Geschichten:Luringans Pfad - Luringans Wahl

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Im Hornbacher Wald nördlich von Heimdahl, 1. Rondra 1044 BF

Sie waren müde. Eigentlich zu Tode erschöpft, nachdem sie den berittenen Häschern im Dunkel der Nacht entwischt waren. Es war knapp gewesen, als sie am Nachmittag auf Radulfsfelden aufgetaucht waren. Nach dem Kampf war es schwer gewesen, die Knickwege, Feldraine und Haine zu nutzen, um den Verfolgern immer wieder zu entkommen. Wäre nicht Olimone Lindenpfad gewesen, die sie seit drei Wochen begleitete, wären sie verloren gewesen. Aber so ein Elfenpfeil verfehlt sein Ziel nicht und hält selbst hartnäckigste Jäger auf Distanz.

Völlig ermattet lagen die Gefährten am Rande einer kleinen Lichtung im Hornbacher Wald, der als urtümlicher Rest des alten Reichsforstes den Rodungsbestrebungen seiner Nachbarn seit Jahrhunderten trotzte. Auch hier wären sie ohne die Elfe kaum durch das Dickicht gekommen, nachdem sie Waldenrath nördlich umgangen und westlich davon die Landstraße gequert hatten.

„Ich kann keinen Schritt mehr weiter, wenn ich nicht ein paar Stunden geschlafen habe“, ächzte Lechmin und ließ alle aufatmen. Wenn sich des Grafen Schwester erbarmte, Schwäche zu zeigen, durften alle anderen dies auch. Wahrscheinlich hatte sie den Satz auch nur deshalb fallen lassen. Lechmin drückte die vierjährige Alruna fester an sich und schmiegte sich in ihre Arme, um sogleich einzuschlafen. Alrunas Vater betrachtete die Szene durch die nächtlichen Schatten mit gemischten Gefühlen. Er war dieser Ritterin einst in Minne verbunden gewesen, hatte jedoch längst eine andere geheiratet. Andererseits hatte diese Ritterin vor einem Jahr ihr ungeborenes Kind verloren und damit den Anlass für die seit Monden tobende Fehde geliefert. Sicherlich war Lechmin auch nicht von dem Gedanken frei, dass sie eigentlich ihr eigenes Kind in den Armen halten wollte.

„Tut mir Leid, Ritter Ingmar, dass wir Euch so viel Ungemach bereitet haben“, rumpelte der lange Odo durch die Dunkelheit. „Das war nicht geplant.“

„Ich diene Euch gern, Ritter Odo, und Eurem Schutzbefohlenen; und Ritterin Lechmin“, antwortete Ingmar von Keilholtz, in dem weitere Gefühle hochstiegen: Trauer über den Verlust von Gut Radulfsfelden, dessen helle Lohe weithin strahlte und gewiss zur Stunde noch brennen würde. Ein Verlustgefühl, da sein Lehen verloren schien, wo er sich gegen die Leute des Grafen gestellt hatte. Stolz aber auch, denn seines Wissens gab es wenige Lebende, bei denen der lange Odo sich je entschuldigt hätte.

„Es tut mir auch sehr Leid, Ritter Ingmar“, war Adhemars Stimme zu hören, die sich auf der Kippe zwischen Kind und Mann befand. „Ich glaube, dass Graf Drego Odo und mich um jeden Preis haben will.“

„Ich glaube, es ist nicht Drego, Adhemar“, schaltete sich Bardo von Vairningen in das Gespräch ein. „Ich glaube, es hat mit der Clique um Drego zu tun. Bedenke, was wir im Zwinger gesehen haben: Ungolf von Luring-Prestelberg hat sich definitiv dem Widersacher der Zwölfe verschrieben.“

„Und weil der fette Goyern dabei war, nehme ich an, dass der Franfelder ebenfalls zu den Gefallenen gehört“, bemerkte Ritterin Elvena von Leuenmoos.

„Und alle, die heute bei dem Angriff auf Radulfsfelden dabei waren – die verrückte Kravetz zum Beispiel, oder Jellina von Folterdingen und Edelbrecht von Erlenfall“, ergänzte Bardo.

„Und ihr Anführer? Ist es der Emporkömmling? Oder will ich das nur glauben, weil ihn so sehr hasse?“ Odos Stimme klang wie Wetzstahl.

„Ich glaube es“, sagte Adhemar. „Ich erinnere mich an mindestens einen Jahreswechsel, wo er den Spuk auf Burg Luring irgendwie zu koordinieren schien. Er war auch immer dabei. Selbst als Großmutter Rumhilde wahnsinnig geworden ist.“

„Schluss jetzt“, befahl Lechmin, „wir bekommen alle noch Alpträume. Und sag nicht wahnsinnig, Adhemar. Mutter wird schwer geprüft.“ Es trat eine längere Stille ein. „Schlaft gut.“

„Ich halte Wache“, sagte Ritter Bardo. Die anderen legten sich, und bald waren auf der Lichtung nur noch tiefe Atemzüge zu hören.

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„Psst, psst!“ Ingmar schreckte hoch, doch wurde ihm gleich ein Finger sanft auf den Mund gelegt. „Pst!“ Es war Lechmin. Ingmar brauchte nur wenige Augenblicke, um die Orientierung wiederzufinden: Umgeben von tiefer Dunkelheit und nächtlicher Stille war nur das Zwitschern eines Vogels zu hören. Herauf und herunter trillerte sein Lied durch die laubschwere Finsterrnis, die am Südrand der Lichtung von einem bläulichen Schein vertrieben wurde. Eine Aureole blässlichen Glanzes warf tiefe Schatten der Baumstämme auf das Gras der Lichtung. Ingmar blickte sich um: Alle waren wach und starrten gebannt über die Lichtung in das vage Leuchten. Lechmin hielt seine Hand, wie Ingmar bemerkte, und Alruna ihre andere Hand. Daneben hockten Elvena und Bardo mit offenen Mündern, auf der anderen Seite standen Olimone und Odo dicht beieinander.

Nur als Schattenriss war Adhemar zu erkennen, der am Rand der Lichtung dicht vor dem Leuchten stand und mit schräg gelegtem Kopf dem Trillern des Nachtvogels lauschte. Ingmar wusste, doch hörte es nicht, das Adhemar gerufen wurde.

Plötzlich erglomm das blaue Licht, ein goldenes Herz in der Aurole vergrößerte sich, schien aufzureißen, und auf einmal erkannte Ingmar, von wem der Glanz ausging: es war ein Greif, so groß und mächtig, wie nur ein Greif sein konnte. Unwillkürlich ging Ingmar in die Knie – auch wenn er nicht Greifenfurter wäre und mit dem Glauben an Garafans Größe aufgewachsen, hätte der heilige Schauer ihn nicht fester packen können.

Die machtvolle Majestät des Greifen, die Präsenz seiner Kraft, die göttergleiche Ruhe und der umhüllende Friede erfüllten die Lichtung und die Herzen der Schauenden. Ingmar blinzelte durch die Tränen seiner Rührung, um keinen Augenblick dieses Moments zu verpassen, und sah, wie der Schnabel des Greifen sich herabsenkte auf den Knaben Adhemar und ihn sacht berührte.

Des Greifen Aarenhaupt schien den Jungen zu segnen, dieweil die kräftigen Tatzen sich im Waldboden verkrallten. Ingmar sah, dass dem Wesen an der linken Tatze zwei Krallen fehlten -. Und da begriff er endlich, wen er sah: es war Luringan der Große! Und er war keineswegs leibhaftig hier, denn das Licht durchströmte einen schemenhaften Leib, der wie aus Rauchglas geformt nur unwirklich schimmerte. Luringan weilte längst nicht mehr auf Dere. Oder? War es sein Geist, der sich hier eingefunden und sie auf der Lichtung aufgesucht hatte?

Ingmar erwachte aus seinen Überlegungen, als sich der Greif in die Aureole zurückzog und Olimone einen Warnruf ausstieß. Auch er hörte nun das Jaulen von Hunden? Hunden? Nein, so klangen keine Tiere dieser Welt, so klangen nur Kreaturen aus niederhöllischen Sphären!

„Schnell, folgt dem Greifen!“, rief Adhemar und trat selbst beherzt vor. Die Gefährten eilten sich, es dem Knaben gleich zu tun und durch das Tor zu schreiten, das sich im Hornbacher Wald aufgetan hatte.

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Der Tag brach bereits an, als Ingmar mit den anderen wieder an den Saum des Waldes trat. Die Ereignisse der Nacht lagen wie ein Traum hinter ihnen. Unwirklich, fremd und erhaben. Hatte der Greif sie gerettet?

Ingmar besah sich den Knappen, der vom Greifen auserkoren war, und bemerkte erst jetzt, dass Adhemar ein Schwert in der Hand hielt. Das Schwert eines Ritters, das der Knappe noch nicht führen dürfte.

„Was hast du da?“, wandte er sich an Adhemar.

„Ich …ein Schwert. Ich muss es schon eine Weile halten. Ich weiß es nicht.“ Adhemar schien verwundert.

Doch Odo wusste es: „Es ist Güldenbeiß, das Schwert der Luringer Grafen. Es müsste bei Drego sein.“

„Doch jetzt ist es hier“, warf Bardo ein und ärgerte sich sogleich, das Offensichtliche gesagt zu haben.

„Wo sind wir?“, brachte sich Elvena ins Gespräch ein.

„Ihr seid beim Gnadental. Der alte Elfenpfad hat uns hierhergeführt“, antwortete Olimone Lindenpfad. „Hier seid Ihr zunächst in Sicherheit, und ich muss Euch verlassen.“

„Hast du das gemacht?“, wollte Lechmin wissen.

Doch Olimone verneinte unmerklich mit dem Kopf und wandte sich dem langen Odo zu: „Kommst du, Odi'ama?“

Der lange Odo richtete sich auf, glättete seinen Umhang und nickte: „Es ist Zeit.“

Mit diesen Worten verschwanden die Elfe und der alte Zuchtmeister in den Tiefen des Reichsforstes und ließen die Gefährten zurück.