Geschichten:Weyringhaus - Abschied vom Erben XIII

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Der Schleier fällt

Nachmittägliche Boronsstunde des 4. Phex 1043 BF

Dramatis personae: Oldebor, Rhodena, Roban, Lassan, Fenia, Merisa

Als alles gesagt war, was es hier und jetzt zu sagen gab, als niemand sonst mehr das Wort ergreifen wollte, tat es der Burggraf wieder. “Dann sollten wir jetzt zur Tat schreiten”, sagte er und deutete auf die beiden Schnüre an dem Tuch, das noch den Epitaph verhüllte. “Wer …” ganz offenkundig schluckte er rasch noch das Wort ‘möchte’ hinunter, ließ ihm aber kein passenderes folgen, so dass die Frage unvollendet im Raum schwebte.

Rhodena blickte in die Runde der Anwesenden und sah ihre Schwiegereltern, ihre Schwager und ihre Schwägerin jeweils etwas länger an. Ihr selbst graute es ein wenig vor der Enthüllung und sie befürchtete, bei aller Willenskraft das letzte Fünkchen Beherrschung zu verlieren.


Das Zögern aller war verständlich. Auch wenn Sigman schon seit Wochen im Grab ruhte, schien die Enthüllung des Epitaphs dies nun endgültig zu bestätigen. Und vielleicht brauchte es für manche der Anwesenden auch diese Bestätigung. Roban straffte seine Schultern und wandte sich der verhüllten Tafel zu. Er hoffte, dass sich jemand ihm anschließen würde.

Lassan trat neben Roban. Es galt, die Tatsachen zu verwirklichen. Denn so vieles geschah jeden Tag, allein im nahen Gareth, aber auch überall sonst auf der Welt. Doch nicht alles, was geschah, durfte in Anspruch zu nehmen, wirklich zu sein. Das wurde es erst, wenn es festgeschrieben - aufgeschrieben, oder wie hier, eingeschrieben - war. Wirklich sollte nun werden, dass Sigman gelebt hatte, dass er ihr Bruder gewesen war, dass die Hoffnung des Hauses lange auf ihm geruht und dass er als ein wackerer Mann gestorben war, der sich nichts vorzuwerfen hatte.

Als Lassan neben ihn trat, fühlte es sich richtig an: den Eltern und der Witwe wurde der letzte Schritt durch das älteste und jüngste Geschwister des Verstorbenen abgenommen. Ruhig griff Roban nun nach einer der Schnüre, die das verhüllende Tuch geschlossen hielten und enthüllte dann im stummen Einverständnis mit Lassan den Epitaph.

Die Handwerker hatten wunderbare Arbeit geleistet. Zwar hatte Roban seinen Eltern die Beschaffung des Epitaphs abgenommen, doch auch er sah das vollendete Werk nun zum ersten Mal. Auf grün-braunem Marmor waren Sigmans Namen und Lebensdaten zu lesen und daneben war mit zarten Strichen sein Portrait in den Stein gezeichnet. Und Roban erkannte den Stein und dies ließ ihn kräftig schlucken, aber auch ein wenig lächeln.

Vor einem Dutzend Götterläufen war ihm die ehrenvolle, aber - mitten im Thronfolgezwist der kaiserlichen Geschwister - auch gefährliche Aufgabe zuteil geworden, in Kaiserlich Selaque in Almada den Marmor für den Sarkophag von Reichsbehüterin Emer zu besorgen. Lange hatte er dort nach dem passenden Stein gesucht, bis er einen Block entdeckte, dessen braune Adern wie stilisierte Schwerter übereinander lagen. Seitdem war dieser Block besonderen Würdenträgern vorbehalten. Aber aufgrund der damals entstandenen freundschaftlichen Verbindungen, hatte man eine Platte daraus für diesen besonderen Epitaph ausgewählt und so war nun unter dem Namen Sigmans ein Schwert in der Maserung zu sehen. Unwillkürlich strich Roban sanft darüber.


Fenias unwillkürliches Aufstöhnen durchbrach den Moment der Stille nach der Enthüllung, aber die theatralische Geste ihres Oheim war ihr tatsächlich zuviel.

‘Scheinheilig’, dachte sie, während sie ungläubig nach Worten suchte und gleichzeitig fieberhaft überlegte, was ihr Onkel so verliebt in diesem kalten Stein sehen mochte, was ihr Vater aber nie gewesen war: Sigman galt eher als ein Mann der Feder, als des Schwerts und folgte darin ganz sicher auch der Familientradition.

Ihr Blick ging zum Burggrafen, der es sicherlich ebenfalls mitgetragen hatte, dass weder Ulmia, noch sie selbst, das Waffenhandwerk erlernt hatten.

Mit der Hand, die eben noch unschlüssig in Richtung des Schleiers gedeutet hatte, griff Oldebor ohne nachzudenken nach dem einzigen, was ihm jetzt noch Halt versprach: der Hand seiner Gattin. Sein Blick war auf den Epitaph gerichtet, aber der Burggraf nahm nicht wirklich wahr, was sich dort abspielte.

Wie zuvor Roban berührte auch Lassan kurz die schwertförmige Zeichnung. Doch gingen seine Gedanken ganz andere Wege. Was Sigmans und Robans Leben geprägt hatte - der designierte Nachfolger ihres Vaters zu sein, beziehungsweise für viele Jahre der nächste in der Erbfolge, und daher alles zu lernen, was es zur Führung eines Hauses brauchte, eingeschlossen des Kriegshandwerks - war ihm als jüngstes vieler Kinder erspart geblieben. Verglichen mit Lassans war Sigmans Leben von Pflicht geprägt gewesen. Was Sigmans Neigung gewesen wäre, hatte demgegenüber eine viel geringere Rolle gespielt. Als Lassans scharfe Musiker-Ohren seine Nichte Fenia stöhnen hörte, glitt ein trauriges Lächeln über seine Lippen. Vielleicht hatte auch sie daran gedacht, dass dieser Stein davon zeugte, dass Sigman der gewesen war, der er sein sollte - und nichts davon verriet, ob er der gewesen war, der er hätte sein wollen.

Dass ihr ältester (es kam ihr immer noch seltsam vor, dass Roban nun diese Position unfreiwillig einnahm) und ihr jüngster Sohn einträchtig den Epitaph enthüllten, gab Merisa etwas Ruhe. Vielleicht waren es die verschiedenen Abschiedsworte der anderen und auch dass es ihr selbst endlich gelungen war, ihre Gefühle in Worte zu fassen, aber als der Stein enthüllt wurde, waren da keine Tränen mehr. Traurigkeit ja, aber keine Tränen. So war es ihr möglich, nicht nur Oldebors Hand zu halten, sondern sich leicht gegen ihn lehnend, ihm noch mehr Stütze zu sein. Fenias Reaktion überraschte sie nicht, vielmehr war es eine willkommene Normalität in diesem immer noch außergewöhnlichen Moment. Sie atmete einmal tief durch.

Rhodena betrachtete den Epitaph beinahe gebannt und nahm jedes kleinste Detail in sich auf. Stück für Stück, als wäre er ein kostbarer Schatz, den es zu erfassen gab, strich ihr Blick über den Stein. Jede Maserung, jede kleinste Ader; nichts davon würde sie je wieder vergessen. Ihre Gestalt war unbewegt, ihr Gesicht wieder verhüllt, doch ihr Geist war wach und langsam wich die Trauer der Dankbarkeit. Dankbarkeit, diesen Mann gekannt und geliebt und mit ihm soviel erlebt haben zu dürfen.