Geschichten:Waltrudes letztes Werk

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Rudes Schild, Abend des 9. TRA 1043 BF

Die Tür schlug zu. Der Riegel scharrte an der Außenseite und dann rasselte der Schlüssel im Schloss und die Schritte des Wächters entfernten sich. Praiodan von Steinfelde sah sich in dem Raum um. Er war trocken und nicht zu kalt, das Lager in der Ecke war ein richtiges Bett, sogar Hocker und ein grober Tisch gehörten zur Einrichtung. Eine Öllampe funzelte darauf vor sich hin und erhellte den Umriss der Verurteilten. Sie hatte sich bei seinem Hereinkommen nicht umgedreht und auch als er näher trat, schien sie das nicht aus ihrer Ruhe zu bringen, denn ohne Unterlass kratzte ihre Feder über ein Pergament, setzte Buchstaben neben Buchstaben, Wort für Wort, in einer feinen klaren Schrift, nur unterbrochen von einem Klappern, wenn sie die Feder ins Tintenfass tauchte. Das war sie also: die Verschwörerin, die Mörderin, die Reichsverräterin; die Baronin von Vierok, Base des mächtigen und gefürchteten Pfalzgrafen Parinor.

Praiodan räusperte sich: „Waltrude von Borstenfeld?“

„Ihr habt es erraten“, kam die gleichmütige Antwort, ohne dass damit eine Unterbrechung im Schreibfluss verbunden gewesen wäre, „Und mit wem habe ich die sogenannte Ehre?“

„Ich bin Praiodan von Steinfelde.“

Waltrude legte die Schreibfeder zur Seite und wandte ihr von einer wilden grauen Mähne umrahmtes Gesicht, aus dem die wölfisch glänzenden Augen tief aus ihren Höhlen hervorlugten, dem Hartsteener zu: „Ach, Ihr seid das also. Mein unseliger Vetter erwähnte einmal Euer bestenfalls mäßiges Talent in den Schauspielkünsten.“

„Meine Talente liegen eindeutig auf anderen Gebieten“, antwortete der Ritter trocken. Die Episode, auf welche die Borstenfeld anspielte, war ihm nach wie vor peinlich.

„Und welche wären das wohl?“

„Ich bin gut darin, anderen den Kopf abzuschlagen.“

„Oh“, sie zuckte mit den Schultern und ließ ein freudloses Kichern hören, „Nun, für solche Leute gibt es ja derzeit überall Verwendung, wie ich höre; allerdings auch reichlich Konkurrenz, nicht wahr?“

„Ich bin königlicher Halsmeister und wegen Euch hier.“

„Ah, Jetzt also ist es soweit? Ich hätte gedacht, ich könnte mein Testament noch abschließen“, ernst wies sie auf das Schreiben vor sich auf dem Tisch.

„Die Stunde, da Ihr vor Rethon treten werdet, ist auf den morgigen Aufgang der Praiosscheibe festgelegt worden. Ihr habt diese Nacht, Euch darauf vorzubereiten. Wenn Ihr dafür noch Wünsche habt, sei es Priester oder ein letztes Mahl, richtet sie an Euren Kerkermeister. Meinerseits kann ich Euch nur dies hier anbieten“, Praiodan griff in seine Tasche, holte eine verkorkte Kristallphiole hervor und hielt sie der Borstenfeld hin.

„Was ist das?“

„Ein Mittel, das Euch Euren letzten Gang... erleichtern wird.“

„Nur erleichtern? Nicht: Ersparen?“, misstrauisch betrachtete die ehemalige Baronin von Vierok die rötlich schimmernde Flüssigkeit in der Phiole, „Oder wollt Ihr Totentanz gar um sein Recht betrügen?“

„Mitnichten. Dieser Trank wirkt nur dahin, dass Ihr den Weg zum Richtblock ruhigen Schrittes und ohne Zagen gehen könnt.“

„Damit Ihr leichtes Spiel habt?“

„Gebt Euch keiner falschen Hoffnung hin. Rudes Schild ist nicht umsonst königliches Gefängnis. Ihr werdet morgen sterben. Wie qualvoll das geschieht und wie man Euch dabei in Erinnerung behält, liegt bei Euch.“

Ihre Hände schlossen sich um die Phiole, während sie verstehend nickte. Dann wandte sie sich wieder den Papieren auf dem Tisch zu: „Gut. Also dann bis morgen. Ihr seht, ich habe noch zu tun. Und, wenn Ihr meinem Vetter begegnet, richtet ihm aus, dass ein Platz in den Niederhöllen für ihn vorbereitet sein wird. Gehabt Euch wohl.“

Dann würdigte Waltrude ihn keines Blickes mehr. Während Praiodan nun auf die Rückkehr des Wächters wartete, lauschte er dem erneut beginnenden unentwegten Kratzen der Feder auf dem Pergament. Mit den scharf vom Schatten der Ölfunzel gezeichneten verbitterten Zügen und weit vorn übergebeugt brachte die Verurteilte ihr letztes Werk emsig voran.