Geschichten:Und dann bist du frei

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

»Du kannst gehen, Omar«. Magister Jabal wedelte seinen Diener mit der Hand hinfort, der auch sogleich verschwand, einen Duft von Rosenwasser hinter sich herziehend. Magister Jabal mochte es, wenn seine Diener gut rochen. Sie sollten auch gut aussehen und gut gebaut sein. Vor allem aber: Sie sollten gut dienen.

Der alte Magier saß auf einem weichen Diwan inmitten eines verschwenderisch dekorierten Salons, wie er tulamidischer in Fasar nicht hätte sein können. Golddurchwirkte Stoffe, seiden Baldachine, damastene Vorhänge, handgewebte Teppiche, goldene Räucherschalen, ein Bassin aus rosenfarbenem Marmor, in dem eine kleine Fontäne lustig plätscherte und Goldfische ein sorgenfreies Leben genossen - es war alles da, was das Klischee sich erträumt. Und womöglich ein Tulamide im Exil benötigt, um seine Seele zu trösten, die unter der Ferne zur Heimat, den Sitten der Fremde und den Temperaturen des Nordens litt. Magister Jabal tat all dies - und sättigte überdies seinen Hunger nach Luxus, der im Laufe seines Lebens eher noch größer geworden war, wohl weil er als Gassenjunge in Fasar schon als Kind genügend Entbehrungen für ein ganzes Leben erdulden musste.

Nachdem Omar gegangen war, der ein aus Silber getriebenes Tablett mit Moccatässchen auf ein filigranes Gestell aus geschnitztem Efeuholz abstellt hatte, wandte der Hausherr sich seinem Gast zu, einer schönen Frau in den Fünfzigern, die ihre Haare schwarz gefärbt und ihren Teint geschminkt hatte, aber eine so adrette Erscheinung bot, dass der alte Magister ganz wohlwollend war. »Magistra, nun sind wir allein, und ich höre mir gern an, was Ihr auf dem Herzen habt.«

»Habt Dank, Magister Jabal. Ich bin hier, weil ich Euren Rat benötige und Euer Können.« Die Stimme der Magistra schleppte einen schweren, südlichen Akzent mit ihrem klangvollen Alt mit. Zwar hatte sie in Rashdul gelernt, wie das Akademiesiegel auswies, aber die Frau stammte definitiv von weiter im Süden.

»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Magistra«. Jabal senkte leicht das Haupt, was eine Geste der Demut sei sollte, aber ausgesprochen gönnerhaft wirkte,

»Ihr geltet weit über die Grenzen Eslamsgrunds hinaus als Experte, ja als Koryphäe der Magierkriege und ihres Erbes im Hochland von Caldaia. Eure Forschungen zu den Mysterien des Weydenauer Sees sind bahnbrechend, Euer Verständnis der Magie des Daimonenmeisters ist beispiellos.« Magister Jabal verzog keine Miene; offensichtlich regte sich kein Widerspruch in ihm zu dieser Eloge auf sein Können. Auch in den folgenden Minuten, in denen die Magistra weitere Leistungen und Fähigkeiten des Eslamsgrunder Analysemagiers hervorhob und in allen Farben des Regenbogens lobte, nahm er alles an, ohne auch nur eine Regung falscher Bescheidenheit zu zeigen. Langsam näherte sich das Gespräch allerdings dem Kern des Anliegens, das die Magistra nach Eslamsgrund geführt hatte. Nach einem weiteren, ausholenden Loblied auf die analytischen Fähigkeiten Magister Jabals holte die Magistra ein Bündel aus Seidentüchern aus ihrer Robe, legte es anstelle der beiseitegeräumten Moccatassen auf das Tischchen und schlug die Seide zurück. Zum Vorschein kam eine Brille aus gelbem Horn, der ein Glas fehlte.

»Magister, wisst Ihr, was dies ist?«

Magister Jabal nahm das Artefakt in die Hand, wendete es hierhin und dorthin, fixierte es aufmerksam und strich mit der anderen Hand immer wieder durch die Luft: »Hm. Ein komplexes Artefakt, Magistra. Ein modifizierter applizierter Xenographus ermöglich dem Träger der Brille, ganz bestimmte Schriftstücke zu entziffern. Ich meine, mit modifiziert: hoch spezialisiert. Es handelt sich um ein Instrument ganz persönlicher Prägung. Dies Artefakt kann aber noch mehr: Ein applizierter Reversalis Suhpargonex ermöglicht es, versehen mit einer Komponente der Magica Controllaria, dem Träger der Brille, wenn er sie verkehrt trägt, seien Hand so zu führen, dass eine Nachricht verschlüsselt wird. Wenn Ihr so wollt, ist diese Brille eine Chiffrier-/Dechiffriermaschine für ganz bestimmte Zwecke. Und: Sie hatte zwei Gläser, wie alle Brillen. Doch eines dieser Gläser - ich meine, es ist reinster Diamant - fehlt ja. Womöglich kann es seine Fähigkeiten auch losgelöst vom Trägerartefakt entfalten.« Magister Jabal blickte selbstzufrieden in das erwartungsvolle Gesicht der Magistra.

»Das alles habt Ihr so schnell gesehen?«

Magister Jabal nickte noch selbstzufriedener.

»Könnt Ihr herausfinden, wo sich das andere Glas befindet?«

»Meine Teure, vielleicht. Aber will ich das? Ich sehe dem Artefakt ja auch an, dass es eindeutig aus der Schule des Sphärenschänders stammt, den Ihr vorhin Daimonenmeister genannt habt. Ich sehe überdies, dass es für Augen gefertigt wurde, denen Madas Gabe mangelt. Das gefällt mir nicht.« Magister Jabal wedelte mit der linken Hand und ein heller Glockenton erklang aus dem Nichts, der den Diener Omar rief.

»So, das gefällt Euch nicht?« Die Augen der Magistra blitzten angriffslustig. »Schade. Ich hatte eigentlich vor, mit Euch noch über sehr viele weitere Artefakte zu sprechen. Nämlich jene, die in Eurem Gewölbe lagern.«

Magister Jabal zog die geschwärzten Brauen zusammen: »Diese Artefakte sind meine. Ich habe sie in meinen Studien über die Magierkriege zusammengetragen und nicht vor, sie dahergelaufenen Fremden zu zeigen.«

»Wer spricht von zeigen, Magister? Ich wollte mit Euch darüber sprechen, wie wir sie wieder in den Dienst stellen können. Zumindest einige davon. Ich hatte gehofft, Euch hierfür gewinnen zu können, aber ich dachte mir schon ….« Die Magistra lächelte und entblößte makellose weiße Zähne. Auf der Außenseite der oberen Schneidezähne glitzerten aufgetragene Edelsteine, deren arkane Struktur sofort die Aufmerksamkeit Jabals auf sich zogen.

»Ihr habt mit Dämonen zu tun, Hexe!«, rief er aufgebracht aus. Dann wollte er an sein Amulett greifen, das ihn in Sicherheit bringen sollte, doch dazu kam es nicht. Während die Magistra weiter grinste, war Omar unnatürlich schnell herangesprungen und hatte dem alten Magister ein Stilett sauber von hinten ins Rückenmark getrieben und so ein Gelehrtenleben in Augenblicken beendet.

»Lass uns einpacken, Omar«, sagte die Magistra, indem sie sich erhob und das Artefakt wieder an sich nahm. »Wir wollen ins Gewölbe gehen und sehen, was der Marschall alles gebrauchen kann. Dann übergeben wir es den Samthandschuhen.

Und dann bist du frei.«