Geschichten:Waldfriede und der Inquisitor - Ratte am Mittag

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Dorf Brückstetten, 1036 BF

„Was haben wir denn hier?“

Unsanft fühlte sich Waldfriede gepackt und hoch gehoben. Erschrocken riss sie die Augen auf. Schwielige Pranken pressten ihr die Arme an den Leib, dass sie kaum mehr atmen konnte. Der Mann, der sie erwischt hatte, hielt sie auf Armeslänge von seinem stoppelbärtigen Gesicht entfernt. Sein Atem roch nach Knoblauch und Bier, während er sie aus seinen kleinen von dunklen Ringen umgebenen Augen musterte.

„Borfrede, Helus, schaut euch das an! Hier ist noch eine von diesen… Kreaturen, die Radiata draußen im Hof erwischt hat, aber meine ist größer.“

„Genau, stimmt.“

„Also wenn ihr mich fragt, dass diese Zauberviecher hier auftauchen, ist kein Zufall.“

„Und wenn schon. Die sind harmlos…“

„Harmlos, sagst du? Schau dir mal Radiata an! Eine Schweinsnase haben diese kleinen Biester ihr angehext, als sie sie einfangen wollte, also ehrlich!“

Zwei weitere Gesichter tauchten in Waldfriedes Gesichtsfeld auf: ein junger Kerl mit kurzgeschorenen Haupthaar und einer Unzahl Sommersprossen und eine Frau, deren Gesicht sie unwillkürlich an einen Karpfen erinnerte. Alle drei trugen die Tracht der Bannstrahler. Hinter ihnen an der Wand lehnten Hacke, Spaten und Schaufel. Ein ziemlich großer Dreckhaufen hatte sich daneben angesammelt und auf der anderen Seite ein etwa schritttiefes Loch im Stallboden aufgetan.

„Was machen wir jetzt damit?“

„Genau das gleiche wie die Hauptfrau für die anderen beiden befohlen hat: in Eisen wickeln und in die Basaltkiste sperren, bis Spangenberg Zeit hat, sich darum zu kümmern.“

„Weißt du, ob er schon was rausgefunden hat?“

„Nein.“

„Pfffft, immer dieses Abwägen. Es ist doch sonnenklar, dass der Junker hier Helfer gehabt haben muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der jahrelang sein Unwesen treiben konnte, ohne dass jemand was davon bemerkt hat, also ehrlich. Die decken sich doch alle gegenseitig.“

„Genau. vielleicht sollten wir sie gleich alle einkassieren und mitsamt dem Zaubergezücht hier den läuternden Flammen übergeben. Der Herr Praios wird die seinen schon herausfinden.“

„Wenn du erst Inquisitor wirst, kannst du das gerne befehlen. Bis dahin mache ich, was der Spangenberg sagt. Und der sagt, die Ratten könnten uns zu dem Geheimversteck des Ketzers führen, wo sich mehr stichhaltige Beweise finden lassen.“

„Als ob es die noch bräuchte, also ehrlich.“

„Ist halt seine Masche, die Verdächtigen damit zu konfrontieren und sich ihre Reaktion anzuschauen.“

„Aber zurück zu diesem kleinen Mo…“

Weiter kam er nicht, denn Waldfriede hatte ihre Überraschung überwunden. Auch wenn sie noch nicht wieder bei vollen Kräften war, es genügte, um den groben Fäusten zu entkommen. Sie landete hinter den dreien am Rand der Grube und sah ihrem vermeintlichen Fänger zu, wie er verdutzt in die Luft griff, und die beiden anderen die Augen aufrissen. Dann sprang sie kurz entschlossen nach unten und rutschte hinein in das Dunkel des Rattenlochs, immer tiefer in das undurchdringliche Schwarz der Erde hinein. Schließlich kam sie auf der Gangsohle zum Halten. Ihr Bein schmerzte fürchterlich. Für einen Moment musste sie sich setzen und fuhr mit der Hand über die Bissstelle, um den Schmerz mit ihrer verbliebenen Kraft zu lindern. Dann grübelte sie über das Gehörte nach. Was sollte ein Ketzer sein? Vielleicht meinte er einen besonders wilden Kater? Und der Mann namens Spangenberg wollte einen Beweis? Aber was war das überhaupt, ein Beweis? Vielleicht etwas zu essen? Immerhin hatte er ziemlich abgemagert ausgesehen. So, wie die Leute oben auf die Ratten reagiert hatten, mussten diese etwas mit der Sache zu tun haben, vielleicht bewachten sie den Beweis oder wollten ihn selber essen? Doch wenn es etwas zu essen war, dann würde sie es schon finden. Brachte sie dem Spangenberg den Beweis, würde er vielleicht ihre Kinderchen freilassen, die die Leute in Weiß eingesperrt hatten. Ihr Plan stand somit fest.

Waldfriede schnupperte. Moder und Fäulnis wehten in ihre Nase, dazu der Geruch von Scheiße und Blut. Aber darunter, kaum wahrnehmbar, ein sonderbar süßlicher, anziehender Geruch. Konnte das der Beweis sein? Sie stand auf und schob sich tastend vorwärts. Steine und Erde bröckelnden von der Decke, wenn sie sich durch eine Engstelle zwängte, und dann wieder verbreiterte sich der Gang so weit, dass sie die Wände nicht mehr mit beiden Händen erreichen konnte. Da hörte sie ein sich näherndes Trippeln krallenbewehrter Füße. Mit angehaltenem Atem presste sich Waldfriede zwischen zwei vorspringende Wurzeln und tatsächlich: das Paar glühender Augen huschte, ohne Notiz von ihr zu nehmen, vorbei. Klopfenden Herzens folgte sie dem über die Wände wandernden Rattenschatten so schnell und leise sie konnte. Irgendwo in nicht in allzu weiter Ferne musste ein Licht sein, dessen Schein sich – wenn auch sehr schwach – bis hierhin ergoss. Von dorther kam ein vielstimmiges Fiebsen und Scharren, das desto lauter wurde, je näher sich Waldfriede, geführt von dem intensiver werdenden wundersamen Duft, heran schlich.

Schließlich wich der enge Gang vor Waldfriede zurück und gab den Blick frei auf eine seltsame Szenerie. Vor ihr lag eine halbrunde Höhle, in der sich eine Vielzahl schwarzer Ratten tummelte. Neben dem Gang, durch den sie gekommen war, gab es noch andere, durch die sich etliche weitere der Nager in den Raum drängten oder ihn verließen. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Höhle durch eine feste Mauer mit einer geschlossenen Tür darin abgegrenzt. In der Mitte erhob sich ein quadratischer Steintrog, über dem eine golden glänzende Laterne von der Decke hing und alles in ein dunkelrotes Flackern tauchte. Immer mehr Ratten versammelten sich um den Stein und starrten gebannt hinauf in das Licht. Doch dieses Gebaren interessierte Waldfriede nicht – ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den Trog gerichtet, dem der jetzt alles andere überdeckende verführerische Duft entstieg. Irgendwie musste sie dorthin gelangen, ohne die Aufmerksamkeit der zahlreichen Nagetiere zu erregen. Sie sah auch dass die Lampe an einem Seil hing und dieses Seil lief über eine an der Kavernendecke befestigte Rolle und war an einer starken Wurzel zu ihrer Rechten geknotet. Im Nu fasste Waldfriede ihren Entschluss. Hinter dem Rücken einer Ratte flitzte sie los und kletterte wieselflink die Wurzel bis zu dem Seil hinauf.

Als sie das Seil mit beiden Händen ergriff, bemerkte sie die Vielzahl der Augen, die plötzlich von unten auf sie gerichtet waren, hörte das Kratzen von krallenbewehrten Pfoten und das Peitschen nackter Schwänze auf dem steinernen Boden. Ein Zurück gab es nun nicht mehr und mit wilder Entschlossenheit klammerte sie sich mit Händen und Füßen an und hangelte los, unter sich die nunmehr wild quiekende, quietschende, fiepende, fauchende Rattenmeute, die anfing, übereinander zu steigen, um so an sie heran zukommen. Das Seil vibrierte immer stärker, als einer der schwarzen Unholde, die ihr nach ebenfalls an den Wurzeln empor geklettert waren, begannen, eben dieses zu durchbeißen. Sie musste einfach schneller sein! Den halben Weg hatte sie gerade geschafft, da rissen die letzten Fasern unter den wütenden Attacken der Nager. Walfriede klammerte sich fest und wurde mit dem nunmehr frei schwingenden Seil nach schräg oben gerissen. Dabei knallte dabei mit der zugleich nach unten rasselnden Laterne zusammen und verlor den Halt. Ohne auch nur ans Schreien denken zu können stürzte sie, sich in der Luft überschlagend, hinab.

Zu ihrer Überraschung war die Landung aber weniger schmerzhaft als sie befürchtet hatte, denn etwas, das sich anfühlte wie ein herbstlicher Waldboden, bremste ihren Fall ab. Halb betäubt und in eine Wolke betörenden Duftes eingehüllt, der ihr fast den Atem nahm, begriff Waldfriede, dass sie in den Trog geplumpst war. Derselbe war aber nicht leer, sondern tatsächlich mit Erde und kleinen Rindenstücken gefüllt. Und um sie her standen Pilze von einer Art, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ein paar waren bei ihrem Aufprall plattgedrückt worden oder auseinandergeplatzt und ihre Sporen waberten im Flackern der umgestürzten Laterne wie Eibenpollen im Frühjahr. Sie waren klein und ihre Hüte von einer Farbe, die sich kaum vom Grau des Steins abhob. Die bleichen Lamellen auf ihrer Unterseite waren mit purpurnen Punkten besprenkelt und leuchteten ein wenig von selbst. Sie konnte nicht umhin, einen dieser Pilze abzubrechen. Das würde einen besonderen Leckerbissen für sie und ihre Kinderchen abgeben. Ihre Kinderchen! Die Ratten! Waldfriede sprang auf und warf einen hastigen Blick über die Brüstung des Troges. Doch zu ihrer Verwunderung schienen die Nager nicht mehr daran interessiert, ihr den Garaus zu machen. Sie schenkten ihr überhaupt keine Beachtung mehr, sondern hockten still eng nebeneinander und sogen den dicken Dunst begierig durch ihre weitaufgerissenen Nasenlöcher ein. Nachdenklich blickte Waldfriede auf die Pilze. Konnte dies der gesuchte Beweis sein? Ein Beweispilz? Kurzerhand griff sie zu. Mit zwei der sonderlichen Pflanzen in den Händen hüpfte sie vom Trog herunter und ging vorsichtig aber unbehelligt durch die schnuppernde Rattenschar zu dem Gang zurück, aus dem sie gekommen war. Den Weg zurück zu finden würde einfach sein. Jetzt musste sie nur noch den großen Mann namens Spangenberg dazu bringen, im Austausch für den Beweispilz ihre Kinderchen freizulassen!


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1036 BF zur mittäglichen Praiosstunde
Ratte am Mittag
Milch am Morgen


Kapitel 2

Pilz am Abend
Autor: Steinfelde