Geschichten:Weyringhaus - Abschied vom Erben II

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In der Kapelle

Dramatis Personae:

Edsor, Leibdiener des verstorbenen Sigman von Weyringhaus

Firnlind, Dienstmagd in der Villa Geldana

Rhodena von Ruchin-Weyringhaus, Witwe des Verstorbenen

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Firnlind schritt schnell zum Fenster und öffnete es mit sanfter Gewalt. Es klemmte und quietschte. Dann begann sie vorhandene Kerzenstummel und Öllampen anzuzünden. Die teuren Kerzen waren erst für später gedacht, aber sie mußte etwas sehen. Nachdem sie ungefähr dreimal von einem Ende der Kapelle zum anderen geeilt war, nahm sie ihren Besen und kehrte erst einmal gründlich aus. Mit einem Seitenblick zu Edsor meinte sie “Du kannst dich ruhig auch nützlich machen!”

Doch noch etwas fiel auf, als die beiden Licht im Tempel machten. In der Nische der Hochzeitsgaben, direkt vor der Vase, die Sigman und Rhodena anlässlich ihres Traviabundes gestiftet hatten, kniete eine in einen grauen Umhang gehüllte Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Edsor hatte kaum den Korb mit dem Bankschmuck aufgenommen, als ihn der plötzliche Anblick der unerwarteten Gestalt erschreckte und ihm der Korb auch schon wieder entglitt. “Jesder du werst nerrsch!”, entfuhr es ihm im ersten Schrecken.

“Bitte vielmals um Entschuldigung, Euer Hoch...gnaden”, setzte er mit tiefer Verbeugung nach, denn er war überzeugt, dass es sich bei der Gestalt um niemand anderen als die Witwe des Verstorbenen, Rhodena von Ruchin handelte.

Eigentlich hätte Edsor als dessen Leibdiener die Gattin gut kennen müssen. Das Gegenteil war jedoch der Fall: die Eheleute waren auf Anweisung von Rhodenas Kirche schon lange - soweit Edsor wusste, etwa acht Götterläufe - getrennt. Edsor war erst später in Sigmans Dienst getreten. Zwar hatte er Grund zu der Annahme, dass sein Herr auch in dieser Zeit des nächtens gelegentlich Besuch empfangen hatte. Doch selbst als Leibdiener war Edsor diesem Besuch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Einerseits bemerkenswert, doch andererseits nicht überraschend, wenn dem Besuch die Fähigkeiten eines Mondschattens zu Gebote standen.

Angesprochen blickte die Gestalt in Richtung des Leibdieners ihres verstorbenen Gattens. Er war nicht in der Lage, in das Gesicht der Frau zu blicken, zu sehr lag es im Dunkel der Kapuze. Rhodenas Stimme klang brüchig und leicht nasal, als sie sanft und ruhig sprach: “Der Herr der Schatten mit dir, Edsor. Wie schade, dass wir uns jetzt zu diesem Anlass erst kennenlernen können.”

“Sehr wohl, Euer Hochgeboren”, verbeugte sich Edsor erneut. Er nutzte die Bewegung, hastig den gefallenen Korb aufzuklauben. “Und mein Beileid. Möge der Herr Boron Euren Gemahl selig haben.” Dann kamen ihm die Worte seltsam vor, weil Golgari Herrn Sigman schon einige Monde zuvor geholt hatte. “Gehabt haben”, ergänzte er daher. “Und die Herrin Marbo euch Trost schenken.”

Er erinnerte sich des Schlüssels, mit dem er die Kapelle geöffnet hatte und holte ihn erneut hervor. Er hatte ihn nur verwahrt, der eigentliche Besitzer war Sigman gewesen. Er wollte ihn der Witwe überreichen, da fiel ihm ein, dass das Erbrecht unter den Leuten von Stand kompliziert, der Schlüssel alter Familienbesitz und Rhodena eingeheiratet war. Als Diener fuhr man erfahrungsgemäß besser damit, nicht zu viel Initiative zu ergreifen und einen ausdrücklichen Befehl abzuwarten. Er steckte den Schlüssel wieder weg und legte auch die zweite Hand an den Griff von Firnlinds Korb. “Wenn Ihr gestattet…”

Langsam nahm Firnlind die Hand vom Mund, mit der sie - zu spät - versucht hatte, ihr “Iiieeeks!” zu unterdrücken, als sie die grau gewandete Gestalt bemerkte. Sie klaubte den Besen wieder auf, der klappernd zu Boden gefallen war und atmete zwei- , dreimal durch.

“Verzeiht, Hochgeboren, wenn wir Eure Andacht stören, aber wir sind hier, um die Kapelle herzurichten. Die Gäste werden bald kommen.” Entschuldigend blickte sie auf ihre Füße.

"Danke für deine Worte, Edsor", beantwortete Rhodena zuerst die Trauerbekundung des Dieners. "Fühlt euch beide durch mich nicht gestört." Nach diesen Worten wandte sich der Blick der Witwe wieder der Vase zu, dann senkte sich ihr Haupt.

“Nu komm also”, sagte Edsor zu Firnlind und die beiden machten sich an die Arbeit.