Geschichten:Fundamental

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Grafschaft Hartsteen, Gut Steinfelde, Praios 1028 BF

Schwarze Schlieren vom Ruß der Brände durchzogen den Himmel. Es regnete Asche und roch widerwärtig nach Brand, Verwesung und Verderbnis. Kadaver lagen überall am Wegesrand.
Lucidus folgte seinem Herrn durch die Trümmer dessen, was einst das Herz des Mittelreiches gewesen war. Unbeirrt ging der hochgewachsene, herrische Celesto Custodias seinen Weg. Unrasiert, abgemagert und in abgetragener Kleidung. Nicht als Inquisitionsrat kenntlich. Wenn der Titel überhaupt noch irgend eine Bedeutung hatte.
Seit er nicht mehr soff, war er unerträglich. Lucidus war dazu übergegangen ihn anzuschreien, wenn er ihn teilnahmslos anblickte. Den letzten Inquisitor in Ornat, den sie gesehen hatten, hatte Lucidus mit aufgeweichten Zwieback füttern müssen. Der Mann hatte auf die kostbare Robe gesabbert und brabbelte fortwährend unkenntliche Worte. Die Stadt des Lichts war ausgelöscht. Das Ewige Licht erloschen. Sie hatten den gefallenen Inquisitor seinem Schicksal überlassen. Es blieb ihnen nichts vom Zwieback.
Lucidus empfand nicht mehr viel außer Ekel vor allem was ihn umgab und Zorn auf seinen Herrn, der ihn hier her geführt hatte. Die Bitten der entgegenkommenden Flüchtlinge waren mittlerweile zu einem unkenntlichen Stimmengewirr verschmolzen. Anfangs hatte er versucht, sie davon abzuhalten nach Gareth zu fliehen. Der Rat der Helden. Hah. Wie wollte man unzählige Flüchtlinge vor dem Schrecken bewahren, der Gareth heimgesucht hatte? Wie wollte man sie am Leben erhalten? Erschöpfung, Gewalt und die Seuche hatten ihren Zoll von den Flüchtlingsströmen gefordert.
Ein Fünkchen Hoffnung glomm in Lucidus auf, als er feststellte, dass es nicht mehr weit bis Hartsteen sein könnte. Wenn es Hartsteen noch gab. Ärgerlich nahm er wahr, dass die Scharen der Flüchtlinge sich zunehmend verdichteten. Schon lange hätten der Custodias und er den Menschenmassen ausweichen müssen. Doch sein hünenhafter Herr schritt voran und noch wichen die verängstigten Menschen ihm aus.

Lucidus hielt sich hinter dem Rücken seines Herrn. Celesto Custodias hatte keine Kriegerstatur mehr, aber er hielt den anströmenden Menschen besser stand, als der kleinere Lucidus. Der Custodias begann laut zu reden. Lucidus war verwundert.
"Ihr denkt die Katastrophe ist plötzlich über Euch hereingebrochen, dabei habt Ihr dem Bösen die Pforte schon seit langer Zeit geöffnet. Ihr lasst Euch fortschwemmen, wie Treibholz von einer Springflut. Angst beherrscht Euch. Haltet inne und stellt Euch der Herausforderung."
Es war aberwitzig. Wie sollten diese Menschen irgendetwas Widerstand entgegensetzen? Sie hörten den Herrn ja noch nicht einmal. Oder? Die Stimme seines Herrn war durchdringend und tragend und im Vorübergehen streiften ihn die gehetzten Blicke der blassen Flüchtlinge.

"Furcht macht Euch zu Opfern. Ihr denkt nur an Euch selbst und Eurer Geist kreist um Eure Furcht. Haltet Euch an der Säule des Glaubens fest. Findet Zusammenhalt. Stellt Euch gemeinsam der Bedrohung.". Der Appell verklang. Lucidus wurde unruhig. Die Menschen drängten ihnen mit großer Kraft entgegen und wenn Celesto Custodias umgerissen wurde, dann würden sie niedergetrampelt werden. Sie wären nicht die Ersten, die ein solches Ende ereilen würde.
"Das Fundament des Glaubens ist zerborsten." rief ein Mann aus. Er spuckte Celesto Custodias im Vorbeilaufen an. Eine feiste Frau prallte gegen Lucidus Herren. Lucidus versuchte ihn zu stützen. Schweiß lief ihm die Stirn herab.
'Alles geht unter. Wir auch. Wir ertrinken in der Flut der Menschen', dachte er.
Celesto Custodias hielt Stand, die Frau wurde von den Nachfolgenden zur Seite gedrückt und verschwand unter zahllosen Füssen. Lucidus presste sich mit schreckgeweiteten Augen an seinen Herrn. Es war etwas anderes eine zertrampelte Leiche zu sehen, als mitzuerleben, wie jemand zu Tode getrampelt wurde. Außerdem war der Ansturm nicht normal. Die Menschen waren von Panik ergriffen.

Lucidus erwartete einen Stoß, Schmerz und den Tod. Er blieb aus. Er öffnete die Augen und sah, dass sich um seinen Herren eine Traube von Menschen gebildet hatte. Aus Celesto Custodias brachen die Worte hervor. Zunächst glaubte Lucidus der Irrsinn hätte obsiegt, aber die Worte brachen sich gegen das Getöse der Flüchtlinge Bahn, volltönend und von fundamentaler Gewissheit getragen erfüllten sie die Gegenwart:

"Wenn die Welt sich wandelt und die Schatten länger werden,
ergreift Angst Besitz von den Herzen der Gläubigen.
Es wird Mitternacht im Garten von Gut und Böse.
Doch seht: Ein neuer Morgen dämmert schon!"

"Wohlverborgen ist der Keim, der Funke, der die Flamme neu entfacht.
Der Bogen des Lichts führt hinauf zum Paradies,
doch erst müsst ihr hinabsteigen in die dunkle Nacht der Seele,
auf dass in eurem Innerem Raum sei für das Leuchten."

"Suchet das Licht, das alle Farben auslöscht und in sich vereint.
Schemen vergehen in der Sonne wie die falsche Schlangenbrut,
und wo Licht ins Mark der Erde dringt, fliehen die Geschöpfe der Tiefe.
Doch niemals darf der Götter Glanz vor der Finsternis weichen."

"Eine neue Sonne wird das Firmament überstrahlen,
sie wird sein, wie sie war, bevor sie war, wo sie ist.
Dreifach ist ihre Herrlichkeit, und dreifach wird sie den Menschen wieder erscheinen."

"Aus den Trümmern der alten Ordnung wird eine neue erstehen.
Dies ist das Los der Gläubigen, und dies ist das Los der Geweihten.
Aufrichtig lernend, vom Rechten nicht abkommend:
Auf diesem Weg werdet ihr sicher schreiten."


Die Verkündung der mysteriösen Worte inmitten von Flüchtlingen auf der Feidewaldstraße vor Hartsteen zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Um Celesto Custodias und Lucidus drängten sich sich die Menschen. Nicht alle blieben, einige schüttelten den Kopf und gingen fort, das Geschehen beiseite schiebend, wie einen Tagtraum, der sie einen Wimpernschlag lang berührt hatte.
Doch die Zahl der staunenden Menschen, die sich Celesto Custodias hoffnungsvoll zu wandten, zählte mehr als hundert Köpfe. Sie verharrten, setzen sich und hörten dem Inquisitor zu, der erfasst von göttlicher Präsenz von Existenzkampf und Lebenssinn, von Prüfung und Gemeinschaft, von Seelenheil und Durchsetzung göttlichen Willens zu predigen begann. Lucidus Zeitgefühl schwand, er war wie in Trance. Sein Herr strahlte Würde aus.

Aus der Hoffnung wuchs Zuversicht, doch bevor der Anschein von Geborgenheit entstehen konnte zerfetzte ein blutiger Alptraum unvermittelt die wundervolle Stimmung. Leichte Reiterei preschte mit hoher Geschwindigkeit die Strasse entlang. Die grotesken Grimassen ihrer Masken und die schrillen Schreie ihrer Opfer verkündeten Unheil. Verstreute Grüppchen von Menschen waren ihnen hilflos ausgeliefert. Doch auch die Umstehenden sollten ihre Beute werden. Ein Massaker.
Die maskierten Reiter kreisten die Menschenansammlung ein und hieben wahllos auf Köpfe und Körper. Stahl schnitt durch Gesichter und trennte Glieder ab. Blut besudelte Lucidus. Durch die tosende Kakophonie des Entsetzens der Flüchtlinge und dem triebhaften Heulen der Angreifer drang die befehlende Stimme seines Herren: "Haltet Stand!".
Celesto Custodias stand mit weit ausgestreckten Armen inmitten von panischen Flüchtlingen und Angreifern und sein Bewusstsein durchdrang alle. Zwanzig Reiter, die ohne weiteres über hundert hilflose Menschen erschlagen hätten, wurden eingekreist. Mit jedem Hieb fiel ein Leib zu Boden, aber zwei weitere Menschen rückten nach. Sie warfen Steine, brachten Pferde zum Scheuen, durchtrennten Sattelgurte oder rissen Reiter mit der bloßen Gewalt vieler zupackender Hände aus den Sätteln und erschlugen sie.

Die Verfolger waren Lucidus lange Zeit wie ein Hirngespinst erschienen, während die Flüchtlinge um seinen Herren Celesto Custodias im Zickzackkurs gen Hartsteen zogen. Immer wieder zitternd und notdürftig in ausgebrannten Gehöften und struppigem Unterholz verharrend.
In seinen Träumen drangen die Angreifer immer wieder gegen die Wehrlosen vor. Die Masken der Marodeure, ihre Chimärenfratzen, schienen Reißzähne zu fletschen, wenn ihr stinkender Atem Lucidus Nacken erreichte. Schweißgebadet schreckte er nach seinen Träumen inmitten von wimmernden Flüchtlingen auf und hatte Mühe klaren Verstand zu bewahren. Es linderte seine Übelkeit angesichts der Vorgänge um ihn herum, wenn er helfen konnte und so schritt er durch die Menschen, tat was er konnte und stieß oft an seine Grenzen.

Hartsteen hielt sein Tor verschlossen vor den Flüchtlingen. Man signalisierte Celesto Custodias das man ihn einließe, nicht jedoch das zerüttete "Lumpenpack" das ihm folge. Es war zwar unklar, wie man die Flüchtlinge versorgen würde, aber der Inquisitor entschied zum Helmenstein zu ziehen, wo eine Schlossruine der Praioskirche stand.
In der Nacht darauf hatten sie die Verfolger erreicht, obwohl sie die Feidewaldstrasse verlassen hatten. Die Vielzahl der Spuren, die Toten und Sterbenden an den Wegesrändern hatten sie verraten. Weniger waren sie dennoch nicht geworden, weil sich immer wieder ziellose Flüchtlinge anschlossen, die nun darauf hofften, dass der hünenhafte Prediger, den sie im Custodias sahen, sie in Sicherheit oder vielleicht auch gleich direkt ins Paradies führen würde.
Ihre Feinde hetzten den Flüchtlingszug wie ein waidwundes Tier. Sie verzichteten auf einen zweiten direkten Angriff und griffen stattdessen unablässig in kleiner Zahl an. In der Esse des Krieges gehärtet und von erbeuteten Pferden getragen, waren sie zu Raubtieren geworden, deren bevorzugte Beute der Mensch war. Die Verfolgung betrieben sie spielerisch und mit der absoluten Gewissheit ihrer Beweglichkeit und Tödlichkeit. Immer wieder trennten sie Gruppen von Flüchtlingsschar und metzelten sie dahin.

Mitten in einer Nacht wurde Lucidus nach dem Aufwachen aus seinen Alpträumen deutlich das sie den Helmenstein nicht erreichen würden, das sie längst nicht mehr in der richtigen Richtung unterwegs waren, weil die Verfolger ihren Weg bestimmten. Er hielt es für eine sinnlose Opferung das der Custodias zuweilen versuchte Boten auszuschicken, die versuchen sollten den Helmenstein zu erreichen.

Niemand kannte den Weg und es war eine Frage der Zeit, bis sie in die Enge getrieben werden würden und den Tod finden würden, bis im Morgengrauen eines anbrechenden Tages der Ritter Praiodan von Steinfelde auf den elenden Flüchtlingszug in seinen Wäldern stieß. Unter Führung des gestandenen Rittersmanns gelang es den wenigen Flüchtlingen, die nicht völlig entkräftet waren, einen Hinterhalt zu legen. Unter den Reitern, die inmitten des Waldes von Gruben und Schlingen behindert zur Strecke gebracht werden konnten, fand sich einer, dessen Maske fest mit seinem Gesicht verwachsen war und Lucidus bemerkte mit Abscheu das die Oberfläche der Maske des Gefallenen nicht hart, sondern weich und warm wie lebendes Fleisch war. Behängt war dieser Unterführer der Verfolger mit erbeutetem Kinderspielzeug als seien diese erbeuteten Stücke makabere Trophäen. Als Lucidus einzelne Stücke von verlorenen Flüchtlingskindern wiedererkannte erfasste ihn zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis Rache zu nehmen.

Das Rittergut Obersteinfelde war der Menge der Flüchtlinge nicht gewachsen, aber man versorgte die Menschen wenigstens für den Moment. Am Mittag des Tages ließ Celesto Custodias auf einem Scheiterhaufen den verwachsenen Feind verbrennen und eine dichte Rauchsäule stieg in den Himmel. Gegen Abend war das Gut und das Dorf von Marodeuren umzingelt.
Ein erster ungestümer Sturmangriff gegen Einbruch der Dunkelheit konnte unter Führung des bärbeissigen Ritters von Steinfelde zurückgeworfen werden. Mit Mühe und Not verteidigte man sich gegen die weiteren Angriffe, die mehr wie das Abtasten der hastig improvisierten Verteidigung wirkten.

Gegen Mitternacht begannen die Angreifer wie wilde Tiere zu heulen und schließlich schauerlich von Kampf und Zerstörung zu singen. Die Wolkendecke riss auf und der Mond überzog die Umgebung mit unheilvollen Rottönen. Die Angreifer steckten Fackeln an und begannen zu brandschatzen. Der Wucht des folgenden Angriffes hatten die Verteidiger nichts entgegenzusetzen und der Feuerschein brennender Gebäude erhellte die Nacht. Manch Steinfelder fluchte nun, dass die Fremden Tod und Verderben herbeigeführt hätten, aber Praiodan von Steinfelde herrschte sie an und versammelte seine Getreuen zum letzten Gefecht. Der Schauplatz dieser Konfrontation war der Boronanger des Dorfes.
Das die Marodeure bereits die Bevölkerung und die Flüchtlinge schändeten und plünderten während dieser letzte Kampf sich entspann, sorgte dafür das die Übermacht der Angreifer zunächst nicht erdrückend war, was sich aber im Verlauf des Kampfes änderte. Der Ritter von Steinfelde kämpfte gegen einen Koloss, der Doppelreihen scharfer Zähne entblößte, als seine Maske beschädigt wurde. Seine Physiognomie unter der Maske unterschied sich nicht von der Maske selbst. Lucidus wurde schwindelig, denn er konnte nicht mehr zwischen seinen Alpträumen und der Realität unterscheiden.
Celesto Custodias kämpfte mit einem einhändig geführten Zweihänder gegen drei Feinde zugleich, aber Lucidus bemerkte, dass sein Herr mit jedem Rundumschlag mit mehr Mühe die Waffe empor wuchten musste. Der Ritter von Steinfelde blutete aus vielen Wunden, sein Gefolge und die wenigen kampftauglichen Flüchtlinge wurden zerschlagen.

Lucidus rannte von einer Meute lauthals lachender Gegner verfolgt in eine brennende Scheune und die Hitze und Luftnot ließ seine Sinne schwinden. Wie im Traum wandelte er durch die sengende Glut und wich herabstürzten Balken aus. Er nahm kaum wahr, das Gebäude hinter ihm über seinen Verfolgern zusammenstürzte, als er wieder auf den Anger zwischen die Grabsteine trat.
Eine zernarbte Reichssoldatin mit den verschlissenen Abzeichen einer längst ausgelöschten Einheit taumelte heran und ließ ihm mit gellendem Schrei ihre Gleve direkt vor die Füsse fallen, um ihre Darmschlingen im aufgeschlitzten Bauch zu halten. Lucidus griff in Trance nach der Stangenwaffe. Ein fernes Donnern kündigte ein anbrechendes Gewitter an. Lucidus sog Luft ins seine schmerzenden Lungen und lief durch eine Gasse im Handgemenge direkt auf den Anführer der Feinde zu, der soeben zum tödlichen Schlag gegen Praiodan von Steinfelde ausholte. Die klare Stimme des Lucidus, der im vollen Lauf schrie:

"...Schemen vergehen in der Sonne wie die falsche Schlangenbrut,
und wo Licht ins Mark der Erde dringt, fliehen die Geschöpfe der Tiefe.
Niemals darf der Götter Glanz vor der Finsternis weichen."


weiß so mancher in Steinfelde zu rezitieren und als sich die Gleve durch Lederrüstung und Haut des Kolosses bohrte, da übertönte dessen Todesschrei die Schreie der Opfer, das Gemetzel und das Tosen der Brände.

Als das Gewitter am Morgen abflaute, blieben Dorf und Gutshof von Steinfelde verwüstet zurück. Der Großteil der Gebäude nur noch schwelende Ruinen, vom Regen nicht vollständig gelöscht, die stehen gebliebenen Wände rußgeschwärzt und die Kamine wie warnende Zeigefinger gen Himmel ragend. Viele der Einwohner und Flüchtlingen erschlagen oder geschändet, der Gutsherr verwundet, der Inquisitionsrat wieder in Resignation versunken und Lucidus vom Feuer gezeichnet. Aber auch die Feinde waren verstört und ließen von ihrem Opfer ab, statt den Kehlenbiss zu vollenden. Der Leichnam ihres Anführers konnte nicht gefunden werden. Steinfelde und dem Gefolge des Inquisitors blieb jedoch der Triumph überlebt zu haben.