Geschichten:Familiengeschichten aus Hartsteen - Der Hoftag zu Natzungen
Stadt Natzungen, Peraine 1043 BF
„Die Herren haben sich hier zum Duell auf das zweite Blut versammelt!“ sprach Halmar von Gareth bestimmt. „Seid Euch dessen bewusst, dass die göttliche Leuin auf Euch schauen wird, wenn Ihr hier kämpfen werdet!“ Er trat zu Oberan von Firunshöh. „Seid Ihr bereit?“ „Das bin ich!“ Er trat auch zu Oderik von Schwingenfels. „Seid auch Ihr Bereit?“ „Ja, das bin ich!“ „Dann möge die göttliche Leuin über Euren Kampf wachen!“ Dann hatte der Geweihte den Kampf frei gegeben.
Oderik von Schwingenfels hing den Gedanken an das Duell mit Oberan von Firunshöh nach, während er in der Herberge wartete. Es war der erste Punkt einer langen Liste an Erledigungen, welche er auf diesem Hoftag zu erfüllen hatte. Der Firunshöh war gewiss ein guter Kämpfer, doch Oderik hatte sich nicht davon beirren lassen. Das Duell war klar zu seinen Gunsten ausgegangen. Damit war zumindest in diesem Punkt Oderiks Ehre genüge getan.
Die Huld Graf Odilberts galt nicht den alten Familien, welche treu zu ihm standen, sondern hemmungslosen Opportunisten und intriganten Schmeichlern. Pulping und insbesondere Feldrungen waren an ebensolche Kreaturen gegangen. Dort machten sich jetzt diese Hartweils aus dem Schlund breit. Lucarnas Ansprüche als Nachfolgerin ihres Bruders als Junkerin von Gabelsteen hatte man noch durchsetzen können. Hierbei hatte es sich als nützlich erwiesen, dass sie während der Befreiung von Hutt mit ihrer erfolgreichen Verteidigung des Igelbanners auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Viel schwerer wog eigentlich die Entscheidung des Grafen, wie mit Natzungen umzugehen sei. Es war ein schwerer Schlag für diejenigen, die für Praiofist von Natzungen bisher die Baronie geführt hatten. Diese Entscheidung hatte ihn hier in den Gastraum der Herberge geführt. Mit einem Bier vor sich wartete er nunmehr auf den Mann, welcher sich noch am meisten um die alte Ordnung in Natzungen bemüht hatte.
Lange musste er nicht warten, bis Thallian von Wulfensteyr die Herberge betrat. Oderik winkte ihn heran und orderte ein weiteres Bier. Einsilbig ließ sich der alte Ritter dem Schwingenfelser gegenüber am Tisch nieder. „Eure Unterstützung für Praiofist war bemerkenswert!“, sprach Oderik und prostete dem Wulfensteyr zu.
Jener schaute ob dieser Worte missmutig drein und antwortete: „Ich hätte mir deutlich mehr Unterstützung in der Sache durch unsere hiesigen Standesgenossen gewünscht – auch von Seiten Eurer Familie. Oderik setzte seinen Humpen ab. „Wollen wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen, wer wie wenig Unterstützung gegeben hat?“
Thallian kratzte sich seinen kahlen Kopf. „Über entsprungenes Wild zu jammern ist in der Tat müßig und Vorwürfe bringen gar nichts. Die Teilung der Baronie und des Natzunger Erbes ist beschlossen, so wie es der Graf gewünscht hat. Auch wenn ich den Grund dafür nicht wirklich verstehe.“
Oderik nickte verstehend. „Es verschließt sich mir ebenfalls. Ich kann nur Mutmaßungen anstellen.“
Thallian wirkte neugierig. „So? Dann lasst mal hören!“, forderte er Oderik auf.
Oderik schaute sich vorsichtig um, glaubte jedoch dem alten Wulfensteyr zu vertrauen: „Ich denke, dass der Graf nicht besonders erfreut darüber war, wie die Natzunger ihn in diesem Frühjahr unterstützt haben.“
Thallian schnaubte verächtlich: „Als ob wir die einzigen gewesen wären, die nach der Erfahrung im Herbst lieber abgewartet haben. So viel ich weiß, haben sich Bärenau und Aldenried ja ebenfalls sehr zurückgehalten.“
Oderik trank einen Schluck von seinem Bier: „Mir scheint es, dass am Hofe des Grafen nunmehr Opportunisten und intrigante Schmeichler das Sagen haben.“
Ein trauriges Lächeln huschte über Thallians Gesicht als er antwortete: „Nur andere Opportunisten und andere intrigante Schmeichler."
Oderik schaute auf sein Bier und sprach leise: „Ich bewundere jedenfalls Euren Mut, vom Grafen Brief und Siegel zu seinem Wort zu fordern!“
Thallian strich sich erneut über den kahlen Schädel, während er ernst resümierte: „Ich hatte Tanira versprochen, ihren Ältesten nach Kräften zu unterstützen und musste es versuchen. Immerhin wird Praiofist nun nicht völlig mittellos sein.“
Oderik trank einen weiteren Schluck, wobei er mit Bedauern äußerte: „Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen – die Gegebenheiten stehen derzeit leider gegen den Jungen.“
Thallian warf dem Schwingenfelser einen prüfenden Blick zu: „Derzeit? Meint Ihr damit, dass Ihr etwas in der Sache nun doch zu unternehmen gedenkt?“
„Für den Moment müssen wir die Dinge so hinnehmen, wie sie sind. Aber in der Zukunft...“, Oderik ließ den Satz zunächst offen und hielt seinem Gegenüber den Krug zum Anstoßen hin, wobei er sich nach vorne beugte, „In der Zukunft kann sich der Wind drehen! Und dann wird Praiofist Verbündete brauchen, welche treu zu ihm stehen.“
„Ich bin nicht der Jüngste, Schwingenfels, und meine eigene Zukunft ist begrenzt“, meinte der Junker von Muhlwasser daraufhin zurückhaltend. Doch dann stahl sich plötzlich ein verschwörerisches Funkeln in seine Augen, als er mit seinem Humpen den dargebotenen Krug anstieß und seinem Gegenüber mit einem Nicken zuprostete. „Gleichwohl liegt mir die Zukunft meiner Familie und das Wohlergehen ihrer Nachkommen am Herzen.“

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