Geschichten:Der Stachel des Mantikors - Ritter, Söldner und Geweihte

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Cern eilte durch die Burg und suchte nach Jessa. Für den abendlichen Zwischenfall hatte er nun überhaupt keine Erklärung parat und erhoffte sich daher etwas Aufschluß aus einem Gespräch mit der korgeweihten Söldnerführerin. Er hatte Sie weder in der Kapelle noch in der Wachstube oder gar in ihrer Kammer angetroffen, und von den Soldaten hatte sie auch niemand gesehen. Ungeduldig marschierte er nun wieder durch den Burghof, als Rondrina die Freitreppe herunterkam. Fragend blickte er die Schwertschwester an.

"Alles in Ordnung?"

"So ziemlich. Er wird es überleben. Deine Schwester scheint das Schlimmste verhindert zu haben."

Sie schwieg einen Moment.

"Aber es wäre alles nicht nötig gewesen..." sagte sie düster.

Cern nickte. "Doch was soll’s, nun ist es eh zu spät. Ich hoffe nur, dass er sich wieder auf die rondrianischen Tugenden besinnt. Und dieser Geweihte ist mir ohnehin äußerst suspekt."

"Ist?" fragte Rondrina. "Ich dachte, der wäre tot."

"Das dachte ich auch, aber er ist es nicht. Vielleicht hat der blutige Schnitter selbst seine Hand im Spiel? Vielleicht ist er auch einfach nur zäh? Wer weiß..."

"Und wo ist er jetzt?"

"Ich habe ihn ins Ordenshaus schaffen lassen und unter Bewachung gestellt. Um alles weitere kümmere ich mich morgen."

"Gut. Aber ich werde auch ein Wörtchen mit ihm reden. Du hast doch nichts dagegen, hoffe ich?" fragte sie.

"Warum sollte ich? Rede ihm ruhig ins gewissen. Vielleicht ist er Dir gegenüber sogar gesprächiger; immerhin bist der Mutter Kors geweiht."

"Wir werden sehen, was er zu sagen hat. Ich gehe zurück zum Tempel. Nach der Morgenandacht komme ich wieder, und dann kannst Du mir in aller Ruhe berichten, was sich genau zugetragen hat. Gute Nacht!" Sie wandte sich ab.

"Gute Nacht. Halt, noch eins: Hast Du Jessa gesehen? Ich suche sie schon eine ganze Weile, kann sie aber nicht finden."

"In der Kapelle?"

"Da war ich schon, gleich als erstes."

"Nun, vielleicht habt ihr Euch auch verpaßt. Ich würde da noch einmal schauen!" rief sie ihm über die Schulter zu.

Cern blieb einen Moment unschlüssig stehen. Nun ja, schaden kann es ja nicht, wenn ich noch einmal dort nachschauen, dachte er. Ansonsten warte ich notgedrungen bis morgen.

In der Korkapelle brannten nur wenige Kerzen und tauchten den ohnehin schon ungemütlich kalten Raum in dunkle Schatten. Rondrina hatte recht behalten: Jessa kauerte neben dem Opferstein auf dem Boden, leise wimmernd, und der Stein selbst schimmerte rötlich-feucht. Ihr rechter Arm hing schlaff herunter, und ein rotes Rinnsal ergoß sich aus neun dicht nebeneinander gesetzten Schnitten auf den Boden. Mit trüben Augen starrte die Korgeweihte hinab auf die größer werdende Blutlache, die sich aus ihrem Lebenssaft auf dem steinernen Boden der Kapelle bildete.

Cern trat näher, jedoch nur langsam. Er war sich unschlüssig, ober er hier vielleicht ein geheimes Ritual der Priesterin störte, oder aber ob sie nun beschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden. Einerseits war Jessa ihm ohnehin nicht ganz geheuer, andererseits hatte sie die barönlichen Söldner der Waldsteiner Wölfe jedoch gut im Griff, weit besser als dieser Collonello di Szarfas, welchen der Baron vor einigen Jahren während der Waldfang-Sache und des Greifenzuges in seinen Sold genommen hatte.

Schließlich siegten Neugier und ritterliches Hilfsgefühl. Er kniete neben Jessa nieder, doch diese schien ihn nicht zu bemerken. Die Blutung war zwischenzeitlich schwächer geworden. Cern ergriff ihre Linke und fühlte ihren Puls; wie eh und je pulsierte das Blut durch die Adern. Schließlich versiegte der Blutstrom ganz.

"Was in aller Zwölfe Namen ist eben dort oben in der Halle geschehen?" fragte Cern, doch ihm war mehr. Als spreche er zu sich selbst. Umso überraschter war er, als Jessa den Kopf hob und ihn anblickte.

"Meine Schuld! Es ist meine Schuld!" murmelte sie, bevor sie fast ohnmächtig zusammensackte. Mühsam zog Cern sie auf die Bein, legte ihren linken Arm um seine Schultern und umfaßte mit der rechten ihre Hüfte, um sie zu stützen. Von ihrer Hand, die in der Blutlache gelegen hatte, fielen neun Tropfen auf den Boden hinab und bildeten eine rote Spur mitten durch die Kapelle, während der Hauptmann Jessa langsam aus der Kapelle hinaus und in ihre Stube geleitete.

Cern schlief schlecht in dieser Nacht, und Rondrina erging es nicht anders. Beide wachten schon lang vor dem Morgengrauen auf. Kurz entschlossen warf sich Rondrina ihren Mantel über, ergriff ihr Schwert und ging in die Tempelhalle. Dort kniete sie vor dem Löwinnenaltar nieder und versank in eine stumme Zwiesprache mit der Kriegsgöttin, ihrer Herrin. Erst als Alrik und Haldan, die beiden Novizen, zur Morgenandacht erschienen, fand ihr Bewußtsein in die Gegenwart zurück.

Cern hingegen kleidete sich an und lief unruhig in seiner Stube auf und ab. Schließlich riß er das Fenster auf, um die kalte Nachtluft hineinzulassen, und blickte hinaus auf Burg und Stadt und das Land, das sie umgab. Als schließlich der Morgen graute war er des Wartens überdrüssig. Er streifte sein Kettenhemd über, gürtete das Schwert und marschierte zum Rondratempel hinüber. Die Torwache, die ihn aus der Burg entließ, blickte ihn verwundert an, ebenso der alte Gilbert, der ihm die Tempelpforte öffnete. Gilbert, der die siebzig vor ein paar Jahren überschritten hatte, war neben Rondrina der einzige Geweihte des Uslenrieder Rondratempels; die übrigen waren auf dem Greifenzug oder an der Trollpforte gefallen.

Rondrina hingegen wirkte wenig überrascht, gleich so, als hätte sie mit seinem Erscheinen gerechnet.

Nach der Morgenandacht fühlte sich Cern etwas besser. Haldan und Alrik eilten voraus, das Frühstück vorzubereiten, und der alte Gilbert humpelte schwerfällig hinterher.

"Ich sollte öfter zur Morgenandacht kommen," meinte Cern zu sich selbst. Nebenbei bemerkte er, dass er entgegen seiner Gewohnheit gar keinen Wappenrock angelegt hatte.

"Das steht Dir frei," entgegnete Rondrina, "Du kannst kommen, wann immer Du willst." Es klang nicht nach Tadel, sondern vielmehr nach einer Einladung, obwohl Cern zuerst geneigt gewesen war, in den Worten der Schwertschwester einen mißbilligenden Tonfall zu entdecken.

"Bleibst Du zum Frühstück?" fragte Rondrina weiter. "Immerhin würde mich interessieren, was sicher gestern abend genau zugetragen hat."

Cern nickte. "Warum eigentlich nicht? Hier habe ich gewiß mehr Ruhe als auf der Burg."

Gemeinsam gingen sie in den kleinen Speisesaal des Tempels, und während des Mahles hörte sich Rondrina an, wie es zu dem schicksalhaften Kampf zwischen ihrem Bruder und dem Korpriester gekommen war. Als Cern den Tempel schließlich verließ, stand die Sonne schon einige Zeit am Himmel.

Die Stimmung auf der Burg war äußerst gedrückt. In der Hohen Halle waren zwei Mägde bereits damit beschäftigt, den Boden zu säubern und das inzwischen geronnene Blut aufzuwischen. Es war nicht weiter verwunderlich, dass Wulf nicht zum Morgenmahl erschienen war, doch auch Sinya hatte offensichtlich die barönlichen Gemächer noch nicht verlassen, obwohl sie für gewöhnlich recht zeitig aufzustehen pflegte.

Nachdem er Kettenhemd und Schwert in seine Kammer gebracht hatte marschierte er hinauf in Richtung der barönlichen Gemächer, um dort nach dem rechten zu sehen. Außer den Leibdienern, dem ersten Schreiber Datierlich, Rondrina und ihm durfte sich niemand ungebeten dort aufhalten, und als Hauptmann der Baronie hielt er es für seine Pflicht, seinen Herrn aufzusuchen und die Tagesbefehle entgegenzunehmen. Solche wurden zwar in der Regel nicht erteilt, doch heute herrschten andere Umstände.

Auf halbem Wege kam ihm Taria, die Zofe seiner Schwester, entgegen. "Praios zum Gruße, Wohlgeboren. Falls ihr nach der Baronin sucht, so habt ein wenig Geduld. Sie kleidet sich noch an und wird gleich herabkommen."

"Und seine Hochgeboren?"

"Schläft noch, oder besser wieder. Er war vorhin kurz wach, da haben wir ihm behutsam etwas zu trinken gegeben, doch dann ist er bald wieder eingeschlafen. Er ist sehr schwach und wird wohl noch einige Tage brauchen, bis er wieder auf die Beine kommt." Die Zofe eilte weiter die Treppe hinab.

Kaum dass Cern am Ende der Treppe angelangt war, trat Sinya auch schon aus der Tür hinaus.

"Guten Morgen, kleine Schwester. Wie geht es Dir?"

"Ich fühle mich müde, obwohl ich lange geschlafen habe. Das ist doch eigentlich gar nicht meine Art, entgegnete sie. Was macht dieser Kormeuchler?" fragte Sinya, während sie zusammen mit Cern die Treppe hinunterging.

"Der hat wie durch ein Wunder überlebt. Ich habe ihn ins Ordenhaus schaffen lassen und dort unter Arrest gestellt."

"Das ist gut so, denke ich. Und wie geht es weiter?"

"Ich werde mir diesen Knaben noch später am Nachmittag vornehmen."

"Rondrina will ihn sich auch noch vorknöpfen." Er schwieg einen Moment. "Und wie geht es Wulf?"

"Den Umständen entsprechend. Ich muß die Ereignisse der letzten Nacht erst einmal richtig verdauen. Aber er ist über den Berg. Da kann ich wohl beim Verdauen nun ruhigen Gewissens mit dem Frühstück beginnen."

Wenig später erreichten sie den Speisesaal, und Cern leistete seiner Schwester noch ein wenig Gesellschaft. Der Duft von gebratenen Eiern mit Zwiebeln und Speck machte Appetit auf ein zweites Frühstück, welches er sich schließlich nicht entgehen ließ.

Nachdem sie das Mahl beendet hatten, erhob sich Sinya und legte ihrem Bruder die Hand auf den Arm. "Sorge dafür, dass hier alles ruhig bleibt und wieder Ordnung einkehrt. Ich werde für ein paar Stunden in die Stadt hinabgehen; Du weiß, wo ich bin."

Cern nickte. Die Worte Du weißt, wo ich bin waren eine geheime Botschaft, die ausdrückte, dass Sinya den Phextempel aufsuchen wollte. Nach wie vor versuchte sie, ihre Weihe zum Mondschatten so geheim wie möglich zu halten. Was sie dort wollte, fragte er nicht; er wußte, dass sie es ihm nicht sagen würde.

Sinya verließ den Speisesaal und ging hinüber zur hohen Halle, in welcher sie gestern ihr Rapier hatte liegenlassen. Die Klinge war bereits vom Blut gereinigt worden und lag nun auf dem Tisch. Der Boden glänzte noch feucht vom Wischen und rief ihr die Erinnerungen an den gestrigen Abend so sehr ins Gedächtnis zurück, dass sie zu frösteln begann. Schnell verließ sie die Halle, eilte hinauf in ihre Gemächer und schlüpfte in Stiefel und Weste. Sodann band sie ihren Langen Haare zum Zopf und warf den dunklen Kapuzenumhang über, nicht ohne vorher das Rapier umzuschnallen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass in ihrem Geldbeutel noch ausreichend Münzen und ein paar kleine Edelstein waren, ging sie hinunter in der Burghof. Nachdem sie aus dem Tor getreten war, zog sie sich die Kapuze über den Kopf und ging hinunter zum Marktplatz, auf welchem die Händler bereits ihre Waren anpriesen.

Cern erster Weg nach dem Morgenmahl führte ihn in die Wachstube. Er teilte die Wachdienste für den Tag und die kommende Nacht ein, schickte zwei Soldaten hinunter zum Ordenshaus, um ihre Kameraden abzulösen, überprüfte die Waffenkammen und sah in den Stallungen nach den Pferden. Danach rief er Knechte, Mägde und die übrigen Bediensteten im Gesindesaal zusammen und teilte ihnen in knappen Worten mit, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte, bevor sich noch üblere Gerüchte verbreiteten, die sicher ohnehin schon im Umlauf waren. Mit den Worten "Und wenn ich herausbekomme, dass irgendjemand davon erzählt und es in die Stadt hinabträgt, dann steckte ich denjenigen persönlich für eine Woche bei Wasser und Brot in den Turm!" schloß er seine Ansprache.

Anschließend begab er sich in Jessas Kammer. Die Söldnerin schlief. Er öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, bevor er sich auf einen Schemel setzte und Jessa grübelnd beobachtete.

Nach einer Weile erwachte sie und schüttelte sich. "Mir ist so kalt," murmelte sie. "Und ich bin so müde." Kurz darauf war sie wieder eingeschlafen. Cern schloß das Fenster. Es würde wenig Sinn haben, hier die Zeit zu vertrödeln; er würde am Nachmittag noch einmal nach ihr sehen. So ging er hinüber ins Haupthaus der Burg, gab in der Küche Anweisung, Jessa ein leichtes Mahl und eine Kanne Tee zu bereiten und ihr beides auf die Stube zu bringen. Dann begab er sich in die Schreibstube, um sich zusammen mit Datierlich, dem ersten Schreiber, den übrigen Geschäften der Baronie zu widmen.

In einem unbeobachteten Augenblick schlüpfte Sinya durch die Pforte des Uslenrieder Phextempels, der sich am unteren Ende des Marktplatzes befand. Ein paar Münzen fanden ihren Weg in die Opferschale, bevor sie einige stille Worte an die Statue des göttlichen Fuchses richtete. Schließlich verschwand sie hinter einem Vorhang in der Rückwand, öffnete wissend die geheime Tür in der Wand und schritt die Treppen hinab in die Gewölbe unterhalb des öffentlichen Tempels, der nur den Geweihten Phexens vorbehalten war. Erst hier schlug sie die Kapuze zurück.

"Seid gegrüßt im Namen des Nächtlichen, Wohlgeboren!" Falkbert Phexhilf Hohenstein, der Vogtvikar des Tempels, trat ihr aus den Schatten entgegen, hinter denen sich die Tür zu seiner Studierstube befand.

"Seid gegrüßt im Licht seiner leuchtenden Sterne, Meister Phexhilf," entgegnete sie. "Ihr habt doch gewiß einen Moment Zeit für mich?"

"Sicher doch, Frau Phexiane. Um was immer es geht, wir wollen es bei einem Becher Wein besprechen."

Sinya folgte dem Vogtvikar in seine Dienststube, wie er es selbst zu nennen pflegte, und ließ sich auf einem gut gepolsterten Lehnstuhl nieder. Nachdem er ihr einen Kristallpokal mit süßem Wein gefüllt hatte - Phexhilf wußte, was sie mochte; erzählte sie im von den Ereignissen des letzten Tages.

"Und nun will ich so viel wie möglich über ihn wissen. Ich weiß, dass er aus Fasar stammen muß und Jessa seine Schülerin war; das ist ein Anfang. Das übrige mögen uns die nächtlichen Pfade weisen," schloß sie ihren Bericht.

"Gewiß werden sie das", entgegnete Vogtvikar Falkbert, von den Geweihten nur Phexhilf genannt.

"Das weiß ich wohl", erwiderte sie und erhob sich.

Der Vogtvikar tat es ihr gleich. "Halt, noch eins, bevor ihr geht: Ich habe eine Botschaft von Yassia erhalten."

Sinya stutzte. Yassia war ihre Schülerin gewesen und nun ihre engste Vertraute unter den Geweihten des Tempels, eine Freundin, wie es auf der Burg keine gab, von ihrer Zofe Taria einmal abgesehen, doch dort waren die Stände zwischen ihnen. Unter den Geweihten hingegen waren sie gleichwertig. "Was für eine Nachricht?"

"Sie ist in Gareth mit einem Bernfried von Streitzig j.H. aneinandergeraten. Und wie ich hörte, soll der schon einiges auf dem Kerbholz haben, was der Familie Eures Gemahls wenig förderlich ist. Sie wollte wohl, dass ihr es wißt."

Sinya nickte. "Keine guten Nachrichten", murmelte sie und mußte daran denken, was Kira, eine Base ihres Gemahls, kürzlich berichtet hatte. Bernfried fiel doch immer wieder unangenehm auf; Wulf würde wenig erfreut sein, wenn er davon erfuhr. Plötzlich wurde sie von einer inneren Unruhe erfüllt. Sie verabschiedete sich von Falkbert und machte sich auf den Weg zurück zur Burg. Irgendwie beschlich sie das unangenehme Gefühl, dass dies erst der Anfang von irgendetwas üblem war...


 20px|link=[[Kategorie:|Ritter, Söldner und Geweihte]]
5. Tsa 1025 BF
Ritter, Söldner und Geweihte
Sorgen und Nöte


Kapitel 7

Autor: CD