Geschichten:Die Tränen der Ruchins - Ein Specht der Erkenntnis

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Auf der Ruchinsburg, im Rondra 970 BF

»Wie herrlich doch der Sommer im Wall sein kann!«, rief Ritter Sigman aus der Tiefe seines mächtigen Brustkorbs. Er breitete die Arme aus, als wollte er den Berg der Ruchinsburg, die Wälle und die im Sonnenlicht glasig erscheinenden Berge des nahen Raschtulsalls an sich drücken. Der Wind wehte die blonde Löwenmähne des Recken um den prächtigen Schädel, um den ihn selbst der Tierkönig der Löwen beneidet hätte.

»Hattest Du es vergessen?«, fragte sein Begleiter, der in bequemes Wandlether Tuch gekleidete Hausherr Ingrobold, dessen Haar von einem so reinen Weiß war, dass es auf seinem rosigen Gesicht wie ein Sahnehäubchen wirkte. Beide standen auf einer Bastion der Burgmauer im hellen Sonnenlicht.

»Ja, bei Rondra, das hatte ich! Ich erinnere mich genau an die kalten Winter und den beschissenen Herbst vor meiner Schwertleite, als du mich im Greupeltal in den schlimmsten Schneesturm geschickt hast, den man sich denken kann! Aber den Sommer hatte ich vergessen!« Ritter Sigman nahm dem Hausherrn einen irdenen Becher ab und stürzte seinen Inhalt in seinen Schlund wie reines Quellwasser. Es war aber hart gebrannter Schnaps.

»Tja, mein alter Knappe, der Sommer wird eigentlich immer schöne, je älter ich werde. Aber der Sturm damals, das war gar nichts. Gar nichts, sage ich Dir! Als ich noch Knappe war … Sag, wie macht sich mein Neffe?« Baron Ingrobold nippte nur an seinem Becher.

»Prächtig! Er ist der eigentliche Grund, warum ich gekommen bin. Er ist bereit für die Schwertleite, und ich möchte, dass er sie hier bekommt, in Ruchin.« Ritter Sigmans Blick löste sich vom Horizont und heftete sich auf das Gesicht seines alten Schwertvaters. Dessen Augen warn von einem so hellen Blau, dass man meinte, durch sie hindurchschauen zu können bis auf den Grund der Seele. Doch waren diese Augen zu tief, als dass man auf den Grund hätte schauen können. Ingrobolds Augen waren wie der Brunnen im Burghof: Man warf einen Stein hinein und lauschte und lauschte auf das Geräusch, wenn der Stein aufträfe. Doch es kommt nicht. Erst wenn man sich enttäuscht abwendet, erklingt es aus dem Mittelpunkt Deres. So tief waren die Augen Ingrobolds. Und jetzt leuchteten sie auf.

»Er ist soweit!«, flüsterte Ingrobold. »Gut, dass du ihn gebracht hast, Sigman. Er soll die Schwertleite am Tränenwasser erhalten, wie jeder echte Ruchin. Gneisgolds Tochter ist gerade auf der Burg. Hat letztes Jahr die Schwertleite erhalten.«

»Die ›holde‹ Griniguld

»Lass sie das nicht hören, Sigman, Was ihr an Schönheit fehlt, macht sie durch Wildheit wett.«

»Das glaube ich auf der Stelle! Wahrscheinlich hat sie sich schon einen feschen Troll gefügig gemacht!« Ritter Sigman brach in ein Lachen aus, das im Hof die Pferde scheuen ließ.

Eine Ritterin mit kurzen braunen Haaren erschien auf der Bastion, einen Jungritter im Gefolge. Während sie den festen Schritt derer drauf hatte, die sich daheim befinden - Jorunde war als Burgsassin der Ruchinsburg so etwas wie die Haushofmeisterin -, bemühte sich ihr Sohn Rondrigan um den betont lässigen, raumgreifenden Schritt der überschäumenden Jugend, die sich immer noch vorstellen könnte, den Raschtaulswall auf die Schulter nehmen zu können. Rondrigan deutete eine Verbeugung an, immerhin begrüßte er seinen Schwertvater Sigman vom Berg und dessen Schwertvater Ingrobold von Ruchin, Seinen Schwertopa, dachte Rondrigan bei sich und erlaubte sich ein Grinsen, das zwei kecke Grübchen in seien Wangen bohrte und sein Gesicht so spitz aussehen ließ wie eine Hacke.

»Herr Ingrobold, Eure Gattin lässt Euch ausrichten, dass sie mit ihrem Besuch fertig ist. Sie bittet Euch zu sich«, sagte Jorunde geschäftsmäßig.

»Hast du noch mehr Besuch im Haus?«, fragte Ritter Sigman.

»Ja, einen Hesindegeweihten aus Falkenstein. Er kam vor zwei Wochen hierher und erbat sich Schutz für den Aufstieg in den Wall. Er kam gestern zurück. Er erforscht irgendetwas. Na ja, ich habe Mechtessa gebeten, ihn abzuwimmeln. Hat wohl nicht geklappt.« Baron Ingrobolds Augen verschatten sich, so dass ihr helles Blau undurchsichtig wurde.

»Er heißt Lumpenfried Tintenkleckser und benimmt sich wie eine Dame«, ätzte Rondrigan vorlaut.

»Du bist still und sprichst nur, wenn du gefragt wirst«, herrschte ihn Ritter Sigman an. »Und wenn der Kuttenträger sich wie die Kaiserinmutter aufführt!« Rondrigan und Sigman grinsten sich an.

»Ich habe Alrik gebeten, ihm etwas auf dem Spinett vorzuspielen. Das ist mein anderer Sohn, Ritter Sigman. Etwas zarter als Rondrigan, aber sehr talentiert«, erklärte Jorunde von Ruchin.

»Etwas zarter …«, brummte der gerüstete Rondrigan leise und spielte mit seinem Eisenhandschuh, indem er die Finger abwechselnd spreizte und ballte. Vier Dornen auf den Knöcheln ließen den Rechten wie eine Kralle aussehen. Alle folgten nun Baron Ingrobold, der auf dem Wehrgang zum Palas schritt.

Drinnen umfing sie kühle Burgluft. Es roch feucht und kalt, als käme der Atem der Burg aus den Grotten des Ruchinsberges. Schon auf dem Gang hörten sie die Töne des Spinetts, das in der guten Stube gespielt wurde. Der zehnjährige Alrik von Ruchin saß an dem Instrument und spielte konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen. Baronin Mechtessa saß mit durchgedrücktem Rücken auf einem Sessel, konnte aber dennoch nicht vermeiden, dass ihre Figur an eine Rübe aus dem Kosch erinnerte. Neben dem Knaben stand der Geweihte der Hesinde und gab mit der rechten Hand den Takt vor. Er hatte die Fingerspitzen auf die Daumenspitze gelegt und ließ sie affektiert auf und niedersausen.

Sein Mündchen war ebenfalls gespitzt, das Gesicht ansonsten entspannt. Er war schlank wie eine Gerte, hatte ein vom Sonnenbrand gerötetes, jugendliches Gesicht und strubblige braune Haare. Seine Füße steckten in festen Schuhen, in deren grobem Profil er den halben Mutterboden des Hangwaldes mit sich herumtrug. Als er die Ankunft Ingrobolds und seiner Begleiter bemerkte, erhellte sich sein Gesicht. Zähne so weiß wie der schneebedeckte Gipfel des Murmelsteins blitzen frech aus seinem Mund. »Ah, Hochgeboren! Ich freue mich, Euch wiederzusehen!«

»Euer Gnaden«, erwiderte Ingrobold. »Ich freue mich ebenfalls, dass Eure Reise in den Wall offenbar erfolgreich gewesen ist.«

»Na ja - ich habe nicht alles gefunden, was ich gesucht habe. Aber dafür Dinge, die ich nicht erwartet habe entdeckt! Hesindes Weisheit reicht weiter, als wir Menschen uns erträumen würden! Habt Dank auch für den Schutz durch Eure Ritterin und Eure Knappin. Die beiden sind eine Zierde Ihres Standes.« Der Geweihte lächelte offen, und es hätte nicht viel gefehlt und er hätte die Hand des Barons ergriffen. Der aber setzte sich jetzt abweisend auf den Sessel neben seiner Gattin, die ihm mit verstecktem Augenrollen anzeigte, dass sie genug von dem Geweihten hatte.

»Ihr fragt Euch jetzt gewiss, was das sein mag, nicht wahr?« Während der Geweihte mit vor Begeisterung schriller Stimme sprach, verteilten sich die anderen auf die Sitzgelegenheiten im Raum. Rondrigan als Knappe blieb stehen und spielte mit dem krallenartigen Panzerhandschuh, indem er immer wieder die Faust ballte und mit der linken Hand die Spitzen der Dornen befühlte.

Baron Ingrobold bemerkte endlich, dass eine Frage an ihn gerichtet wurde: »Gewiss, Herr Lumpenfried … äh«

»Landfried Tintensetzer, Hochgeboren. Aus Falkenstein. Ich war ja auf der Suche …« Tintensetzer sah sich nach einer Sitzgelegenheit um und verscheuchte schließlich den Knaben vom Schemel vor dem Spinett. »… auf der Suche nach den Legenden vom Tränenwasser. Das heißt weniger nach den Legenden, sondern nach deren Beweisen. Dort oben ist ja der steinerne Steg in den See, nicht wahr?«

»Ja. Eben noch sprach ich mit Ritter Sigman darüber, denn dort soll mein Neffe dort bald die Schwert…«

»Diesen Steg habe ich mir genauer angesehen!«, unterbrach der Geweihte den Baron im Überschwang. »Wusstest Ihr, dass am Kopf des Steges, wo die kleine Mauer ist, auch anderes Gestein vermauert worden ist, als das aus dem Wall?«

»Nein, das wusste ich …« 

»Ist aber so! Ich fand Sandstein aus der Tiefebene! Ein etwa kindskopfgroßer Stein war das eingemauert zwischen den anderen. Und wisst Ihr, was ich auf der Innenseite gefunden habe?«

»Moment, Euer Gnaden. Heißt das, Ihr habt an dem Mäuerchen herumgehämmert?«

»Ja, sicher. Sonst hätte ich doch die Abbildung nicht freilegen können. Und nun ratet einmal …«

»Moment, Euer Gnaden. Ihr habt das Mäuerchen bearbeitet? Habt Ihr da etwa Steine entfernt?« Ingrobolds Augen hatten nun die bedrohliche Tiefe eines Meeresstrudels angenommen.

»Aber Hochgeboren, das andere waren doch nur grobe Steine aus dem Raschtulswall, nichts Besonderes. Die habe ich selbstverständlich dort gelassen.«

»Euer Gnaden, habe ich das richtig verstanden, dass Ihr das Mäuerchen, an dem das Haus Ruchin seit Generationen die Schwertleite empfängt sowie für eine gute Herrschaft opfert, abgetragen habt wie ein Sappeur?« Ingrobolds Stimme hatte einen bedrohlichen Klang angenommen, der sich wie ein Zittern auf die anwesenden Krieger übertrug. Ritter Sigman spannte sich an, Rondrigan öffnete die Faust gar nicht mehr.

»Keineswegs wie ein Sappeur. Ich bin sehr vorsichtig vorgegangen und habe den Bildstein sorgfältig herausgelöst. Seht, ich habe hier eine Zeichnung - das Original ist unten bei meinem Pferd, ich wollte ich die Treppen nicht hochschleppen -, auf der Ihr sie sehen könnt: Die Trä…«

Ingrobold stand abrupt auf und setzte zu dem erschrockenen Geweihten hinüber: »Euer Gnaden! Ich habe Euch nicht erlaubt, den Steg zu betreten. Ich habe Euch nur gestattet, die Legende vom Tränenwasser zu überprüfen. Aber - und das hätte Euch als denkendem Wesen doch klar sein müssen - ich habe nicht im geringsten mein Einverständnis gegeben, dass Ihr irgendetwas von dort oben mitnehmt! Jorunde, der Herr möchte jetzt gehen.«

»Aber Hochgeboren, ich bitte vielmals um Verz…«

»Jetzt, hat er gesagt!«, setzte Rondrigan nach und ließ die Faust kurz durch die Luft sausen. »Das müsste doch selbst Euch verständlich sein!« Mit diesen Wort schubste er seine Gnaden Landfried Tintensetzer aus dem Raum. Er hörte hinter sich seinen Oheim sagen: »Ich fasse es nicht! Wie konnten Griniguld und Caya das zulassen! Wie ein Specht!«  


 Wappen Mittelreich.svg  Wappen Koenigreich Garetien.svg   Wappen Grafschaft Schlund.svg   Wappen Baronie Ruchin.svg   Wappen Freiherrlich Kuchin.svg  
 Burg.svg
 
16. Ron 970 BF zur mittäglichen Rondrastunde
Ein Specht der Erkenntnis


Kapitel 1

Collegiale Unterstützung


Kapitel 1

Sturm auf Nymphenhall
Autor: BB