Geschichten:Dämonen in der Cantzley

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Staatscantzley, 12. Phex 1041 BF

Gsevino vom Prutzenbogen öffnete morgens die Fensterläden der Staastcantzley, um die ungewöhnlich milde Phexluft in die hohen Räumlichkeiten zu lassen und den Staub der Nacht hinauswehen zu lassen. Pfeifend schritt er von Fenster zu Fenster und waltete seines Amtes. Eines Amtes, das er seit fast einem halben Jahr wieder innerhatte und über dessen Wiedererlangung er sich den ganzen Tag freuen konnte: Schreiber wieder hier, in der Staascantzley!

‚Nedimes Lamento‘ trillerte so schrill durch die Hallen, dass sein Komponist – der unvergleichliche Maestro ya Sfighio – dem ignoranten Banausen gewiss die respektlose Gurgel zugedrückt hätte, doch Meister Gsevino scherte sich nicht um die Feinheiten der Hochkultur. Etwa dass ein Lamento getragen sein sollten, nicht flott, insbesondere weil es sich um die sterbend schöne Gefangenenklage des diesjährigen Opernereignisses ‚Die Tochter des Kalifen‘ handelte. Nicht die Erkenntnis, dass sein Getriller frevlerisch war, ließ den Schreiber verstummen, sondern das geöffnete Fenster zum Hof. Hatte er vergessen, es gestern zu schließen? Bestimmt nicht. Zugegeben – früher war ihm das häufiger passiert, aber heutzutage?

Gsevino beendet seinen Rundgang und meldete dann pflichtschuldig das offene Fenster. Heute war Ahrenstedt in der Cantzley, den mochte Gsevino nicht. Niemand mochte den aalglatten Agenten außer dem Cantzler, schien es Gsevino. „Zeig mal“, forderte Ahrenstedt, und schon begutachtete er das Fenster. „Ein Stümper. Hier ist jemand eingebrochen. Sieh nach, was fehlt. Oder wo er sonst gesucht haben kann. Ich schau mich ebenfalls um.“

„Und wenn er noch da ist?“, schluckte Gsevino.

„Dann stell ihn, pack ihn oder schlitz ihn auf!“, bellte Ahrenstedt mit unnötig aufgerissenen Augen. Gsevino grinste schief und machte sich auf die Spur des nächtlichen Einbrechers. Etwa eine Stunde später meldete er: „Nichts. Ich kann nichts finden. Alle Aktenschränke sind ordentlich verschlossen. Siegel etc. sind nicht in der Cantzley. Wertgegenstände haben wir nicht. Ich weiß nicht, was der Eimbrecher gewollt hat.“ Ahrenstedt nickte knapp. Er hatte auch nichts gefunden. Leider waren die Türen innerhalb der Cantzley nachts nicht abgeschlossen – das hätte womöglich einen weiteren Hinweis ergeben. „Sei’s drum. Bleib vorsichtig, Schreiberling.“

Gsevino wandte sich seinem Tagewerk zu und empfing die Besucher des Tages, die alltägliche Petitessen vorbrachten, Urkunden abholten oder Eingaben einreichten. Das Übliche.

Nah der Mittagspause war der Andrang besonders groß, so dass der Flur, in dem die Besucher warteten, überfüllt war. Gsevino seufzte: So war es früher auch immer im Herbst gewesen. Alle Welt wollte die amtlichen Angelegenheiten noch vor dem Winter erledigen. Die beiden Gardisten hatten Mühe den Verkehr zu regeln. Gsevino wollte eben den Kopf wieder zurückziehen und hinter seiner Tür verschwinden, als ihm auffiel, dass die Tür zum Zedernkabinett offenstand. Das passierte auch immer wieder – unerhört! Als wäre das Zedernkabinett ein Wartesaal!

Spornstreichs schritt Gsevino durch die Wartenden packte die Tür am Knauf und schwang sie energisch auf.

Rumms! Er hatte sie einem heulenden Wesen direkt vor den Kopf gestoßen. Einem heulenden, schreienden krächzenden Ungeheuer mit violetter Hautfarbe, wild fuchtelnden Klauen und leuchtenden, riesige Augen von hässlichem Gelb. Erschrocken und geistesgegenwärtig riss er die Tür am Knauf wieder zu und rief: „Alarm! Dämonen in der der Cantzley!“

Die Wartenden reagierten, wie es ihrem Stand entsprach: Die Bürgerlichen rannten panisch aus allen Ausgängen, die Bediensteten krochen unter die Bänke, die Ritterlichen packten ihre Schwert… nein - griffen an ihre leeren Schwertgehänge und die beiden Gardisten verfluchten den Dienstplan, der sie zur falschen Zeit an den falschen Ort gebracht hatte. Dennoch waren sie beiden schnell die einzigen, die vor der Tür zum Zedernkabinett auf Posten geblieben waren.

Der Dämon wütete im Kabinett der Burggrafen. Man hörte grauenhafte Geräusche, Rumpeln und Kratzen an der Tür. Stühle wurden umgeworfen, es schepperte mehrmals.

Gsevino bibberte hinter seiner Tür und linste durch den Türspalt, als Ahrenstedt auf dem Flur erschien, den Borndorn gezückt. Langsam trat er ans Zedernkabinett heran. Drinnen war es ruhig geworden.

„Ein Dämon?“, fragte er verärgert. „Der scheint wohl eingeschlafen zu sein.“ Mit diesen Worten trat er die Tür auf und in das Zedernkabinett hinein. Gsevino schlich rasch den Flur entlang, weil er seine Neugier nicht bezähmen konnte. Als er gerade um den Türrahmen ins Kabinett linsen wollte, schritt Ahrenstedt wieder hinaus und rief laut: „Einen Medicus!“

„Was ist denn? Seid Ihr verletzt?“, wollte Gsevino wissen und verrenkte seinen Hals, um besser in den Raum blicken zu können, wo er eine Gestalt neben der runden Tafel des Kabinettstischs sehen konnte.

„Nein, aber diese Dame da“, antwortete Ahrenstedt und beorderte die Gardisten, den Raum zu bewachen.

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„Wer ist sie?“

„Sie ist – oder war – Griffona Ferdesiek, Zunftmeisterin der Graveure und Ziselierer in Rubreth. Sie hatte einige Papiere dabei, die Ratsangelegenheiten der Stadt betrafen.“

Horulf von Luring betrachtete die verunstaltete Leiche nachdenklich. „Woran ist sie gestorben?“

„Sie wurde vergiftet. Boabungaha. Sie hat eine Verletzung an der Fingerspitze.“ Turda Fuxfell drehte die Hand so, dass der Cantzler die Einstichwunde sehen konnte. „Die Nadel war auf der Unterseite dieser Stuhllehne angebracht.“ Mit diesen Worten wies sie auf einen der hochlehnigen Stühle am Kabinettstisch. Alle waren wieder aufgerichtet worden, so dass man sehen konnte, dass es des Cantzlers Stuhl war, der als Mordwerkzeug präpariert worden war.

„Hm“, brummte Horulf. „Wir hatten doch unlängst erst Boabungaha.“

„Jawohl, in den ‚Fürstenstuben‘“, pflichtete Tirus Dracomar von Maarblick bei.

„Das war ungewöhnlich genug“, setzte Gerobald Leuhold von Ruchin hinzu, „aber zweimal dieses altmodische Gift?“

„Geht, Ruchin, fragte die Criminalkammer nach ungewöhnlichen und ungeklärten Todesfällen in meiner Umgebung, zum Beispiel nach dieser Toten im Hesinde vor dem ‚Schwert und Panzer‘. Turda, meine Drossel, sei wachsamer als sonst. Und Ihr beide, Quendan und Maarblick. Ihr nutzt Eure unvergleichlichen Fähigkeiten, um den zu finden, der hier heute Nacht eingestiegen ist. Ich werde Euch nicht nach Euren Mitteln fragen.“ Der Cantzler erhob sich und winkte Gsevino heran.

„Meister Gsevino. Schickt die Bittsteller und Besucher bitte nacheinander ins Eckzimmer. Dort werde ich die Gesuche abarbeiten. Der Tag ist noch lang!“