Geschichten:Nicht in seinem Grab - Voller Mond

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Traviakapelle im Kloster Sankt Parinor, Königreich Garetien, am späten Abend des 12. Travia 1045 BF:

Dramatis personae:

Oldebor von Weyringhaus, Burggraf von Kaiserlich Raulsmark,

Merisa von Weyringhaus-Rabenmund, seine Gattin

Das schwere, verwitterte Portal aus Eichenholz öffnete sich knarrend. Gerade weit genug, dass eine Frau hindurchschlüpfen und das Tor vorsichtig wieder hinter sich zuziehen konnte. Ihre Schuhe glitten über den Steinfußboden, in den die Schritte aus Jahrhunderten schon tiefe Spuren hineingegraben hatten. Das Geräusch war nicht laut, aber in der Stille der Kapelle hallte es von den Mauern wider. In der vordersten Bankreihe links des Mittelgangs saß ein alter Mann. Seine Umrisse zeichneten sich im Licht des Vollmondes ab, der inzwischen durch die wenigen verbliebenen Fenster schien. Einst, vor vielen hundert Götterläufen, war die Kapelle ein kleiner, freistehender dörflicher Tempel gewesen. Aber als Burggraf Thessan das Kloster Sankt Parinor stiftete, da ließ er die neuen Mauern auf drei Seiten um den alten Bau herum errichten, so dass aus dem Tempel eine Hauskapelle wurde. Eine Kapelle, in der seither die Familie Weyringhaus ihre Götterdienste feierte, ihre Traviabünde schloss und ihren berühmtesten Ahnherrn begraben hatte.

Der Alte hatte den Kopf gehoben, als sie hereinkam. Selbst in diesem Dämmerlicht wusste sie, dass er ihr entgegenlächelte. Sie nahm neben ihm Platz und ergriff seine Hand. Er erwiderte den sanften Druck. Schweigend und in stiller Eintracht saßen sie eine Weile nebeneinander. Sie dachten an ihren ältesten Sohn, an den nun seit über einem Jahr ein Epitaph in dieser Kapelle erinnerte und der seine letzte Ruhestätte weit vor der Zeit im Familiengrab draußen im Klosterhof gefunden hatte.

„Unsere Bank“, sagte schließlich Burggraf Oldebor und klopfte mit seiner freien Hand kurz auf das dunkle Holz. „Wir haben sie gestiftet, als wir hier den Traviabund geschlossen haben.“ – „Heute vor fünfzig Götterläufen, auf den Tag genau“, antwortete seine Gattin Merisa, den Kopf an seine Schulter gelehnt. – „Hättest du gedacht, dass wir es so lange miteinander aushalten?“, wagte ihr Mann einen kleinen Scherz. Sie ging darauf nicht ein, sondern hob den Kopf, sah ihm in die Augen und erwiderte schlicht: „Ich möchte keinen einzigen Tag davon missen.“ Die Antwort war eine innige Umarmung.

Nach einigen langen Atemzügen löste der Burggraf sich wieder aus den Armen seiner Gattin, hielt aber ihre Hand weiter fest. Sein Blick fiel wie zufällig auf die Grabplatte im Mittelgang. Die Schritte von Jahrhunderten hatten die alten Inschriften verwischt, kaum mehr als der in großen Lettern eingemeißelte Name war noch zu entziffern: Thessan. Die abgewetzte Platte war rundherum mit Blumengestecken in den Farben des Hauses umkränzt.

Damit man die frisch verfugten Ränder nicht sehen konnte.

„Sechs Hochzeiten haben wir seitdem hier miterleben dürfen“, fuhr Merisa fort, „fünf unserer Kinder und die erste Enkelin.“ – „Das werden nicht die letzten gewesen sein“, setzte Oldebor mit mehr Zuversicht hinzu, als er empfand. „Ulmia wird sich bald einen Gemahl suchen, und nach allem, was man so hört, hat der gute Leomar im Fuchsrudel zarte Bande mit der jungen Keilholtzerin geknüpft.“

Bei der Erwähnung ihres Enkels seufzte Merisa. Ihr Gatte konnte ihre Gedanken erahnen, denn es waren auch die seinen. „Es wird schon alles gutgehen mit den beiden“, versuchte er sie zu beruhigen. „Im Hesinde beginnt der Prozess, und dann wird sich alles in Wohlgefallen auflösen. Wir beide werden alles in die Waagschale werfen, was wir aufzubieten haben.“ Statt einer Antwort drückte sie nur seine Hand noch einmal fester.

„Und wenn dann alles glücklich überstanden ist, im Frühjahr …“, fuhr der Burggraf nach einer kleinen Pause etwas tastend fort, „… könnten wir beide doch zu Ondinai reisen. Sie in Nym besuchen. Ulmia ist so weit, dass sie in meine Fußstapfen treten kann.“ Merisa lächelte milde. Nach all den Jahrzwölften an seiner Seite konnte sie Oldebor lesen wie ein Buch. „Du willst in den Raschtulswall“, sagte sie mit sanftem Tadel in der Stimme. Der Burggraf fühlte sich wie üblich ertappt und versuchte eine Erklärung: „Seit Korgond will ich in Erfahrung bringen, was aus unserem Ahnherrn Thessan geworden ist. Hier in Gareth habe ich alle Fährten verfolgt, die sich nur irgendwie verfolgen ließen. Alle Fährten.“

Merisa nickte bedächtig. Sie erinnerte sich an diese Vollmondnacht im letzten Ingerimm, als unter den Gebeten der Boronis aus dem Noionitenkloster die Grabplatte geöffnet wurde. An den Blick in die Schwärze, die sich im Boden auftat.

Thessans Grab war – leer.

„Seine letzte Spur führt in den Raschtulswall“, murmelte der Burggraf. „Ich will ihr folgen. Ich will seine Gebeine finden und hierher bringen, damit er endlich im Schoße seiner Familie ruhen kann. Mein Amt kann Ulmia übernehmen, aber diese Aufgabe – das ist meine. Ich muss sie erfüllen. Es ist meine Pflicht gegenüber meiner Familie.“

Merisa lehnte sich wieder an ihren Gatten. „Wir reisen nach Nym. Im Frühjahr“, sprach sie in die Kapelle hinein. Ihr Atem formte sich in der nächtlichen Kühle zu weißen Schwaden.



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12. Tra 1045 BF 22:00:00 Uhr
Voller Mond
Mauern überall


Kapitel 5

Autor: Oliver B.