Geschichten:Das Blut der Alten - Vergossen in Herdentor

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Schloss Reichsgarten, Ende Rahja 1043 BF

Melandra saß deutlich angespannt an ihrem Schreibtisch. Eigentlich wartete ein Haufen Pergamente auf sie die zu bearbeiten waren. Doch ihre Gedanken hingen noch ganz woanders. Hoher Besuch aus der Reichsstadt hatte sich für diesen Tag angekündigt. Eigentlich immer ein freudiges Ereignis, doch war es dieser Anlass nicht im geringsten.

Vor wenigen Tagen hatte Meister Menning, die gute alte Seele von Reichsgarten und vollendeter Kunstkenner, seine Augen für immer verschlossen. Besonders für dessen Schüler Toran war eine Welt zusammengebrochen. Der sonst so lebensfrohe Junge sprach keinen Ton mehr und verließ kaum noch sein Schlafgemach, hatte er doch nicht nur seinen Lehrmeister sondern auch seinen Großvater verloren. Das Einzige was der Junge nun tat war malen – doch nicht die hellen und voller Lebensfreude sprühenden Motive wie sonst, sondern sehr düstere Stillleben und dämonisch pervertierte Landschaften. Melandra machte sich ernsthaft Sorgen um den Patriziersohn aus der Reichsstadt.

Aber auch Sulamith, die Herrin des Palastes, wirkte sichtlich erschüttert über den Tod ihres Weggefährten und unkonventionellen Ratgebers. Die langen Gespräche und philosophischen Debatten war ihr ein intellektueller Hochgenuss gewesen. Eine gewichtige Stimme war nun verstummt. So hielt das Leben in der Palastfestung für einen Moment inne und wich dem Gedenken an den Verstorbenen.

Mit versteinerten Gesicht war Reichsvögtin Sarina von Zolipantessa zusammen mit der Ratsherrin Alsinthe Barûn-Bari, der Schöffin Vilthina von Rauleu, sowie der Tochter der Hausherrin Charlyn Eorcaïdos von Aimar-Gor angereist. Begleitet wurden sie von einem halben Dutzend weiterer 'Pfauen', Mitglieder der in der Reichsstadt sehr einflussreichen 'Gesellschaft vom Pfauen', zu der sowohl die Reichsvögtin, aus auch Meister Menning selber gehörten.

Melandra empfand diese geheimnisumwitterten Pfauen in gewisser Weise faszinierend, wusste doch so keiner richtig wofür sie standen und was sie wollten – außer dass sich die Mitglieder gegenseitig protegierten. Aber auch das konnte schon der Selbstzweck der Gemeinschaft gewesen sein. Melandra hätte viel gegeben zu dieser elitären Gemeinschaft zu gehören, doch war sie und auch ihre Familie zu unbedeutend.

Unruhe in die Trauer tragenden Mauern brachte hingegen Marasha Feqzaïl, die, einem Schausteller der Garether Heldenbühne gleich, affektiert und theatralisch die trauernde Witwe mimte. Die alternde Schönheit mit auffallend glatten Gesichtszügen und beladen mit ausladenden Schmuck, war zusammen mit ihrer Tochter Liaiella aus der Kaiserstadt angereist um der Trauerfeier ihre Gemahls bzw. Vaters beizuwohnen. Auch die anderen beiden Töchter des Verstorbenen, die Tsa-Geweihte Chalisa und die Perricumer Kauffahrerin Mithrida waren anwesend, was zu einem skurrilen Zusammentreffen einer betont ungleichen Familie führte.

In Gedanken sinnierte Melandra über die schrecklichen Todesfälle der letzten Monde. So verstarb ebenfalls die Großmutter entrückt im Kloster lebenden Sonnenbarons Martok, Ederlinde von Quittenstein, die zwar hoch betagt, aber rüstig und giftig wie eh und je war. Der Verlust ihrer Mutter und engen Ratgeberin musste für Vögtin Mara von Sturmfels ein herber Schlag gewesen sein. Vor nicht mal einem Götterlauf hatte die Vögtin alle drei ihrer Enkel verloren. Aber auch der Phex-Tempel der Stadt Brendiltal hatte vor einem Mond einen schrecklichen Verlust zu verkraften. Ebenfalls im hohen Alter war der Vogtvikar Eborian von Zolipantessa in Phexens Hort am Firmament aufgestiegen. Der Hohepriester galt als weithin respektierte Persönlichkeit und kannte viele alte und geheime Geschäftsabschlüsse.

Auch wenn die Genannten schon viele Sommer auf Dere geweilt hatten, tat sich Melandra damit schwer die Tode als zufällig einzuordnen. Dafür saß der Schrecken des grausamen Mordes an Meister Siyandor im letzten Götterlauf noch zu tief.

Der Gedanken an den Tod ihrer Tante Saphira verstärkte ihr mulmiges Gefühl noch mehr, auch wenn es sie unvermittelt zum neuen Familienoberhaubt gemacht hatte. Wie es auch gewesen sein mag, es war das Blut der Alten, welches in dieser Zeit in Strömen vergossen wurde.