Geschichten:Familiengeschichten aus Hartsteen - Schwingenfels ist nicht Natzungen
Gut Nachtdann, 26. Efferd 1040 BF
Die letzten zwei Wochen seit der Totenandacht für Tanira von Natzungen waren recht turbulent verlaufen. Hadrumir war mit den Kindern Praiofist und Duridan sofort hierher aufgebrochen und hatte sich dann mit allen Kindern zurückgezogen. Lediglich die Amme der Kinder sowie die Zofe hatten Kontakt zur Familie. Arion von Wulfensteyr, der weltliche Verwalter des Gutshofs, hatte Oderik von Schwingenfels klar gemacht, dass der Kronvogt wünsche, Zeit mit den Kindern zu verbringen. Oderik ließ seine besten Wünsche ausrichten und bekam kurz darauf die Antwort, dass Hadrumir ihm die Führung der Familie anvertraue. Es erschien ihm merkwürdig und so hatte er sich mit Halmar längere Zeit besprochen.
Dann waren sie alle nach und nach gekommen. Den Auftakt machte Hagen. Er war bemüht, die Nachfolge seiner vor Mendena gefallenen Mutter anzutreten. Dies traf auch auf seine Wortwahl zu. Er wollte wissen, ob die Familie Schwingenfels noch von einem Schwingenfelser geführt werde. Ähnliches hatte seine Mutter bereits vor dem Feldzug nach Mendena geäußert.
Mendena! Der Feldzug war für die Familie hart gewesen. Danaris! Rovena! Jolea! Kordara! Sie waren alle gefallen. Auch Natzungen hatte Verluste hinnehmen müssen, allen voran die Baronin. Doch Schwingenfels ist nicht Natzungen. Und vor allem machte das Gespräch mit Hagen Oderik klar, dass die Führung einer Familie schwieriger sein konnte als ein Heerzug nach Mendena. Nach der Schlacht an der Tobimorastraße hatte Hadrumir den Befehl ausgegeben, dass er – Oderik – die Hartsteener Ritter weiter nach Mendena zu führen habe. Und das hatte er dann schlussendlich getan. Keiner hatte seine Führung hinterfragt. Im Krieg wurde Führung nicht hinterfragt. Da folgte man dem Befehl.
Dann war Voltan mit der Reiterei der Orbetreuer Schwingen aufgetaucht. Oderik wusste, dass Voltan immer schon nach seinem Vater kam. Erst nehmen und dann fragen, ob es denn genehm ist. Er schob die Sicherheit des Kronvogtes sowie der Kinder als Grund für sein Kommen vor, doch Oderik wusste genau, dass es auch ihm nur darum ging, möglichst am Puls der Zeit zu sein, wenn Entscheidungen für die Zukunft getroffen wurden. Er verlangte umgehend eine Unterredung mit Hadrumir, welche Oderik ihm verweigerte. Als er dies nicht hinnehmen wollte, erinnerte ihn Arion von Wulfensteyr mit seinen Söhnen Dirion und Stordian daran, wer hier Hausherr war.
Schließlich kam noch Friedhardt an. In seiner Begleitung erschien seine jüngste Schwester, welche ihren Abschied von der Panthergarde eingereicht hatte. Oderik mochte Rondriana. Er konnte sich noch gut an seine Knappenzeit in Hinterwalden erinnern. Rondriana wirkte interessiert daran, die anderen Familienmitglieder kennen zu lernen, nachdem sie diese lange Zeit nicht gesehen hatte oder gar nicht kannte. Für die Familienpolitik schien sie sich wenig begeistern zu können. Ihre Begeisterung galt eher Dirion, dem älteren der beiden Söhne des Gutsverwalters.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, welches Oderik erfasst hatte. Fast so schien es, dass der Feldzug nach Mendena und der Tod Taniras der Familie Schwingenfels ihre eigene Vergänglichkeit vorgehalten hatte. Oder lag es an der Lethargie, in welche Hadrumir seit seiner Rückkehr verfallen war. Oderik hatte sich mit allen zusammengesetzt und klar gemacht, dass er die Führung der Familie vorerst übernehmen werde. Und dann waren die Diskussionen losgegangen.
Friedhardt hatte tatsächlich die Dreistigkeit, darauf hinzuweisen, dass sein Vater ja aus der Berowin-Linie der Familie stamme, wie er sie nannte. Er als Vetter Hadrumirs habe daher ja wohl eher einen Anspruch auf die Führung der Familie, zumal er auch seine Tante Jolea beerbt hätte und somit als deren Nachfolger gelten dürfe. Oderik musste lauthals lachen. Er kannte Freidhardt noch aus seiner Knappenzeit bei Thronhardt und wusste, dass sich dieser gerne mal wichtiger machte, als er tatsächlich war. Selbst Friedhardts Schwester machte keine Anstalten, dieser Argumentation zu folgen. „Macht ihr das mal untereinander aus!“ sprach sie und war dann nach draußen gegangen.
Die Junker von Gabelsteen hatten bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass sie sich nicht unbedingt um die Ansichten des Familienoberhauptes scherten. Und Hagen schien sich genau in diese Ahnenreihe einzureihen. Er betonte, dass er einem Schwingenfelser gerne folgen werde, jedoch keinem Natzungen. „Die Nachfolge für Natzungen wurde geregelt. Schwingenfels ist nicht Natzungen!“ hatte er geantwortet.
„Und was bedeutet dies im Detail?“ hatte der Gabelsteener Junker gefragt. „Es war der Wille Taniras, dass Natzungen unabhängig bleibt! Dies haben sie und Hadrumir bereits mehrfach deutlich gemacht! Wir halten uns aus Natzungen raus!“ hatte ihm Oderik dargelegt.
„Was geschieht mit den Kindern der beiden?“ fragte Hagen weiter.
„Praiofist ist der Erbe Natzungens. Er wird den Namen forttragen.“ sprach Oderik das eigentlich Offensichtliche aus.
„Ein Knabe als Baron von Natzungen!“ spie Voltan verächtlich aus.
Oderik hatte sich ihm zugewandt und geantwortet: „Nun, er wird sich natürlich zunächst einen Ritterschlag verdienen müssen. Taniras Onkel und die Natzunger Junker werded sich in dieser Zeit federführend um die Baronie kümmern. Sollten Praiofist oder sein Onkel die Hilfe unserer Familie benötigen, so werden wir sie ihnen freundschaftlich gewähren."
Hagen hatte nur zustimmend genickt, doch Voltan war aufgestanden: „Ich kann Hadrumir nicht verstehen! Warum klärt er die Angelegenheit nicht und setzt einem Schwingenfelser den Baronsreif auf? Wer braucht schon noch eine Familie Natzungen!“ Oderik glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen und hatte sich auf eine Diskussion eingelassen. Voltan wirkte wie ein aufgeblasener Gockel und meinte schließlich sogar, Oderiks Führungsanspruch in Frage zu stellen, als er erwähnte, dass es Oderik ja nicht gelungen sei, den Katterqueller zu schlagen. Oderik hatte ihm ruhig und sachlich geantwortet, dass er jederzeit bereit sei, ihm mit dem Schwert zu beweisen, dass er sehr wohl die Familie führen könne.
Zu Oderiks Überraschung ließ sich Voltan genau darauf ein und war nach draußen auf den Reitplatz marschiert, um gegen ihn anzutreten. Doch mittlerweile war Oderik zu einem herausragenden Kämpfer geworden. Voltan hatte ihn vollkommen falsch eingeschätzt und so hatte Oderik den Kampf zwar nicht ohne Mühen gewinnen können, aber er war als Sieger daraus hervorgegangen. Voltan war kurz darauf mit den Orbetreuer Schwingen wieder abgezogen.
Dies war gestern gewesen und Oderik saß nunmehr mit Sigmann von Windischgrütz auf der Veranda des Gutshofs. Er schaute den jungen Kerl an, welcher de jure sein Schwager war. „Hör mal, was würdest Du davon halten, wenn Du mit nach Weizengrund kommst und ich Deine Ausbildung weiter übernehme?“ fragte Oderik.
Sigmann schaute ihn lange an. „Liebt Ihr meine Schwester?“ fragte er dann leise, fast lauernd.
Oderik zögerte. Das war eigentlich nicht eine Frage, welche sich für einen Knappen ziemte, aber Sigmann war offenbar kein gewöhnlicher Knappe. Oderik entschied sich, dass die Wahrheit hier aber nicht schaden würde: „Jedem anderen Knappen würde ich bei einer solchen Frage die Hammelbeine langziehen! Es geht einen Knappen wohl nichts an, wie das Verhältnis des Ritterherren zu seiner Frau ist.“ Oderik lächelte und fuhr dann sanft fort: „Aber da diese Frau Deine Schwester ist, will ich Dir einmal diese Ausnahme gönnen! Die Wahrheit ist, dass ich den Hutter Rittern dankbar sein sollte. Als man entschied, dass ich Haldora heirate, kannte ich sie genauso wenig wie sie mich. Es hätte vielleicht auch noch Jahre gedauert, bis wir uns nähergekommen wären, wenn wir dies überhaupt geschafft hätten. Doch dann waren wir… war ich Gefangener auf Ebenhain und ich habe eine Vertrautheit zu Deiner Schwester empfunden und gefunden, welche ich nur mit einem Wort umfassen kann.“
Sigmann blickte ihn auffordernd an. „Unbegrenzte Liebe!“ sprach Oderik. „Na gut, das sind zwei Worte!“ Oderik lächelte.
Sigmann lächelte zurück. „Dann will ich Euch gerne als Euer Knappe folgen!“
Oderik hob die Hand. „Eine Bedingung habe ich aber dazu! Du wirst mich Oderik rufen und wir beide bleiben beim Du! Du bist schließlich mein Schwager!“
Sigmann schmunzelte. „In Ordnung!“ Und dann fügte er schelmisch ein „Schwagerlein!“ hinzu.
Oderik lachte. „He!“ Er knuffte den Knappen in die Seite. „Werd ja nicht unverschämt, Kerl!“ gab er zurück.
In diesem Moment konnte er sehen, wie ein Reiter auf den Hof geprescht kam. Es war Orlan, der Diener seines Bruders Ludegar, welcher sich gehetzt umsah, dann Oderik erkannte und zu ihm kam. „Euer Wohlgeboren! Strauchdiebe haben Euren Bruder überfallen!“
