Geschichten:Weyringhaus - Abschied vom Erben

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Der Aufbruch

4. Phex 1043 BF, zur nachmittäglichen Traviastunde

An der Kapelle

Vier ausgetretene Stufen führten empor zu der schweren Tür aus Eichenholz. Noch immer trug sie die Spuren von Wind und Wetter aus der Zeit, da die Kapelle ein kleiner Wehrtempel vor den Toren der Kaiserstadt gewesen war. Schon vor vielen hundert Götterläufen aber war um diesen bescheidenen Travia-Tempel herum ein Kloster errichtet worden, das dem Peraine-Heiligen Sankt Parinor gewidmet war, dem Schutzheiligen der Apotheker, und das einem ganzen Stadtteil Gareths seinen Namen gegeben hatte. Nun waren das Eichenholz und der schmiedeeiserne Türgriff blank gewienert von Tausenden Händen.

Drei Schlüssel gab es für das mächtige Schloss. Einer lag bei den Äbten des Klosters, einen besaß Oldebor von Weyringhaus, der Burggraf der Raulsmark - denn dieser Tempel war die Hauskapelle der Familie. In den Händen seines Erben Sigman hatte sich der dritte Schlüssel befunden. Nun schickte sich sein Leibdiener Edsor an, das Tor zu öffnen. Sein ehemaliger Leibdiener - denn Sigman war zu Boron gefahren. Heute galt es, endgültig von ihm Abschied zu nehmen.

Das galt auch für den Leibdiener. Edsor war oft genug im Schatten seines Herrn vor und durch das Portal getreten. Doch den Schlüssel hatte sich Sigman stets reichen lassen, um eigenhändig aufzuschließen - auch, als er nur noch eine Hand zur Verfügung hatte. Nun rumurberte Edsor kurz in seinen Taschen, bevor er das erste Mal den Schlüssel, dessen Räude die Form eines Gänsekopfs hatte, selbst in das Schloss einführte.

Firnlind trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Neben ihr stand ein großer Korb mit den Frühlingsblüten und Bändern, mit denen die Kapelle geschmückt werden sollte, dezent aber feierlich. Sie hatte ein dickes Bündel teurer Bienenwachskerzen unter dem linken Arm, sowie Besen und Wischtuch in der rechten Hand.

“Nun mach schon, Edsor! Die Herrschaften sind bestimmt schon auf dem Weg. Ich werde vor Scham im Boden versinken, wenn ich nicht mehr rechtzeitig die Spinnweben wegbekomme.”

“Nur die Ruh, Madla. Kimmst mit deiner Hadra schon frieh genuch.” Er schob den Flügel auf und die kalte Luft mit dem Geruch von Steinstaub, altem Holz und Weihrauch wehte den beiden entgegen. Wie immer war es dunkel in der Kapelle, deren Fenster im Laufe der Jahrhunderte ein um der andere Anbau verschlossen hatte, bis nur noch eins verblieben war. Firnlinds Kerzen taten Not.

Als die Augen Edsors und Firlinds begannen, sich aus dem Licht des Tages heraus an die Dunkelheit und die Schatten im Tempel zu gewöhnen, schien ihnen etwas anders. Doch noch konnten sie nicht greifen, was es war.

Nur langsam schlich ihnen ein schwerer, würziger, aber auch süßer Geruch in die Nase. Er schien von einem kleinen Baum - er mochte einen Schritt messen - auszugehen, der neben dem Altar stand.

Edsor und Firnlind hatten ihn noch nie gesehen.

“Da soll mich doch… Nu sag, hat’s eine Hochzeit gegeben kürzlich?”

“Davon weiß ich nichts.” Firnlind zuckte mit den Schultern. “Aber gut, wenn es in den alten Mauern ein bißchen frisches Leben gibt! Kalte Steine gibt’s hier fast zu viele.” Und Trauermienen wird es heute auch mehr als genug geben, dachte sie.