Geschichten:Mutter und Tochter

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Version vom 11. August 2021, 20:50 Uhr von Wallbrord (D | B)
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Fast wie in Trance begab sich Selinde zurück in die Stadt, kaum fähig, nach dem zuvor Gehörten einen klaren Gedanken zu fassen. Als sie jedoch auf der Straße zufällig einen Boron-Novizen erblickte, der etwas einzukaufen schien, schoss der Adligen ein noch ein viel furchtbarerer Gedanke durch den Kopf, den es nun zu überprüfen galt. Ohne zu zögern, trat sie auf den jungen Novizen zu:
"Boron zum Gruße! Verzeih´, dass ich dich so unumwunden anspreche. Ich bin Selinde, eine Ritterin aus den Trollzacken. Ich suche meine Schwester, die zuletzt im Haus des göttlichen Raben weilte. Wir waren heute eigentlich verabredet, doch sie ist nicht aufgetaucht. Und nun soll, wenn man dem Gerede trauen kann, eine Frau im Tempel des Herrn Boron ermordet worden sein. Wäre es zuviel verlangt, wenn ihr mir das Mordopfer beschriebet, so ihr es gesehen haben solltet?"
'Möge Boron mir diese kleine Lüge verzeihen', schloss die Baroness im Geiste.

"Wenn es euch Klarheit verschafft, hohe Dame, so helfe ich euch gerne, denn ich habe die Verstorbene tatsächlich gesehen: Etwa Dreißig, dunkle Haare, ungefähr eure Größe, dabei etwas zierlicher als ihr. Hilft euch das weiter?"

"Äh, jaja, das ist sie nicht, vielen Dank für deine Hilfe, Boron befohlen!"
Fast schon fluchtartig eilte Selinde davon, ihrem Quartier entgegen. Was für ein Alptraum! Erst ihr Bruder und nun auch noch ihre Mutter! Deshalb hatte sie also gestern nach Elissas Aufenthaltsort gefragt! Kaum auf ihrem Zimmer angekommen, schloss die Adlige die Fensterläden, legte ihre Kleidung ab und vergrub sich ins Bett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Noch einen Tag zuvor hätte sie den Gedanken, dass ihre eigene Familie ihre Halbschwester umbringen wollte, als absurd bezeichnet und eine solche Behauptung je nach Stimmung entweder mit Gelächter oder einer Duellforderung quittiert. Gewiss, beide sahen Elissa schon immer als Fremdkörper und als Erbschleicherin an - eine Einstellung, die Selinde lange teilte, wie sie zugeben musste - aber das Mutter und Bruder in ihrem Hass soweit gehen würden, war bisher außerhalb jedes Vorstellungsvermögens.
Erst weit nach Mitternacht fiel die Baroness in einen unruhigen, wenig erholsamen Schlaf.


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Sichtlich nervös erwartete Ugdalf die Ankunft seiner Mutter Fredegard. Die Mitteilung, dass Selinde das gemeinsame Treffen vorzeitig verlassen hatte, dürfte ihr alles andere als gefallen, ging es dem Offizier durch den Kopf.
"Guten Abend, Mutter! Es tut mir leid, doch du hat Dich umsonst hierher bemüht. Selinde war bereits etwas früher als verabredet erschienen und während unseres Gesprächs wurde sie plötzlich weiß wie ein Laken, wohl ein Schwächeanfall, und ließ sich entschuldigen."

Fredegard bedachte ihren Sohn mit einem langen Blick ihrer nun eiskalt wirkenden Augen, was den Oberst unwillkürlich schlucken ließ. "Ist das so?", antwortete sie gedehnt, ohne Ugdalf aus ihrem Blick zu entlassen. "Habt ihr wieder gestritten? Konntest du mal wieder nicht die Fassung bewahren?"

Unwillkürlich senkte der Offizier den Blick ein wenig. "Nun, ich-"

"Genug davon.", unterbrach ihn seine Mutter schroff. Ich werde das gleich morgen früh selbst mit deiner Schwester klären. Und danach müssen wir uns anscheinend nochmal über die Bedeutung des Begriffes 'Selbstbeherrschung' unterhalten. Gute Nacht, Sohn."
Ohne diesen weiter zu beachten, verließ Fredegard das Zimmer und ihren fast schon angsterfüllt wirkenden Sprössling.


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Als Selinde erwachte und die Läden öffnete, war es bereits Vormittag. Wirklich geholfen hatte der Schlaf nicht, sie fühlte sich weiterhin furchtbar. Immer noch kreisten ihre Gedanken um ihre alptraumhafte Familie und deren Tun. Nach einer kurzen Wäsche kleidete die Adlige sich an und begab sich nach unten, um etwas zu frühstücken. Wirklichen Hunger hatte sie zwar keinen, doch gab ihr Köper unmissverständlich zu verstehen, dass sie etwas essen musste. In der Gaststube angekommen, erstarrte sie für einen Moment: An einem der Fenster saß ihre Mutter und winkte sie mit einem fröhlichen Lächeln zu sich.

"Komm' mein Kind, du musst doch halbverhungert sein. Oh, du siehst ja gar nicht gut aus!"

Am liebsten wäre Selinde einfach davongelaufen, doch stattdessen ging sie zu ihrer Mutter und setzte sich in der resignierenden Erkenntnis, dass sie durch simples Weglaufen Elissa auch nicht hülfe - ganz im Gegenteil - zu ihr an den Tisch.

"Guten Morgen, Mutter!", die Baroness spie das letzte Wort regelrecht aus.

"Ah, wie ich sehe, hat sich mein ständig selbstüberschätzender Sohn gestern dir gegenüber offenbar verplappert. Hm, ich werde alt, denn eigentlich hätte ich das voraussehen müssen. Das Rührei hier ist übrigens ganz vorzüglich, Selinde. Wirt, ein Teller davon für meine Tochter!
Wo war´ ich? Ach ja: Und gewitzt wie Du bist - Du warst schon immer die klügere, aufgewecktere von euch beiden - hast Du Dir den Rest dann sicher schnell zusammengereimt: Meine Frage nach Elissas Aufenthaltsort und der jüngste Mord an einer Frau im Borontempel, die, welch Zufall, eine gewisse Ähnlichkeit mit Deiner Halbschwester aufwies. Da kann man schon ins Grübeln kommen, nicht wahr?"
Immer noch lächelte Fredegard ihre Tochter warmherzig und voller Güte an.

"Warum?" Mehr brachte die verstörte Adlige nicht heraus.

"Was ist denn das für eine triviale, beinahe ordinäre Frage? Um das kleine Miststück ein für allemal aus der Welt zu schaffen, natürlich! Manche Hinterlassenschaften Deines Vaters sind auf dem Boronanger doch wahrlich weitaus besser aufgehoben als auf einem Baronsstuhl, findest du nicht?
Ah, das Essen! Lass´ es dir schmecken, Töchterchen, damit Du wieder zu Kräften kommst."

"Aber warum musste eine Unschuldige stattdessen sterben, das-"

"War ein bedauerlicher Irrtum deines Bruders. Wobei 'unschuldig' ein großes Wort ist, findest du nicht? Wer von uns ist schon unschuldig? Wie definiert man diesen Begriff überhaupt? Aber um auf Deine Frage zurückzukommen: Ugdalf war mal wieder zu voreilig, zu ungestüm. Man sollte ja meinen, dass Offiziere etwas von Planung und strategischem Denken verstünden, aber dein Bruder bewies hier gekonnt das Gegenteil. Ich wäre die Sache ja etwas langsamer und vor allem eleganter angegangen. Also wirklich: Jemanden in einem Tempel erdolchen lassen? Wie primitiv, wie phantasielos!
Wirt, ich hätte gerne noch eine Portion dieses vorzüglichen Linseneintopfes. Und bring uns noch zwei Becher mit eurem besten Roten."

"Du bist ein Monster! Und Elissa hast du wahrscheinlich auch schon umbringen lassen, was? Aber freu´ dich nicht zu früh, ich werde dir und Ugdalf bald das Handwerk legen.", warf Selinde mit einer Mischung aus Zorn und Trotz ein.

"Aber, aber, mein Kind, so redet man doch nicht mit seiner Mutter", tadelte Fredegard mit einem Schmunzeln und theatralisch erhobenem Zeigefinger ihre Tochter.
"So löblich es auch ist, dass Du deinen Kampfgeist wiedergefunden zu haben scheinst: Es ist leider vergebens. Aber der Reihe nach - ah, der Wein! Der ist wirklich ausgezeichnet, Selinde, zum Wohl! Und da kommt auch schon der Eintopf. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich während des Redens esse, auch wenn sich das natürlich nicht schickt."

Selinde wollte gerade etwas erwidern, doch kam ihr Fredegard zuvor.

"Was unseren kleinen Bastard angeht, sei unbesorgt. Vorerst hat er nichts zu befürchten; zwei Morde in zwei verschiedenen borongeweihten Orten in so kurzer Zeit könnten dann doch etwas zu auffällig geraten, obgleich ich den Gedanken durchaus reizvoll finde, wie ich zugeben muss. Aber da das Mädchen ohnehin völlig wahnsinnig zu sein scheint, besteht da auch kein akuter Handlungsbedarf."
Genüsslich nahm Fredegard einen tiefen Zug aus ihrem Becher. "Ja, der Wein hier ist wirklich zu empfehlen.
Übrigens ist dein Sinn für Humor ungebrochen: 'Uns das Handwerk legen', wirklich amüsant. Und wie gedächtest du dies anzustellen? Ohne Zeugen? Ohne Beweise? Und dann war da doch noch diese Sache mit den etwas, nun ja, ausgeuferten Feiern vor einigen Jahren. Sowohl die als auch deine Verwicklung darin sind gewissen Leuten immer noch erinnerlich. Das dürfte deiner eigenen Reputation nun nicht gerade zuträglich sein, nehme ich an. Und was würden erst dein Gemahl und dessen hochmögender Vater von dir denken? Also ich weiß nicht ... Und wen beschuldigtest du eigentlich? Deinen Bruder, einen hochdekorierten wichtigen Offizier im markgräflichen Heer und deine Mutter, Witwe eines großen Kriegshelden dieser Provinz und für ihre Wohltätigkeit hier in der Reichsstadt wohlbekannt? Nein, du bist viel zu intelligent, dergleichen zu wagen, wüsstest du doch, dass es dabei nur eine Verliererin gäbe - dich. Du weißt, dass Du mir von meinen Kindern stets das liebste warst und immer noch bist. Es wäre für mich daher äußerst betrüblich, würdest du mich enttäuschen und dadurch zwingen, dich wie ein ungezogenes Kind zu behandeln - mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Aber soweit wirst du es, klug wie du bist, sicher nicht kommen lassen.
So, nun entschuldige mich bitte, aber ich habe noch eine Verabredung im Praiostempel. Ach ja, das Frühstück zahle ich natürlich, Liebes; soll ja niemand sagen können, ich sorgte nicht für meine Kinder.
Wirt, noch einen Roten für meine Tochter!"
Fredegard erhob sich, legte einige Silbertaler auf den Tisch und verabschiedete sich von ihrer nun fast katatonisch wirkenden Tochter mit einem sanften Kuss auf die Wange sowie einem strahlenden Lächeln.

Diese stand, kaum dass ihre Mutter das Hotel verlassen hatte, ebenfalls auf, nahm dem ihr entgegenkommenden Wirt den Becher mit Wein ab, leerte ihn in einem Zug und drückte ihn dem verdutzten Mann wieder in die Hand.
Allmählich klärte sich Selindes Geist wieder. Nein, sie würde Bruder und Mutter ganz gewiss nicht davonkommen lassen! Allerdings musste sie letzterer widerstrebend rechtgeben. Beide offen anzugehen, wäre nicht nur sinnlos sondern ausgesprochen töricht, da es letztlich nur auf sie selbst zurückfiele. Nein, sie musste eine andere Vorgehensweise wählen. Die Baroness entschloss sich, einen längeren Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen.
Vielleicht fiel ihr dabei ja etwas Sinnvolles ein.