Geschichten:Der Truchsess von Oberhartsteen - Eins, zwei, drei und frei

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Burg Oberhartsteen, Hesinde 1043 BF

Das Rasseln des Schlüssels an seiner Zellentür hatte Retodan von seinem Lager aufgeschreckt und überrascht blinzelte er ins Licht der Laterne, mit welcher die vierschrötige Dilberta in das Gefängnis leuchtete: „Hartwalden, steht auf und folgt mir!“, krächzte die Oberwärterin. Es dauerte einen Moment, bis sich der ehemalige Truchsess mit einem schwerfälligen Ächzen erhob. Die Zeit im tiefen Loch hatte seiner Gesundheit bereits schwer zugesetzt, bevor der Befehliger auf Oberhartsteen, Orestes von Hartsteen, ihn in diese andere trockenere Zelle hatte verlegen lassen, wo Retodan immerhin ein Strohlager zum Schlafen und ein Pisspott zur Verrichtung seiner Notdurft zuteil geworden war.

Nun schlurfte er zur Tür, wobei er lautlos murmelnd seine Schritte zählte, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, wenn er innerhalb der dicken Mauern versucht hatte, irgendwie ein wenig Wärme in seinen durchgefrorenen und von kaum mehr als Lumpen bedeckten Körper zu bekommen: ‚Eins, zwei, drei....’ Zwei Waffenknechte nahmen ihn vor der Zellentür in Empfang und eskortierten ihn die Stufen des Kerkertraktes hinauf, wobei sie den entkräfteten Mann mehr stützten als führten: ‚Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig’, zählte er weiter, während er den Treppenabsatz erklomm und schließlich keuchend ins Freie des Burghofes trat. Da musste Retodan die Augen zusammenkneifen, denn selbst das trübe Winterlicht bohrte sich schmerzhaft in seinen Kopf. Zu lange hatte er in der Dunkelheit und manchmal im spärlichen Schein von Kienspänen oder blakenden Ölfunzeln ausgeharrt. Den Moment nutzend, den ihm seine Bewacher zum Verschnaufen zugestanden, sog er gierig die eiskalte Luft ein, die ihn zittern machte, überwältigt von der Frische nach dem ewigen Modermief seines Gefängnisses.

‚Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvierzig’ Leise murmelnd zählte er die Schritte, während sie den Burghof querten. Er war geradezu fasziniert davon, dass er seine Fußspitzen sehen konnte und nicht bei jedem zweiten Schritt das Quieken einer flüchtenden Ratte ertönte. Doch dann beschlich ihn die Frage nach dem Grund für diesen Gang. Wenn sie ihn hätten umbringen wollen, hätte man das ohne Schwierigkeiten auch in der Zelle tun können und die Verhöre hatten im Wachraum des Zellentraktes stattgefunden. Konnte es etwa sein...? Schnell schob er den Gedanken zur Seite: Hoffnung war trügerisch.

‚Zweiundsechzig, dreiundsechzig, vierundsechzig....’Vor ihm steuerte Dilberta die Vogteistube an und winkte Retodan durch die Tür, während sie selbst mit den Waffenknechten am Eingang zurückblieb. Was hatte das zu bedeuten? Suchend blickte er sich in dem altbekannten Raum um, der sich in der Zwischenzeit jedoch stark verändert hatte. Kahle grob verputzte Steinwände sprangen ihm in die Augen, wo einst eine teilweise bemalte Holzvertäfelung Eindruck bei den ihre Abgaben leistenden Bauern hatte schinden sollen. Der riesige schwere Eichenholztisch und das schön geschnitzte Schreibpult waren ebenfalls verschwunden, was den ehemaligen Truchsess auf den Gedanken brachten, dass Feuerholz oder gar Kohlen in der belagerten Burg ein rares Gut sein mussten. Hier drinnen war es kaum wärmer als draußen auf dem zugigen Burghof und dicke Eisblumen zierten die Butzenglasscheiben an den Fenstern.

Dann richtete sich Retodans Aufmerksamkeit auf die beiden Personen, die ihn hier erwartet hatten. Den knorrigen Hauptmann Orestes kannte er, ein kampferprobter entfernter Vetter Graf Luidors, der nach wie vor erfolgreich die Verteidigung der Hartsteener Stammburg leitete. „Hartwalden“, nickte ihm der Burghauptmann zur Begrüßung mit säuerlicher Miene knapp zu und wies auf die dem Truchsess unbekannte stämmige Frau, von der Retodan nicht genau sagen konnte, wo ihr Kinn aufhörte und der Hals anfing. Sie trug dicke winterliche Reisekleidung und ein um Griff und Scheide ihres umgürteten Schwertes gebundenes weißes blumenbesticktes Tuch, das in Wandleth und Hartsteen bekannte Friedenszeichen der Thuronier. Damit also musste sie durch den Belagerungsring gekommen sein.

„Ich darf Euch Irmhelde von Gneppeldotz vorstellen. Sie kommt als Gesandte mit Zeitung von Graf Odilbert, aber die wird sie Euch besser selbst verkünden.“

„Ich will es kurz machen: Retodan von Hartwalden, nachdem sich Euer Sohn Hagen so sehr für Euch eingesetzt hat, hat Graf Odilbert in seiner großen Gnade Eure Entlassung aus der Haft verfügt...“

Während der Hauptmann ob dieser Worte die Stirn runzelte und damit seiner Missbilligung des Vorgangs stumm Ausdruck verlieh, starrte Retodan völlig verdattert die Gneppeldotz an, aus deren Mund er die unverhoffte Nachricht soeben vernommen hatte. Er würde frei sein! Der Truchsess spürte, wie ihm schwindlig wurde, so dass das Folgende nur verschwommen zu ihm durchdrang: „...unter der Bedingung, dass Ihr in der Obhut Eures Sohnes Garetien umgehend verlasst und für die Dauer der Fehde keinerlei Umgang mit den Feinden Graf Odilberts pflegt.“

„Frei? Das...dank...“, mühsam bekämpfte Retodan den plötzlichen Kloß in seinem Hals und versuchte, seine Fassung wieder zu erlangen.

„Wir werden sofort aufbrechen. Die Dämmerung naht und ich will die Nacht nicht auf Schlunder Boden verbringen!“, erläuterte Irmhelde von Gneppeldotz bestimmt und hielt ihm einen Wollmantel hin, der ihm etwas mehr Schutz vor der Kälte gewähren würde. „Vor dem Tor wartet eine Kutsche. Kommt!“

„Nur...zu gern“, Retodan legte sich den Mantel um und fummelte mit seinen ewig klammen Fingern die Schließe zu, bevor er der gräflichen Gesandten folgte. Dabei begann etwas tief in seinem ausgemergelten Körper zu blubbern und er musste unwillkürlich kichern, als er in Gedanken reimte: ‚Eins, zwei, drei...und frei!’

„Gehabt Euch wohl und dankt den Zwölfen für Euer Glück, Hartwalden“, brummte Orestes von Hartsteen zum Abschied. Und mit sorgenvoller Miene leise zu sich selbst: „Ich hoffe, mein Vetter weiß, was er da tut.“