Geschichten:Erlenstamm nach dem Höllenwaller Durchmarsch - Teil 5

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Alissa erwiderte die Umarmung der Baronin und fühlte sich darin bestätigt, dass es richtig war, zu ihr zu gehen. Als die beiden Frauen im Arbeitszimmer ankamen, wartete Alissa so lange, bis die Baronin sich gesetzt hatte. Erst dann nahm auch Alissa Platz.

"Nun, liebe Tante", begann Alissa den Satz, "zunächst muss ich Euch etwas beichten, denn ich habe etwas getan, worauf ich nicht stolz bin."

Bittend sah Alissa ihre Tante an und wartete auf ihre Reaktion.

"Ich höre" kam die Antwort kurz und bündig. Alissa konnte weder der Antwort, noch der Art, wie sie daher kam, entnehmen, wie die Baronin reagieren würde.

"Nun", setzte Alissa an, "als ich letzte Nacht nicht schlafen, konnte und mir aus der Bibliothek ein Buch zur Nachtlektüre holen wollte, kam ich an eben diesem Arbeitszimmer vorbei. Ich sah Licht und hörte Euch mit Eurem Sekretarius reden. Und da mich die Ereignisse der vergangenen Wochen doch sehr bewegt hatten und mir keine Ruhe liessen, habe ich Euer Gespräch mit angehört." Da war es heraus! Alissa war etwas erleichtert, jedoch erwartete sie ein Donnerwetter ihrer Tante. Sie blickte zu Boden und bereitete sich auf das schlimmste vor.

Doch zunächst geschah nichts. Alissa lugte verstohlen zu Thalionmel, die sie nachdenklich musterte. In ihrem Blick spiegelte sich ein gewisser Ärger, aber auch ein Hauch von Anerkennung wieder.

Und schließlich sagte sie überraschend ruhig: "Dann weißt Du, welche Aufgaben ich für Dich vorgesehen habe. Ich weiß natürlich nicht, ob Dir alles davon gefällt. Und ich meinerseits bin noch nicht sicher, ob ich Dir all das aufbürden will. Eins weiß ich aber mit Sicherheit. Ich werde Dich brauchen. Ich brauche Euch zwei Geschwister, um die Baronie wieder auf Vordermann zu bringen. Ich brauche Greifdane und Dich. Ihr beide habt große Talente, und jede von Euch auf einem anderen Gebiet. Und was wichtiger ist, und das muss unter uns beiden bleiben: Du musst zur Not meine Verbündete gegen Greifdane sein. So wenig ich auf sie verzichten will, so wenig traue ich ihr. Ich weiß aber, dass ich Dir blind vertrauen kann. Das hab ich schon immer gewusst, und das hast Du eindrucksvoll bewiesen. Aber Du musst erwachsen werden! Du musst lernen, harte Entscheidungen zu treffen. Das ist, was Greifdane Dir voraushat. Ich bin nicht sicher, ob Du bereit dazu bist. Mich würde schon interessieren, was Du von meinen Plänen für Dich hältst, und welche Ämter Du gerne annimmst, welche Du eher anderen überlassen würdest. Sprich offen mein Kind!"

Alissa atmete tief ein und aus. Mit dieser Reaktion hatte sie bei Weitem nicht gerechnet. Das bestätigte ihr aber, dass es richtig war, mit der Sprache herauszurücken. "Ich fühle mich geehrt, dass Ihr ein solches Vertrauen in mich setzt, liebste Tante. Mich in Eure Entscheidungsfindungen mit einzubeziehen bedeutet für mich eine grosse Ehre. Allerdings gibt es eines, was ich nicht richtig verstanden habe. Was meintet Ihr damit, als Ihr sagtet, dass Erlenstamm mit meinem Gesicht nach aussen besser aussähe?"

Die Baronin lächelte, lehnte sich zurück und fragte lässig zurück: "Na wonach klingt es denn?" Dann fuhr sie in einem nicht ganz ernsten Tonfall fort: "Ich meinte es so, wie ich es sagte. Schau Dich doch an und schau mich an. Aber wenn Du meinem und wohl auch Deinem eigenen Urteil nicht traust, können wir den Hauptmann Ole fragen, wer von uns jünger und hübscher ist."

Sie schaute Alissa so durchdringend wie oft, aber auch so freundlich wie schon lange nicht mehr an und fuhr dann abermals fort: "Was siehst Du vor Deinem geistigen Auge, wenn Du 'Höllenwall' hörst? Wohl einen brandschatzenden, mordlüsternen Dummkopf. Oder was denkst Du, wenn Du 'Nettersquell' hörst? Mein erster Gedanke gilt einem armen, etwas verwirrten Müller. Vom Dragenfels rede ich gar nicht. Und was sollen die Leute denken, wenn sie 'Erlenstamm' hören? Ha! Ich denke, unser Ruf war auch schon besser. Stellenweise werde ich ja sogar als Zombie gehandelt. Nein nein, das ist nicht gut. - Vieles wäre besser, denke ich, wenn meine Nichte Alissa die Person wäre, die den Menschen beim Wort Erlenstamm als erstes in den Sinn käme."

"Hmm, da habt Ihr gar nicht unrecht, liebe Tante", Alissa grübelte ein wenig. "Ihr könnt auf mich zählen. Und wenn Ihr möchtet, übernehme ich auch das Richteramt für Euch. Ich möchte Euch aber noch etwas mitteilen. Und haltet mich bitte nicht für verrückt. Ich hatte letzte Nacht, nachdem ich doch noch etwas Ruhe gefunden hatte, einen Traum. Meine Mutter, Eure Schwester, erschien mir dort. Sie sagte, dass ich Eure Wünsche und Pläne befolgen solle und auch, dass ich meiner Schwester vergeben solle." Alissa sah ihrer Tante direkt in die Augen, um herauszufinden, was die Baronin davon hielt.

Diese erwiderte den Blick, hielt ihm Stand und antwortete in vollem Ernst: "Was Du da erzählst, ist irre. Und Du weißt, dass ich selber irre genug bin, um es Dir zu glauben. Hör auf Deine Mutter, denn auf wen sollten wir denn mehr hören, als auf die, die uns von den Göttern selbst als Boten geschickt werden."

"Nun ja, liebe Tante, sie hat mir auch etwas für Euch ausgerichtet," flüsterte Alissa fast unhörbar. "Sie sagte, dass Ihr Euch keinerlei Sorgen um Euren Sohn machen solltet. Er wird gut behütet und es wird ihm kein Leid geschehen. Allerdings hat sie mir nicht verraten, wo Sich Euer Sohn derzeit aufhält."

Das Antlitz der Baronin entspannte sich und eine gewisse Erleichterung wurde erkennbar. "Das zu hören, tut gut", sagte sie ebenso leise. "Aber wie es Weissagungen so an sich haben: Was man wirklich wissen will, erfährt man nicht. Aber immerhin ist es etwas." Sie wurde still und eine einsame Träne, die so gar nicht in das seltsam herbe Gesicht der Baronin passen wollte, rollte die linke Wange hinunter.

Alissa stand von ihrem Stuhl auf, trat an die Seite ihrer Tante, kniete nieder und nahm ihre Hand. "Liebste Tante, wir werden Euren Sohn zurückholen, darauf habt Ihr mein Wort. Und wenn ich selbst dem Dragenfelser einen Pfeil in den Rücken jagen muss, damit er spricht. Wir werden Rohajan zurück nach Erlenstamm holen!"

"Ich denke sowieso, dass der vermaledeite Junker meinen Sohn auf dem Dragenfels gefangen hält. Wo denn sonst? Sobald wir erstarkt sind, kannst Du ihm gern einen Pfeil in den Rücken jagen und auch über ihn richten. Ach ja, wir werden bald das Blutgericht wieder ins Leben rufen. Die Gerichtsbarkeit über Kapitalverbrechen wie Mord oder .... oder Kindesentführung! ... werde ich nicht länger dem stummelbeinigen Ingramm überlassen, zumal er diesen Lahor zu schützen scheint! Greifdane wird ihn fangen, aber Dein Privileg wird es sein, ihn - wenn Du es für nötig erachtest - hochnotpeinlich zu verhören und dann Dein Urteil über ihn zu fällen, der Deinen Cousin seiner Mutter entrissen und sie selbst den Flammen und dem Mob überlassen hat!" Die Züge der Baronin verhärteten sich wieder: "Wir müssen aber fokussiert bleiben. Alles zu seiner Zeit. Ich muss mir überlegen, welche Aufgabe Dir JETZT am besten zu Teil werden soll."

"Liebe Tante, ich möchte Euch nicht widersprechen, aber ich glaube nicht, dass der Junker wirklich so dumm ist und Euren Sohn tatsächlich auf dem Dragenfels versteckt hält, wo er sich doch mit seiner Frau auf dem Konvent aufgehalten hat. Der Junge würde ungeschützt und vollkommen allein auf dem Dragenfels sein. Selbst, wenn der Junker so dumm sein sollte, seine Frau ist es sicher nicht. Bei ihr hatte ich auf dem Konvent eher den Eindruck, dass sie genau weiss, was sie will und was sie tut. Rohajan ist mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht auf dem Dragenfels, sondern an einem völlig anderen Ort, den wir nur noch finden müssten." Alissa stand langsam wieder auf. "Und ganz gleich, welche Aufgabe Ihr mir nun zuteilt, liebste Tante, ich werde mein Bestes versuchen, um dieser gerecht zu werden."

"Ja, seine Frau ist wohl nicht auf den Kopf gefallen. Frage mich nur, wie sie es mit so einem Trottel aushält", erwiderte Thalionmel in Gedanken versunken. Dann raffte sie sich wieder auf. "Nun gut, Alissa. Du wirst per sofort drei Aufgaben übernehmen, von denen Dich zwei zur Zeit praktisch nicht in Anspruch nehmen dürfte. Du bist ab sofort meine Richterin und Botschafterin. In der ersten Funktion kannst Du auf die tatkräftige Hilfe des Sekretarius zählen. In der zweiten Funktion steht zur Zeit nichts an. Dafür erwarte ich umso mehr Einsatz in der dritten Aufgabe. Du hast sicher auch gehört, dass ich eine kleinere, bewegliche und getarnte Einheit aufbauen will. Du sollst diese nicht nur kommandieren und als sehr gute Bogenschützin mit ausbilden. Du sollst möglichst sofort mit deren Aufbau beginnen. Und zwar lieber schon gestern."

Alissa blickte ihre Tante an und erwiderte: "Ich werde mich sogleich an die Arbeit machen, liebste Tante."

Sie deutete einen Knicks an und machte sich dann daran, das Arbeitszimmer zu verlassen.