständig heruntergebrannt. Behutsam tastete sie an den schmerzenden Schädel. Ihre Fingerkuppen suchten sich ihren Weg durch Partien klebrigen Haars, während sich ihre Augen abmühten, die gewohnte Schärfe wiederzuerlangen. Die Höhlung war leer.



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21. Hes 1036 BF
Bücherschatz
Bildungsmisere


Kapitel 6