Geschichten:Nicht mit leeren Händen

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Traviakapelle im Kloster Sankt Parinor, Königreich Garetien, am frühen Abend des 10. Hesinde 1043 BF

Das schwere, verwitterte Portal aus Eichenholz öffnete sich knarrend. Gerade weit genug, dass ein Mann hindurchschlüpfen und das Tor vorsichtig wieder hinter sich zuziehen konnte. Seine Stiefel scharrten über den Steinfußboden, in den die Schritte aus Jahrhunderten schon tiefe Spuren hineingegraben hatten. Das Geräusch war nicht laut, aber in der Stille der Kapelle hallte es von den Mauern wider. Er nahm in einer Bankreihe links des Mittelgangs Platz, ganz außen, nur zwei Armeslängen von der Wand entfernt.

Die letzten Strahlen der Abendsonne waren verschwunden. Sie hatten die Kapelle noch in rotgoldene Fluten getaucht – denn nur die Fenster im Westen ließen überhaupt noch Licht in das Gebäude, die anderen Fenster blickten auf Mauern und in dunkle Räume. Einst, vor vielen hundert Götterläufen, war die Kapelle ein kleiner, freistehender dörflicher Tempel gewesen. Aber als Burggraf Thessan das Kloster Sankt Parinor stiftete, da ließ er die neuen Mauern auf drei Seiten um den alten Bau herum errichten, so dass aus dem Tempel eine Hauskapelle wurde. Eine Kapelle, in der seither die Familie Weyringhaus ihre Götterdienste feierte, ihre Traviabünde schloss und ihren berühmtesten Ahnherrn begraben hatte.

Nun suchte sich silbriges Licht gleichsam tastend einen Weg in die Kapelle. Es war nur der Widerschein des Vollmonds, der noch am Nachthimmel emporstieg. Die Strahlen waren zu schwach, um die bunten Fenster zu durchdringen. Nur wo das Glas hell oder farblos war, gelangte das Mondlicht in den Raum und versah Säulen und Boden hier und da mit einer diffus grauen Kontur.

Für das Spiel des Lichtes hatte Sigman nur beiläufige Blicke übrig. Er saß – in der Kühle des Winterabends fröstelnd, was er sich nicht anmerken lassen wollte – auf der Bank, den rechten Arm raumgreifend auf der Rückenlehne ausgestreckt. Die linke Hand lag kraftlos in seinem Schoß. Der Erbe der Raulsmark schaute ins Dunkel links vor sich. Dort in der Wandnische lag eine versteckte Tür, die wohl bei seiner Familie und im Kloster in Vergessenheit geraten war. Er selbst wusste nur, dass sie dort war – aber wie es dahinter aussah und wohin sie noch führen möge, das war auch ihm verborgen geblieben wie der Neumond. Seine Frau hatte ihn darum gebeten, dieses Geheimnis zu wahren.

Rhodena, seine Frau. Dass sie ein Mondschatten war, hatte sie ihm noch vor der Hochzeit verraten – hier, in dieser Kapelle. Sie liebte ihn, sie hatte ihm drei Kinder geschenkt – und lange Zeit hatten beide sich in trügerischer Sicherheit gewiegt, dass sie niemals zwischen dem Weiheschwur und dem Ehegelübde würde entscheiden müssen. Aber als Sigman entführt wurde, die Entführer seine abgeschlagene Hand in die Villa Geldana sandten und die Familie mit dem Allerschlimmsten rechnen musste … da hatte Rhodena sich in die Hand ihres Gottes begeben – und nach der glücklichen Rettung ihres Mannes musste sie ihren Teil des Handels erfüllen.

Das allein wäre noch auszuhalten gewesen. Doch dann kam das Verbot der Nandus-Kirche im Königreich Garetien und der daraufhin ausgesprochene Bann der Kirchen der Hesinde und des Phex gegen den garetischen Adel. Der Bann traf auch ihn, Sigman, obwohl er den Tempel der Hesinde während der Schlacht in den Wolken mit dem Schwert in der Hand verteidigt hatte, obwohl die Familie Weyringhaus gegen das Verbot der Nandus-Kirche gestimmt hatte und es jetzt nur den Buchstaben nach befolgte – so dass die Raulsmärker Büttel achselzuckend zusahen, wenn Nandus-Geweihte von den Mauern der Reichsstadt Gareth hinunter in die Gassen von Roßkuppel predigten. Seit dem Verdikt der Kirchen waren die Bande zwischen ihm und seiner Frau zerschnitten, durfte er Rhodena nicht mehr sehen.

Zumindest nicht offiziell. Natürlich war ein solches Verbot in der Phex-Kirche zugleich als Einladung zu verstehen, es möglichst gewitzt zu umgehen. Offenbar waren die heimlichen Treffen in Vollmondnächten hier in der Kapelle gewitzt genug – denn auch wenn inzwischen so einige Menschen davon wussten oder zumindest ahnten, hatte doch niemand es unterbunden, hatte die Kirche keinen Riegel vorgeschoben (der dann, ganz phexgefällig, wieder heimlich hätte geöffnet werden müssen).

Wie üblich hatte er sie nicht kommen hören. Erst als sie ihre warme Hand auf seine frostkalte Wange legte, schrak er aus seinen Gedanken auf. Kurz zuckte er mit dem linken Arm, um seine Hand auf ihre zu legen – aber wie so häufig fiel ihm mitten in der Bewegung wieder ein, was er so gern verdrängte: dass seine linke Hand ein kaltes, gefühlloses Stück Metall war. Sie war von zwergischer Meisterhand gefertigt und ein Wunderwerk der Mechanik, aber eben doch nicht im Geringsten vergleichbar mit einer warmen, weichen, menschlichen Hand. Er umarmte seine Frau mit der Rechten.

Später am Abend desselben Tages:

„Ich weiß nicht, ob ich unsere nächste Verabredung einhalten kann“, murmelte er in ihr Ohr. „Wir werden zur Kaiserin reisen. Vielleicht können wir sie doch dazu bewegen, ihren Einfluss in der Fehde geltend zu machen. Für ihre Kaisermärker. Aber das kann ein wenig länger dauern.“

Seine Frau schien nicht überrascht, wie üblich. Vermutlich hatte sie schon aus ihren anderen Quellen von diesen Plänen erfahren. „Grüß doch bitte meine Mutter herzlich von mir und von den Kindern“, sagte sie. „Das werde ich ganz gewiss tun“, erwiderte Sigman. „und zwar nicht nur, weil sie zur Familie gehört. Ich hoffe, dass Elea uns den Weg zum Ohr der Kaiserin eröffnet.“

Rhodena setzte sich auf, ergriff die Hand ihres Mannes und schaute tief in seine Augen. Das war nur eins der vielen Dinge, die er an ihr liebte, auch wenn er es nicht verstand. Sie schien es nicht zu kümmern, dass seine linke Hand nur ein metallenes Etwas war – sie fasste sie zart mit beiden Händen, als sei sie aus Fleisch und Blut. Er konnte es nicht spüren, sondern nur ahnen – und bald darauf wenigstens an seiner lebendigen Rechten nachfühlen, denn Rhodena ergriff auch sie und hauchte sogar einen Kuss darauf. „Das wird sie bestimmt“, machte sie ihrem Gatten Mut. „Ihr kommt schließlich nicht mit leeren Händen.“