Geschichten:Der Truchsess von Oberhartsteen - Beim Lepel

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Gut Lepeln, Ende Travia 1043 BF

Egbert von Lepel mochte keine Überraschungen, doch genau einer solchen war er nun im Begriff gegenüber zu treten. Entsprechend besorgt, wenn auch äußerlich vollkommen beherrscht, erwartete er Hagen von Hartwalden-Hartsteen in der Vorhalle seines Anwesens, flankiert von seiner Nichte und seiner Hausritterin Halina von Gluckenhagen. Dass der junge Ritter hier vorstellig wurde, zeugte entweder von großem Mut oder großer Naivität. Wie ihm Alrike berichtet hatte, hätte nicht viel gefehlt und die Wachen, in Bugenhog angeheuerte Söldner, hätten statt der Strohballen auf dem Vorplatz den Hartwalden als Ziel für ihre Schießübungen mit der Armbrust benutzt, obwohl er sich dem Gutshof ohne Begleitung und mit einer Tsa-Flagge in der Hand genähert hatte.

Nach einer förmlichen Begrüßung und samt kurzer Vorstellung ergriff der Hausherr das Wort: „Ich gebe zu, ich bin überrascht. Immerhin hat Eure Familie in der ersten Reihe derer gestanden, die das Band zerrissen und Graf Luidor die Fehde erklärt hat. Darum frage mich selbstverständlich, was wohl der Grund dafür sein könnte, dass Ihr allein das Gespräch sucht – und nicht mein Hab und Gut.“

„Ich habe keinen Anteil an der Fehde und spreche nicht für die Familie Hartwalden, sondern vor allem für meine Mutter, Korgundis von Steinfels und natürlich für meinen Vater Retodan von Hartwalden-Hartsteen.“

Bei der Nennung des Namens ging Lepel ein Licht auf und er musterte den jungen Mann genauer. Tatsächlich war dessen Ähnlichkeit mit Luidors ehemaligem Truchsess unverkennbar.

„Und genau hierin liegt das Problem“, fuhr Ritter Hagen fort, „Wir, das heißt, meine Mutter und ich, möchten Klarheit darüber, wie es um ihn bestellt ist und wären Euch sehr verbunden, wenn Ihr uns sagen könnt, ob mein Vater noch lebt, oder ob wir uns nur noch um ein borongefälliges Begräbnis für ihn bemühen können. Immerhin seid Ihr einer der letzten, der Oberhartsteen vor der Belagerung noch verlassen hat.“

„Ihr seid gut unterrichtet“, kommentierte Lepel dies kurz und trocken. Selbst stets auf der Suche nach Informationen, die er gewinnbringend an jeglichen Interessenten weitergab und in der Erwartung, dass alle Welt es ihm gleichtäte, war er eigentlich darauf bedacht, dem Gegenüber möglichst wenig Einblick in seine eigenen Verhältnisse zu geben. Im Gegensatz zu Retodan, der sich ‚stets bemüht’ hatte, wie Egbert im kleinen Kreis spöttisch zum Besten zu geben pflegte, schien sein Sohn Hagen von Hartwalden-Hartsteen allerdings seine Praiostagsschulaufgaben erledigt zu haben und ließ den Hartsteener Landvogt vorsichtig werden. Es war wahrscheinlich besser, den jungen Mann schnell wieder loszuwerden. Und so setzte er eine Miene verbindlicher Dienstbeflissenheit auf, während er sprach: „Gerne will ich berichten, was ich in der Angelegenheit weiß. Seht Ihr, ich persönlich habe nichts gegen Euren Vater und eigentlich haben wir am Hartsteener Grafenhof alles in allem gut zusammen gearbeitet, auch wenn es natürlich hin und wieder Differenzen gab. Für Graf Luidor kam die Fehdeansage Eurer Familie aus heiterem Himmel – und Euer Vater schien davon mindestens genauso überrascht zu sein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Daraufhin hat er leider eine Entscheidung getroffen, die sich nur allzu leicht missdeuten ließ. Jedenfalls hat Graf Luidor den Fluchtversuch Herrn Retodans als Beweis für dessen Teilhabe an der Verschwörung seiner Schlunder Vasallen angesehen und ihn in den Kerker werfen lassen. Ob er ihn nun als Pfand zurückhält oder ein Exempel zu statuieren gedenkt, vermag ich freilich nicht zu sagen. Auf jeden Fall war Euer Vater noch am Leben, als ich Oberhartsteen verließ, das könnt Ihr Eurer Mutter gerne ausrichten.“

Hagen, der den Worten des Landvogtes aufmerksam zugehört hatte, bedankte sich erleichtert, was Egbert von Lepel befriedigt zur Kenntnis nahm. Vielleicht konnte sich der Ritter nun seinerseits als nützlich erweisen: „Es freut mich, dass ich Euch ein wenig weiterhelfen konnte. Wäret Ihr wohl bereit, ebenfalls einen kleinen Dienst für mich zu übernehmen? Überbringt der Junkerin von Hausen, Freybertha von Hartweil, einen Brief. Keine Sorge: Der Inhalt ist kaum dazu geeignet, den Boten in Schwierigkeiten zu bringen.“

Der Bitte konnte sich der junge Ritter schwer verweigern und so hieß der Hausherr Hagen von Hartwalden-Hartsteen in der Obhut von Alrike und der Gluckenhagen warten und eilte in sein Arbeitszimmer, das Schreiben aufzusetzen. Nicht nur bei den Hartwaldens zeigten sich Risse in der geschlossenen Fehdefront – und das wiederum war nur gut fürs Geschäft...