Geschichten:Die Befreiung
Al'Anfa, in der Nacht zum 27. Boron 1045 BF
Die Stadt lag wie unter einem Schleier aus dunklem Samt. In den Gassen war es still, nur hin und wieder durchbrach das Trappeln eines Wachpostens oder das Gekreische eines nachtaktiven Tieres die gespenstische Ruhe. In dieser Nacht sollte das Schicksal eines Mannes gewendet werden – oder zumindest war das der Plan.
Irnfrede von Luring-Hirschfurten bewegte sich mit vorsichtiger Entschlossenheit durch das Labyrinth der Hinterhöfe. An ihrer Seite schritt Luna leise wie ein Schatten, beide in nachtschwarze Gewänder mit Kapuzen gehüllt. In sicherer Entfernung hielten sich Thorkar und Simariel auf den Dächern. Ihre Augen musterten jede Bewegung in den Straßen unter ihnen, bereit, bei Gefahr jederzeit einzuschreiten.
Das Ziel war die berüchtigte Gladiatorenschule "Casa da Varro", ein düsterer Ort aus Stein und Eisen, an dem Schreie, Blut und Ruhm gleichermaßen zuhause waren. Der Plan war waghalsig, beinahe töricht – doch es blieb keine Wahl. Geromel war dort, eingekerkert, und möglicherweise war ihm nicht mehr viel Zeit vergönnt.
Die Mauern wurden erklommen, die Schatten genutzt. Erst ließ sich Luna an einem dunklen Seil in den Innenhof herab, Irnfrede folgte ihr in kurzem Abstand. Nachdem sie den Wächter abgelenkt hatten, gelangten sie rasche in den Zellentrakt. Drinnen war es stickig, der Geruch von Schweiß und Angst hing schwer in der Luft. Luna und Irnfrede schlichen von Gang zu Gang, von Zelle zu Zelle, bis sie ihn fanden – den einst so stolzen Geromel, nun abgemagert, blutbefleckt, mit Stahlschellen an Armen und Beinen, festgeschmiedet an die kalte Steinwand.
Mit geschickten Fingern und einem kleinen Dietrich entriegelte Luna das Schloss von Geromels Zelle. Irnfrede eilte hinein und kniete sich neben den einzigen Insassen: ein kräftiger Mann, mit langem blonden Haar, der gerade erwachte: "Was... wer bist du?" fragte er überrascht.
Irnfrede schlug die Kapuze zurück. "Jemand, der dich über alles liebt!" flüsterte sie und küsste ihn heiß auf den Mund.
"Irnfrede? Bei allen Göttern! Wie kommst du hierher? Was hast du dir gedacht, dich in solche Gefahr zu begeben?"
"Schhhht. Das können wir später besprechen, jetzt müssen wir dich erstmal hier rausholen."
Luna hatte bereits die Ketten erblickt, mit denne man Geromel an die Kerkerwände angeschmiedet hatte.
"Verdammt, das kann ich so nicht öffnen." fluchte sie. Das wurde mit schwerem Gerät gemacht." Sie zog an den Ketten. "Keine Chance."
"Vielleicht schafft Thorkar es?" fiel Irnfrede ein.
"Käme auf nen Versuch an", nickte Luna. Rasch lief sie zurück zur Tür zum Innenhof und signalisierte Thorkar, dass sie seine Hilfe bräuchten.
Doch als der Hüne über den Hof lief wurden zwei Wachen auf ihn aufmerksam. "Halt, wer da?" rief eine.
Im nächsten Moment zischte ein Pfeil durch die Nacht und traf den ersten Wachmann in den Hals. Dieser röchelte und brach zusammen. Der andere rief laut "Alaaaa...", doch weiter kam er nicht. Ein zweiter Pfeil traf ihn in die Brust und leiß ihn niedergehen. Doch weitere Wachen kamen herangelaufen.
Luna tat, was sie tun konnte: Mit geschickten Händen löste sie die Verriegelung der übrigen Zellentüren. Der Tumult ließ nicht lange auf sich warten – die Gladiatoren, im Blutrausch zwischen Flucht und Rache, brachen aus ihren Käfigen. Schreie, Stahlklirren und das dumpfe Knirschen berstender Türen hallten durch die Gänge.
Doch es half nichts. Selbst als Thorkar sie endlich erreicht hatte und mit aller Kraft an den Ketten riss, bewegten sie sich nicht. Geromel – fluchend, aber gefasst – befahl schließlich: „Ihr müsst gehen, schnell! Ich bin nicht wichtig, wenn ihr dabei sterbt!“
Es blieb keine Zeit für Zögern. Die Rufe der Wachen kamen näher, schwere Schritte hallten durch die Gänge. Simariel gab von oben das Signal zum Rückzug. Schweren Herzens verließen sie die Zelle – ohne Geromel.
Als die Gruppe in der Dunkelheit verschwand, war ihnen klar, dass sie ihn nicht aufgeben würden. Doch der Preis dieser Nacht war hoch: Hoffnung mischte sich mit Scham, Mut mit Verzweiflung.
Geromel war noch immer in der Hölle Al’Anfas gefangen. Doch nun wusste er: Er war nicht vergessen.
