Geschichten:Der Ruf des Einhorns - Und wenn es eine Falle ist?

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Stift des Lichts der Erkenntnis, Mitte Rondra 1036 BF

Versonnen betrachtete Edorian das vor ihm liegender Blatt Papier, die saubere, gut lesbare Handschrift, die delikaten und wohl gezeichneten Symbole des Nanduria am Kopf des Schreibens. Fast zwei Monde war es inzwischen her, dass eine Botenreiterin des Kaiserlichen Boten- und Kurierdienstes das Schreiben an der Pforte abgegeben hatten. Eine Novizin hatte es entgegengenommen, es gemustert und sich sogleich nach Absender und Absendeort erkundigt. Ein leichtes Lächeln huschte über Edorians Lippen. Mirya war schon ein Kind ganz nach dem Geschmack seines Herrn. Erfahren hatte sie, wie sie ihm mit betretener Miene gestand, als sie ihm das Schriftstück übergab, dennoch nichts. Die Botenreiterin hätte sich lediglich auf ihre Anweisung berufen nichts weiteres preiszugeben.

Noch am selben Abend hatte Edorian den Brief seiner Priorin gezeigt und lange mit seiner Schwester im Glauben diskutiert. Esmeria hatte sich bei allem Interesse sehr skeptisch gezeigt und von einer Reise nach Eslamsgrund abgeraten. Zu sehr fühlte sie sich an die Ereignisse in Silas erinnert. Löblich hatte sie die Ansichten des Verfassers genannt. Doch Garetien sei noch nicht soweit. Die Kirche des Nandus müsse sich hier erst etablieren und auch was die geistige Entwicklung der Bevölkerung beträfe, wäre noch viel Vorarbeit zu leisten. Übereilte und zu provokante Aktionen würden der Sache ihres Herrn mehr schaden als nützen.

Ihre Ansicht war alles andere als leicht von der Hand zu weisen. Selbst aus den Reihen des garether Patriziats schlug ihnen bisweilen Feindseligkeit entgegen. Die Unterrichtung von Kindern aus dem Südquartier nahmen insbesondere die Burgherdals mit wenig Begeisterung auf - von großen Teilen des Adels ganz zu schweigen. Dies hatte Edorian schon vor geraumer Zeit zu einer viel beunruhigenderen Überlegung veranlasst. Was wenn hinter diesem Brief gar kein Bruder im Glauben stand, sondern ein Gegner ihres Gottes? Eine spontane und vor allem nicht mit den Autoritäten abgesprochene Versammlung von Nandus-Gläubigen in Eslamsgrund – es würde nur eines Scharlatans in einer grauen Robe und einem grünen Skapulier bedürfen, der aufrührerische Reden auf einem Podium schwingt und die Eslamsgrunder Stadtwache würde sie alle wegen Aufwieglerei einkerkern. Das wäre so einfach ... so brillant. Fast schon phexgefällig. Vielleicht aber auch ein wenig zu phexgefällig. Wie viele garetische Adlige würden sich – bei aller Feindseligkeit gegenüber seiner Bruderschaft – auf solch eine Intrige einlassen. Für die sogenannte praiosgefällige Ordnung mit ganz und gar unpraiotischen Mitteln, mit Verrat und Intrige eintreten? Sicherlich würden viele vor so etwas zurückschrecken. Doch die Zahl derer, denen er spontan solche Winkelzüge zuzutrauen würde, war Edorian eindeutig zu hoch. Sicher wäre es weiser, klüger das Schreiben einfach zu ignorieren, Ingerimms Flammen zu übergeben und zu vergessen. Doch was wäre mit den Schwestern und Brüdern im Glauben, die dem Aufruf gutgläubig folgten? Edorian musste unwillkürlich an Sharban denken, wie er frohen Mutes nach Eslamsgrund zog. Dornenbusch war garnicht so weit entfernt. Und was wäre, wenn das Schreiben keine Falle war? Wer hatte es verphext nochmal verfasst? Edorian hatte viele Stunden über dieser Frage gebrütet, aber war zu keiner befriedigenden Antwort gelangt. Dieses ganze Schreiben war ein Rätsel und genau das hielt sein Interesse an ihm wach, ja stachelte es immer weiter an und ließ die Neugier in ihm auflodern wie eines der rosskupler Perainedankfeuer. Natürlich würde er zum Prüfungsfest nach Eslamsgrund reisen, aber nicht wie das Lamm zur Schlachtbank, sondern bedeckt und davor musste er noch einige Nachforschungen anstellen und Rat suchen. Er wusste schon sehr genau, wo er damit beginnen würde...

Edorian stand von seinem Schreibtisch auf und steckte den Kopf aus der Tür seines Quartiers. Gerade kam Mirya mit einem großen Stapel Bücher aus der Bibliothek. Sie lächelte, als sie ihn sah.

„Mirya, bitte sei doch so gut und lass den Stallknecht meinen Zelter satteln. Ich gedenke einen kleinen Ausflug zu unternehmen, nach St. Ancilla. Wenn du willst, kannst du mich begleiten!“

Ihr Lächeln wurde breiter.

„Sehr sehr gerne Euer Gnaden, ich kümmere mich darum. Aber vielleicht sollten wir das auf morgen verschieben? Es ist beinahe Mitternacht ... und mit Verlaub, ihr tragt ein Nachthemd...“